Das Jahr 2023 könnte ein prägendes für den deutschen und den bayerischen Fußball werden. Eines, in dem sich Hierarchien verändern - in der Nationalmannschaft wie auch beim FC Bayern München. Thomas Müller steht im Mittelpunkt dieser Veränderungen. "Ich weiß auch nicht genau, wie das weitergeht", deutete er nach dem WM-Aus in Katar einen Rücktritt vom DFB an: "Falls das mein letztes Spiel für Deutschland gewesen sein sollte, möchte ich ein paar Worte an alle deutschen Fußballfans, die mich all die Jahre begleitet haben, richten."
Es folgte eine emotionale Ansprache, nur um Tage später einzuordnen, dass es ihm dabei um die Entscheidung des Bundestrainers ging, er aber weiterhin zur Verfügung stehe. Müller ist nicht mehr unumstritten. Das weiß der 33-Jährige selbst. Auch beim FC Bayern ist er verzichtbarer geworden. Auf 969 Pflichtspielminuten kommt er bisher bei den Münchnern, einen Großteil davon absolvierte er als Mittelstürmer. Seit Oktober fiel er dann regelmäßig aus. Hüftprobleme, Krankheit, muskuläre Probleme - Zeichen der körperlichen Erschöpfung, die sonst bei ihm nie zu beobachten waren.
Ausgerechnet ohne ihn hatte der FC Bayern seine stärkste Saisonphase. Mit ihm rutschte man zwischenzeitlich in eine Ergebniskrise. Müller war nicht der Hauptgrund dafür, aber einer von vielen. Er ist kein Torjäger und ein solcher fehlte dem Team in der damaligen Phase. Als der zweifache Champions-League-Sieger dann fehlte, rückten Eric Maxim Choupo-Moting und Jamal Musiala immer stärker in den Fokus. Zwei Spieler, die ihm das Leben auch in diesem Jahr schwer machen werden.
Thomas Müller beim FC Bayern München: Die Suche nach dem Stammplatz
Die Zeiten, in denen Müller problemlos auf der Außenbahn eingesetzt werden konnte, sind vorbei. Insofern bleiben im System von Julian Nagelsmann nur noch zwei Positionen übrig: Mittelstürmer und Zehner. Auf der Neunerposition wurde Choupo-Moting vor der WM zum Gamechanger für den FCB. In 850 Minuten erzielte der Kameruner elf Tore und bereitete drei weitere vor. Doch es sind nicht nur die vielen Scorerpunkte, die ihm einen Vorteil gegenüber Müller verschaffen.
Das Team profitiert enorm von seinen Qualitäten als Wandspieler. Er kann mit dem Rücken zur gegnerischen Abwehr Bälle festmachen und zielsicher verteilen. Müller hat andere Qualitäten. Er ist ein herausragender Passgeber und Raumöffner. Seine Tiefenläufe und auch seine Laufwege gegen den Ball machen ihn besonders. Gerade in der Hinrunde brauchte der FC Bayern aber die Fähigkeiten von Choupo-Moting etwas mehr. Der ebenfalls 33-Jährige verschafft seinen schnellen und quirligen Mitspielern in der Offensive Zeit und Raum durch seine Präsenz im Zentrum.
Kann der gebürtige Hamburger seine Form auch im neuen Jahr bestätigen, wird Müller auf der Stürmerposition wohl schlechte Karten auf einen Stammplatz haben. Zumal er seine beschriebenen Fähigkeiten ohnehin viel besser einbringen kann, wenn er eine Reihe weiter hinten agiert. Müller ist mehr Initiator als Vollstrecker. Doch auch auf der Zehn hat er aktuell das Nachsehen.
Dort spielt mit Jamal Musiala der aktuell beste Offensivspieler des Rekordmeisters. In 22 Partien ist der 19-Jährige bisher an 22 Treffern direkt beteiligt gewesen. Seine Dribblings, Pässe und Abschlüsse verzaubern die Fans - und auch Nagelsmann. Mehrere Medien berichteten im Dezember, dass der Trainer fest mit Musiala auf der Zehn plane.
Thomas Müller beim FC Bayern München: Plötzlich Bankdrücker?
Müller bliebe dann nur die Bank. Ein Szenario, das in den letzten knapp 13 Jahren stets für Unruhe sorgte. Denn als Müller zwischen 2016 und 2019 mal mehr und mal weniger in einer Art Formkrise steckte, machte er seinen Trainern große Probleme. Carlo Ancelotti und Niko Kovac stolperten auch über den Weltmeister von 2014, den sie nicht so richtig einzubinden wussten. Beide fanden in ihren Systemen keine Positionen, in denen Müller sich entfalten konnte. Und das Team litt darunter, weil seine Qualitäten nahezu überall fehlten.
Jetzt aber ist der Fall anders gelagert. Erstmals entsteht das Gefühl der Verzichtbarkeit. Wer den FC Bayern in dieser Saison verfolgt hat, dürfte zu dem Fazit kommen, dass Musiala und Choupo-Moting ihre Aufgabe zuverlässiger erledigt haben als Müller, der oft in der Luft hing.
Auch im Testspiel gegen RB Salzburg deuteten sich die Probleme zuletzt wieder an. Müller war stets bemüht, agierte aber glücklos. Teilweise wirkte er sogar deplatziert im Angriff des Rekordmeisters. Er könnte der Verlierer des Winters sein.
Thomas Müller beim FC Bayern München: Das Ende einer Ära?
Alles deutet darauf hin, dass Müller im restlichen Saisonverlauf nicht mehr die ganz große Rolle beim FC Bayern spielen wird. Das Ende einer Ära also? Zu früh sollte der Abgesang nicht erfolgen. Müller agiert nach wie vor auf sehr hohem Niveau, ist mit seiner Erfahrung vor allem auf hohem Niveau weiterhin sehr wichtig für das Team. Seine Läufe, seine Pässe, seine Arbeit gegen den Ball - es wird noch viele Spiele in dieser Saison geben, die Müller entscheiden kann.
Aktuell aber sind taktisch andere Spielertypen gefragt. Am ehesten bietet sich für den Offensivallrounder eine Chance, wenn Choupo-Motings Höhenflug irgendwann ein Ende nehmen sollte. Dann muss Müller da sein.
Alternativ bleibt es eine Möglichkeit, Müller und Musiala gemeinsam hinter einer Sturmspitze einzusetzen - wofür Nagelsmann aber die Grundordnung etwas anpassen müsste. Bis dahin wird sich der Routinier in einer neuen Rolle zurechtfinden müssen: Als eine der ersten Optionen im erweiterten Kreis des Stamms. Als zwölfter Mann.
Es scheint so, als wäre das Jahr 2023 eines der Übergabe. Die sich verändernden Hierarchien werden Müller das Leben schwerer machen. Als Kovac einst sagte, dass Müller schon spielen werde, wenn Not am Mann sei, gab es zu Recht viel Kritik. Die Formulierung war despektierlich.
Es wird dennoch spannend zu sehen, wie der gebürtige Oberbayer dieses Mal mit der Situation umgeht. Vorbei ist seine Karriere längst nicht und er hat nach wie vor die Qualität, ein wichtiger Führungsspieler beim FC Bayern zu sein. Gleichwohl könnte er zunehmend zum Begleiter Musialas werden. Als Müller in Katar davon sprach, dass er nicht wisse, wie es jetzt weitergehe, schwebte ihm all das wohl auch durch den Kopf. Für ihn wird es ein richtungsweisendes Jahr.