Die Macht des Kollektivs

Andreas Lehner
25. Mai 201416:43
Einer für alle: Real Madrids Spieler umzingeln Atleticos Angreifer David Villagetty
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Real Madrid erfüllt sich den Traum von La Decima. Der Erfolg steht im Widerspruch zum Wirken von Präsident Florentino Perez und ist ein Triumph von Carlo Ancelotti. Für Atletico wiederholt sich die Geschichte auf grausame Weise. Trainer Diego Simeone zeigt in der Niederlage Größe.

Als alles entschieden war, durfte auch der Superstar ins Rampenlicht treten. Cristiano Ronaldo holte in der 119. Minute des Endspiels von Lissabon einen Elfmeter heraus und verwandelte sicher - sein 17. Saisontreffer in der CL-Saison 2013/14. Rekord ausgebaut.

Es war der Moment, auf den er ein ganzes Spiel lang hingearbeitet hatte. In seinem Heimatland, im ehrwürdigen Estadio da Luz konnte er sich feiern, die Muskeln spielen lassen und mit dem Trauma des verlorenen EM-Endspiels von 2004 seinen Frieden machen.

Das Spiel stand nicht im Zeichen von Ronaldo. Man merkte, dass er nicht fit war und die Woche über nicht trainieren konnte. Offensiv blieb er blass, er ließ sich schnell durch die Härte von Atletico aus dem Spiel nehmen, aber er blieb dran und durfte sich dank seiner Mitspieler am Ende doch noch ins Bild schieben. Alle freuten sich mit ihm.

Neue Mentalität unter Ancelotti

Es war eine Szenerie, sinnbildlich für das Real Madrid dieser Champions-League-Saison. Das Team hat unter dem vor dieser Saison gekommenen Trainer Carlo Ancelotti eine neue Mentalität entwickelt. Vorbei ist die Zeit der Verschwörungstheorien unter Jose Mourinho, vorbei ist die Zeit des Heroenfußballs, der im Spiel nach vorne einzig und alleine auf die Klasse Ronaldos zugeschnitten war.

Ancelotti hat dem Team den Grundgedanken einer jeden erfolgreichen Mannschaft eingeimpft, ein Wir-Gefühl. Das Team steht über allem, dann kann auch der einzelne glänzen. Ronaldo hat sich darauf eingelassen. Schon im Halbfinale gegen den FC Bayern hatte er erst seinen Auftritt, als andere bereits den Grundstein gelegt hatten.

Gegen das Perez-Prinzip

Ohne Frage, Ronaldo ist wichtig für den Erfolg Madrids. Dank seines Torrekords wird diese Saison auch eng mit seinem Namen verknüpft sein. Aber er ist nicht mehr der einzige Pfeiler der Mannschaft. Real Madrid hat die Champions League in dieser Saison nicht gewonnen, weil das Prinzip von Präsident Florentino Perez aufgegangen ist.

Der Präsident, der in seiner ersten Ära die Galacticos ins Leben rief und seitdem vergeblich nach dem Gewinn der Königsklasse strebte, hat auch vor dieser Spielzeit Unsummen in einen Spieler wie Gareth Bale investiert. Für ihn ist eine gute Mannschaft noch immer eine Ansammlung teurer Offensiv-Stars.

Auch Bale hat nach mehreren kläglichen Anläufen in diesem Endspiel seine entscheidende Rolle gespielt, er erzielte das 2:1 per Kopf. Perez hat also eine Rechtfertigung für seinen 90-Millionen-Transfer. Die wichtigste Verpflichtung war aber eine andere.

Ancelotti erfüllt Auftrag

Zwölf Jahre hat das stolze Real Madrid warten müssen, um mal wieder in einem Champions-League-Finale zu stehen. Und es passt zu der Geschichte, dass vor zwölf Jahren im Glasgower Hampden Park mit Vicente del Bosque ein ebenso zurückhaltender Trainer an der Seitenlinie stand wie dieses Mal Ancelotti.

"Als ich am ersten Tag im Trophäenraum war, habe ich gesagt: 'Da fehlt noch einer.' Jetzt haben wir ihn", sagte Ancelotti. "Um den Europapokal zu gewinnen, haben wir die Arbeit aller gebraucht. Der Klub hat wichtige Spieler verpflichtet und ist zum Trainer gestanden. Ich habe großes Vertrauen gespürt."

Der Italiener, der vor der Saison von Paris St.-Germain verpflichtet wurde, hat es geschafft, die Stars für gruppendynamische Prozesse zu begeistern. Der Triumph von Lissabon war nicht das Ergebnis von Ronaldo oder Bale, er ist der Macht des Kollektivs zu verdanken.

Kein Platz für Konjunktiv

Das positive Bild fügte sich erst spät zusammen, aber es passte. In der dritten Minute der Nachspielzeit war es wieder Sergio Ramos per Kopfball, der Real in die Verlängerung rettete. Schon in München machte er mit seinem frühen Doppelpack alles klar. Hätte er gegen Atletico nicht getroffen, wäre die Saison anders bewertet worden.

Real spielte 90 Minuten schwach, vergab seine wenigen Chancen leichtfertig. Alles, was gegen Bayern noch so spielerisch leicht ging, wirkte gegen Atletico schwerfällig und verkrampft. Das Passspiel war unsauber, im Umschaltspiel fehlte es an Tempo und Abläufen. Und anders als gegen Bayern gelang nicht gleich mit der ersten Aktion die Führung. Erst als Ancelotti die schwachen Sami Khedira und Fabio Coentrao durch die offensiveren Isco und Marcelo ersetzte, kam Zug ins Real-Spiel.

Fußball ist nunmal kein Schauplatz für den Konjunktiv. Ramos traf. Die Saison ist historisch. Schon in München zeigte sich im Abwehrspieler der Hunger, den diese Mannschaft nach drei Halbfinalniederlagen in Folge aufgestaut hatte. Der Wille war die entscheidende Komponente in dieser Saison. "Das ist ein Titel, dem wir so lange hinterhergelaufen sind. Nur die Fans und die Spieler von Madrid können die Besessenheit nach diesem Titel nachvollziehen", sagte Ronaldo. SPOX

Ramos macht den Schwarzenbeck

Die Obsession La Decima schien die Königlichen lange zu hemmen. Und auf der anderen Seite stellte sich ein Gegner in den Weg, der mit ebenso großem Willen agierte. Atletico brachte sein Spiel von Beginn an besser durch. Es gab viele Zweikämpfe und es ging hart zur Sache. Ein Fehler von Iker Casillas wurde von Diego Godin mit der Führung bestraft.

Alles schien für Atletico zu laufen. Selbst die frühe Auswechslung von Diego Costa - er hielt trotz Wunderheilerin nur neun Minuten durch - machte sich nicht wirklich bemerkbar. Die Defensive stand sicher gegen Reals teilweise planlose Angriffe.

An der Seitenlinie lief die Show von Trainer Diego Simeone. Er tigerte wie immer in seiner Coachingzone umher, gestikulierte, schrie und animierte die Fans. Aber es gab noch diese eine Ecke. So wie es 1974 noch diesen einen Schuss gab. Katsche Schwarzenbeck. Sergio Ramos. Die Nummer 4. Wie kann das sein?

Geschichte im Zeitraffer

Simeone bemängelte nach Abpfiff die in der Tat üppige Nachspielzeit von fünf Minuten. Aber das Tor fiel schon in der dritten Minute und die handelsüblichen drei Minuten wären vertretbar gewesen.

Simeone versuchte sein Team nochmal zu pushen, aber es ging nicht mehr. Sein Team war geistig und körperlich am Ende. Die Verlängerung war eine Qual, sie endete in einem für dieses Spiel fast schon albernen Ergebnis. 1974 endete das Wiederholungsspiel 0:4.

In seinem zweiten Europapokalfinale erlebte Atletico die grausame Wiederholung der Geschichte im Zeitraffer.

Simeone ein großer Verlierer

Als sich die erste Enttäuschung gelegt hatte und Simeone vor die Presse trat, sprach er einige bemerkenswerte Sätze. Es sei nicht nötig, Tränen zu vergießen, weil "wir alles gegeben haben und erhobenen Hauptes gehen können".

Man müsse sich immer bewusst sein, dass man ein Spiel gewinnen oder verlieren kann. Und Real Madrid sei in der zweiten Hälfte einfach besser gewesen. Simeone war ein großer Verlier.

So wild er auf dem Platz agierte, so beherrscht war er im Presseraum. Er suchte den Schuldigen nicht beim Schiedsrichter oder sonst wo. Er zeigte einfach Größe. Auch wenn dieses dramatische Spiel zuungunsten seiner Mannschaft ausgegangen war, sagte er: "Diese Momente machen den Fußball so wunderbar."

Real Madrid - Madrid: Die Statistik zum Spiel