"Das haut mich um." Nicht nur Liverpool-Trainer Jürgen Klopp verschlug es nach den spektakulären, hochemotionalen und dramatischen 95 Minuten an der Anfield Road kurz die Sprache. Den Reds gelang im Halbfinal-Rückspiel gegen die Katalanen eines der größten Comebacks in der Geschichte der Champions League und der nicht mehr für möglich gehaltene Einzug ins Finale der Königsklasse am 1. Juni im Madrider Wanda Metropolitano.
Ähnliches schafften davor nur Deportivo La Coruna (gegen AC Milan 2003/04), Barca selbst (gegen PSG 2016717) und die AS Roma in der vergangenen Saison. Leidtragender war damals im Viertelfinale ebenfalls der FC Barcelona, der ein 4:1 im heimischen Camp Nou acht Tage später in Rom verspielte und nach einem 0:3 ausschied.
Wegen des zweiten unerklärlichen Kollapses in der K.o.-Phase stellt sich in den kommenden Wochen beim FC Barcelona trotz des souveränen Gewinns der Meisterschaft wohl die Trainerfrage. Ernesto Valverde übernahm für das Ausscheiden gleich nach Schlusspfiff die Verantwortung.
Matchwinner Origi: "Davon werde ich mein Leben lang träumen"
Auf der anderen Seite herrschte grenzenloser Jubel. Klopp lobte seine "Motivationsgiganten" über alle Maßen für einen starken Auftritt. Nach fast genau einem Jahr kehren die Reds zurück ins Endspiel um die Königsklasse. In der vergangenen Saison kosteten zwei schwere Torwartfehler Liverpool im Finale gegen Real Madrid den Titel. Doch daran dachte an diesem magischen Abend an der Anfield Road noch niemand.
"Ein unglaublicher Abend", wie Matchwinner Divock Origi hinterher sagte. Der ehemalige Leihspieler des VfL Wolfsburg war mit seinen beiden Toren der unwahrscheinliche Held aus Liverpooler Sicht und wurde seiner unmöglichen Aufgabe, Mohamed Salah und Roberto Firmino zu ersetzen, mehr als gerecht. "Von diesen Toren werde ich noch ein Leben lang träumen", sagte der überglückliche Origi.
Zumindest an das letzte, das entscheidende Tor für die Reds werden auch Barca-Fans noch lange zurückdenken. Während sich die Defensive der Katalanen noch formierte, nutzte Trent Alexander-Arnold die Gunst der Stunde, führte eine Ecke blitzschnell aus und Origi hielt nur noch den Schlappen hin. Für Barca war es die erste Niederlage überhaupt in dieser Champions-League-Saison und vermutlich für die nächsten Jahre eine der bittersten.
FC Liverpool - FC Barcelona: Die Stimmen und Reaktionen
Jürgen Klopp (Trainer FC Liverpool): "Das ganze Spiel war zu viel. Es ist überwältigend. Wir haben gegen das vielleicht beste Team der Welt gespielt. Es ist schon schwer genug, gegen sie zu gewinnen, aber zu gewinnen und dabei kein Tor zu kassieren? Ich weiß nicht, wie wir das geschafft haben."
Ernesto Valverde (Trainer FC Barcelona) ...
... darüber, was das erneute Aus für ihn bedeute: "Das weiß ich nicht. Aber der Trainer muss dafür die Verantwortung übernehmen."
... seine Gefühle nach dem Spiel: "Es tut unglaublich weh. Besonders unseren Fans. Die müssen das zum zweiten Mal hintereinander durchmachen."
... den Spielverlauf: "Wir waren nach den beiden schnellen Gegentoren nach der Pause nicht mehr Herr der Lage. Wir haben es nicht geschafft, ein Tor zu erzielen und dann haben sie uns echt überrollt."
Giorgino Wijnaldum (Doppeltorschütze FC Liverpool): "Ich war sehr sauer auf den Trainer, dass ich auf der Bank saß. Ich wollte nur meinem Team helfen und ich bin froh, dass ich das mit den zwei Toren gemacht habe."
Divock Origi (Doppeltorschütze FC Liverpool): "Vor dem Spiel habe ich lange mit meiner Familie gesprochen. Die haben mir gesagt, dass das mein Spiel werden wird. Es ist unglaublich, diese beiden Tore gemacht zu haben. Es ist einer der schönsten Momente meiner Karriere."
Sergio Busquets (FC Barcelona): "Ich entschuldige mich bei den Fans, weil es uns nach Rom schon wieder passiert ist. Das ist sehr hart."
FC Liverpool - FC Barcelona: Die Analyse zum Spiel
Während Valverde sowohl taktisch als auch personell die gleiche Startelf wie beim 3:0-Hinspielsieg aufbot, musste Klopp zwangsweise umstellen. Die Newcastle-Matchwinner Origi (Tor) und Shaqiri (Vorlage) ersetzten die verletzten Salah und Firmino.
Im Vergleich zum 3:2-Sieg gegen die Magpies kehrten zudem Matip und Milner zurück in die Startelf der Reds, die loslegten wie die Feuerwehr, Barca durch gutes Pressing im Mittelfeld immer wieder zu ungewohnten Fehlern zwangen und aus einer eben solchen Situation in Führung gingen.
Origi setzte Jordi Alba unter Druck, dessen Kopfballrückgabe zu ter Stegen geriet zu kurz und kam über Umwege zu Origi zurück, der abstaubte (7.). Barca taumelte anschließend angeknockt über den Rasen und bekam erst nach einer Viertelstunde deutlich mehr Zugriff auf das Spiel. Dann wurde es jedoch gleich gefährlich: Immer wieder schafften es die Katalanen, sich spielerisch dem Druck der Liverpooler zu entledigen und kreierten durch gute Schnittstellenbälle in den Rücken der Reds-Defensive einige Chancen.
Messi (14./16.), Coutinho (18.) und Jordi Alba (45.+4) ließen jedoch teils beste Chancen fahrlässig liegen und Liverpools Hoffnungen auf ein Wunder leben. Liverpool arbeitete mit allen Mitteln an der Umsetzung, schob im Zentrum immer wieder klug vor und gewann so viele erste und zweite Bälle.
Die offensive Dreierreihe mit Origi, Mane und Shaqiri tauschte ab und an die Positionen, wobei die Variante mit Mane im Zentrum am ehesten für Gefahr sorgte, weil sich Pique dann immer tiefer fallen ließ und sich so mehr Räume boten. Aus dem Spiel heraus wurde es jedoch nur noch selten richtig gefährlich, zumindest bis Wijnaldum den Platz betrat.
Der schlug nur wenige Minuten nach der Pause und seiner Einwechslung doppelt zu und nährte die Mär vom Wunder von Anfield. Zumindest beim ersten Treffer sahen Barca-Keeper ter Stegen und erneut Jordi Alba nicht gut aus. Barca setzte der Doppeltreffer ans katalanische Kinn merklich zu. Liverpool strukturierte seine Angriffsbemühungen mehr und mehr und fand eine gute Balance aus defensiver Stabilität und offensiven Bemühungen.
Die Reds wirkten wesentlich aktiver, gieriger und wacher als ein verpenntes Barcelona, dass es nicht mehr schaffte, Messi und Suarez einzubinden. So traf Origi zehn Minuten vor dem Ende zum 4:0 und versetzte Barcas Finalträumen damit endgültig den Todesstoß.
Die Daten des Spiels FC Liverpool gegen FC Barcelona
Tore: 1:0 Origi (7.), 2:0 Wijnaldum (54.), 3:0 Wijnaldum (56.), 4:0 Origi (79.)
- Divock Origi erzielte sein 1. Tor in der Königsklasse und ist damit der 50. Torschütze von Liverpool in der Champions League.
Für Barcelona war es der erste Rückstand in dieser Champions-League-Saison.
- Wijnaldum legt nach: Erst in 1723 Champions-League-Minuten nur ein Tor erzielt, dann zwei Treffer innerhalb von drei Minuten.
- Barcelona kassiert erstmals seit dem 0:4 in Paris im Februar 2017 4 Gegentore in der CL, mehr waren es für Barca noch nie.
- Wie letzte Saison im Viertelfinale gegen AS Rom verspielt Barcelona einen Drei-Tore-Vorsprung aus dem Hinspiel (damals 4:1 daheim und 0:3 in Rom). In den ersten 25 Jahren Champions League vergaben nur zwei andere Teams einen so großen Vorsprung (Milan 2004 gegen La Coruna und Paris 2017 gegen Barcelona).
- Liverpool gewinnt auch das elf K.o.-Duell unter Jürgen Klopp im Europacup mit Hin- und Rückspiel. Einziger Schönheitsfehler: Die beiden Endspiele unter Klopp gingen verloren.
- Barcelona kassiert im 488. Europapokalspiel die 100. Niederlage.
Der Star des Spiels: Divock Origi (FC Liverpool)
Er kam, sah, traf und ließ das Fehlen von Salah und Firmino im Sturmzentrum fast vergessen. Gab den Reds das, was ihnen noch im Hinspiel fehlte: eiskalte Effizienz. Beide Origi-Abschlüsse schlugen ein. Rieb sich darüber hinaus in vielen Zweikämpfen auf, machte immer wieder gut den Ball fest und musste in der 85. Minute von Krämpfen geplagt ausgewechselt werden. Ebenfalls sehr stark bei Liverpool: Van Dijk, der 75 Prozent seiner Zweikämpfe gewann und im Kollektiv mit Matip Luis Suarez komplett kaltstellte.
Der Flop des Spiels: Philippe Coutinho (FC Barcelona)
Wieder mal ein blasser Auftritt des Brasilianers - und das auch noch an alter Wirkungsstätte. Gewann keinen einzigen Zweikampf, tauchte phasenweise komplett unter und scheiterte bei seinem einzigen Abschluss an Alisson. Wurde sofort nach dem Doppelschlag von Wijnaldum von Semedo ersetzt. Ebenfalls schwach: Jordi Alba, dem zwei fatale Fehler vor den ersten beiden Gegentoren unterliefen.
Der Schiedsrichter: Cüneyt Cakir (Türkei)
Aufmerksam, als er Liverpool-Stürmer Mane in der Anfangsphase einen Strafstoß verweigerte und nicht auf den leichten Kontakt hereinfiel. War über die gesamte Spieldauer von giftigen und aggressiv kämpfenden Liverpoolern gefordert, entschied aber mit gutem Fingerspitzengefühl und unterschied gut zwischen Nickligkeiten, herkömmlichen und gelbwürdigen Fouls.