Wirklich überraschend konnte Joachim Löw am Freitag niemanden mehr. Zu offensichtlich deuteten die Strömungen der letzten Tage auf die Antworten der beiden dringlichen Fragen: Wer wird neuer Kapitän? Und: Wer wird die neue Nummer eins?
Philipp Lahm wird Nachfolger für Michael Ballack als Kapitän. Noch interessanter war jedoch die Frage nach Deutschlands neuem Stammtorhüter.
"Nach längeren Diskussion haben wir uns entschieden, mit Manuel Neuer in die WM zu gehen. Es war eine sehr, sehr enge Entscheidung", sagt Bundestorwarttrainer Andreas Köpke, der neben Löw auf dem Podium saß.
Entscheidung zwischen Neuer und Wiese
Der Bremer Tim Wiese ist in der Rangliste hinter Neuer die Nummer zwei, Jörg Butt fährt als dritter Keeper nach Südafrika. Wobei die Entscheidung nur zwischen Neuer und Wiese zu treffen war.
"Die Entscheidung ist nur zwischen Tim und Manuel gefallen. Wenn wir einen dritten Torhüter nachnominieren und dann zur Nummer eins machen, hätten wir im Vorfeld einiges nicht richtig gemacht", sagte Köpke.
Die sportliche Leitung hat sich für den Jüngsten und Unerfahrensten der drei Kandidaten entschieden. Deutschland geht mit dem nach Wolfgang Fahrian 1962 in Chile zweitjüngsten Torhüter überhaupt in der Verbandsgeschichte in eine WM-Endrunde.
Ähnlich wie der damals erst 21-jährige Fahrian hat auch Neuer (24) vor seinem ersten großen Turnier kaum Länderspielerfahrung. Lediglich drei Einsätze stehen bisher für den Schalker zu Buche. Und trotzdem ist die Entscheidung pro Neuer auch nachvollziehbar.
Seine Stärken und Schwächen:
Der Schalker besticht durch enorme Reflexe auf der Linie und eine gute Strafraumbeherrschung, ist zudem ein sehr guter Fußballspieler und kann das Spiel mit seinen weiten und präzisen Abwürfen schnell machen.
In den letzten Jahren hat sich aus dem reinen Torlinien-Vertreter nach und nach der neuer Typus Torhüter entwickelt, der nicht nur die Begrenzungslinie zwischen seinen beiden Pfosten zu bewachen hat, sondern den Raum bis ca. 30 Meter vor dem eigenen Tor.
"Die Position des Torhüters ist diejenige im Fußball, die sich am meisten verändert hat in den vergangenen Jahren", stellte Köpke neulich fest. "Zu meiner Zeit liefen Torhüter im Durchschnitt drei bis vier Kilometer pro Spiel, heute sind es sieben bis acht." Nur noch rund 15 Prozent des Torwart-Spiels werden mit der Hand erledigt, sagen Fachleute. Der Rest ist Fußarbeit.
Neuers Gesamtpaket überzeugt, selbst vor den Ausfall von Rene Adler hätte man sich Neuer als Stammtorhüter ohne Weiteres vorstellen können. Mit seiner ruhigen und besonnenen Art passt Neuer in Löws Schema. Für den Bundestrainer, der nicht müde wird, den Teamgeist und das Zusammengehörigkeitsgefühl immer wieder hervorzuheben, ein wichtiges Kriterium.
Zudem hat sich Neuer bisher immer loyal gezeigt, während Konkurrent Wiese etwa in den letzten Jahren über die Medien seinen Unmut über Nichtberücksichtigungen kundgetan hat.
Allerdings ist auch festzuhalten, dass Neuer oft etwas übermotiviert wirkt. Ausflüge weit außerhalb des Strafraums - auch wenn noch ein Verteidiger selbst eingreifen könnte - sind keine Seltenheit.
Löw und Köpke wollen das im Prinzip auch sehen. Allerdings findet Neuer nicht immer das gesunde Maß zwischen aktionistischem und wirklich notwendigem Herauslaufen.
Und Angst und Schrecken verbreitet er bei gegnerischen Stürmern auch nicht gerade. Sein jugendliches Aussehen und sein wenig aggressives Spiel runden zumindest den Eindruck ab, dass da die neue Generation Torhüter vor einem steht.
Seine Saison:
Neuer hat alle 3060 Bundesligaminuten in dieser Saison absolviert und war einer der Hauptverantwortlichen für die beinahe sensationelle Schalker Saison. Nur knapp alle 99 Minuten kassierte Neuer ein Gegentor.
"Manuel hat eine tolle Saison gespielt und er hat ein enormes Potenzial", erklärte Köpke die Wahl.
Zum Vergleich: Wiese fehlte drei komplette Spiele und wurde einmal wegen einer Verletzung ausgewechselt. Der Bremer kam letztlich auf 2760 Minuten und kassierte dabei 37 Gegentreffer, was gut alle 75 Minuten ein Gegentor bedeutet.
Wobei man die Anzahl der Gegentore immer relativieren muss im Vergleich mit Neuer. Wiese steht als letzte Instanz einer deutlich offensiver ausgerichteten Mannschaft nach als Neuer.
Der Bremer musste in der abgelaufenen Saison deutlich mehr Eins-gegen-Eins-Situationen überstehen als Neuer und auch mehr Großchancen vereiteln (32:22).
Dazu leistete sich Wiese weniger grobe Patzer als Neuer, der vor allem gegen Ende der Rückserie einige Unsicherheiten offenbarte, die auch zu Gegentoren führten. Einer famosen Hinrunde folgte eine starke, aber nicht mehr überragende Rückrunde.
Trotzdem bringt Neuer schon die nötige Konstanz mit, um über einen längeren Zeitraum Top-Leistungen abrufen zu können. Im Verein und auch bei der U 21 hat er dies bewiesen.
Seine internationale Erfahrung:
Hier hat Neuer deutlich weniger aufzuweisen als Wiese und Butt. Trotzdem hatte er in der Champions-League-Saison vor zwei Jahren einige bemerkenswerte Auftritte.
Im Gedächtnis bleibt natürlich seine überragende Leistung im Achtelfinale beim FC Porto, als er Schalke mit unglaublichen Paraden ins Elfmeterschießen rettete und dort auch noch zwei Versuche der Portugiesen hielt.
Zehn Champions-League- und fünf UEFA-Cup-Spiele sind dennoch ein überschaubares Repertoire an internationalen Einsätzen. Wiese kommt auf insgesamt 46 Partien auf europäischer Bühne, Butt sogar auf 75 Europapokaleinsätze.
Was Neuer aber sehr zum Vorteil gereicht hat, war die U-21-Europameisterschaft im vergangenen Jahr. Mit nur einem Gegentor wurde Neuer zum besten Keeper des Turniers und letztlich auch Europameister mit der deutschen Mannschaft.
Gleich sechs weitere Akteure von damals bilden jetzt auch einen Teil des WM-Kaders und spielten mit Neuer schon seit mehreren Jahren in den U-Nationalmannschaften des DFB zusammen.
Und: Die Situation jetzt ist durchaus vergleichbar mit der, als er im Herbst 2006 urplötzlich und quasi aus dem Nichts zu Schalkes Nummer eins wurde. Damals stieg er mit der größtmöglichen Aufgabe in seine Profikarriere ein und bestritt sein erstes Bundesligaspiel gleich gegen die Bayern.
Sein Zusammenspiel mit der Viererkette:
Von zentraler Bedeutung wird seine Kooperation mit den Vorderleuten sein. Im Training war zu beobachten, dass die deutsche Viererkette so flott und schnell wie möglich versucht, rauszurücken, um Druck auf den Ball(führenden) aufzubauen.
Diesem Grundgedanken einer hochstehenden Abwehr kommt Neuers Spielstil am besten entgegen. Hinter der Abwehrreihe wird der Schalker als eine Art Libero agieren und so einen verkappten elften Feldspieler geben.
Allerdings muss Neuer noch dominanter werden in seinen Ansagen. Manchmal wirkt er zu schüchtern, um seine Mitspieler lautstark zu dirigieren. Doch genau darin liegt ein ganz entscheidender Aspekt des modernen Torhüterspiels.
"Je erfahrener ein Torhüter ist, desto besser kann er seine Abwehr dirigieren", sagt etwa Jens Lehmann, der deutsche Prototyp des mitspielenden Torhüters.
"Darin liegt die eigentliche Stärke des modernen Torhüters. Es ist nicht immer nur entscheidend, dass ein Torhüter viele Schüsse hält - sondern dass er im Zusammenspiel mit seiner Abwehr so wenig Schüsse wie möglich zulässt."
Neuers erster Vorgesetzter sieht das genau so. "Ein guter Torwart muss Fußball spielen können, rechts wie links. Er muss das Spiel lesen können. Angriffe einleiten, durch Abwürfe oder gezielte Abschläge. Er muss den Strafraum beherrschen. Er muss bis ins Mittelfeld dirigieren", sagt Andi Köpke. "Und er muss eine starke Persönlichkeit haben."
Die Entscheidung pro Neuer ist die logische Fortsetzung von dem, was seit dem EM-Aus 2004 auf dem Posten des Nationaltorhüters passiert ist. Neuer läutet die nächste Generation deutscher Torhüter ein.