Eigentlich war die Stimmung im Nürnberger Stadion, das bald wieder ehrwürdig Max-Morlock-Stadion genannt werden darf, recht ordentlich. Zumindest dafür, dass sich der DFB in der jüngsten Vergangenheit mit dem Stimmungsaufbau bei Länderspielen schwer tat und der Gegner eben nur San Marino hieß.
Die engagierte Leistung der deutschen B-Elf honorierte das Publikum mit Applaus - bis zur 55. Minute. Als Timo Werner den Gladbacher Lars Stindl ablösen sollte, veränderte sich das Stimmungsbild rasant, ein Pfeifkonzert folgte. Zum wiederholten Male haben sich Fußballfans gegen den Stürmer von RB Leipzig solidarisiert. Der erneute Vorfall zeigt: Es hat sich eine völlig übertriebene Eigendynamik entwickelt. Mit dem Kollektiv-Feindbild Timo Werner muss Schluss sein!
Werner hat seinen Teil der Bringschuld erfüllt
Der 21-jährige Stürmer hat vergangenen Herbst mit seiner Schwalbe gegen Schalke 04 zwar definitiv einen Fehler begangen. Eine Aktion, zu der er und für die er sich zunächst zu schwammig äußerte und halbherzig entschuldigte. Und auch die generelle RB-Kommunikation in den ersten 24 Stunden nach der Schwalbe war verbesserungswürdig. Eine klarere Message hätte das Thema womöglich im Keim erstickt. Doch der Youngster hat sich dafür später eindringlich entschuldigt, sich nun bereits in unzähligen Interviews geäußert und seinen Teil der Bringschuld definitiv erfüllt.
Und auf den Plätzen dieser Nation hat er eine herausragende Bundesliga-Saison gespielt. 21 Tore erzielte er in der abgelaufenen Saison. Der letzte deutsche Stürmer, der in solch jungen Jahren derartige Zahlen aufrief, war Dieter Müller vor über 40 Jahren.
Nicht nur die Statistiken stimmen. Der Stürmer erfüllte seine mannschaftsdienliche Rolle im Umschaltspiel von RB oft nahe der Perfektion. Jeder andere deutsche Akteur würde dafür in der Medien- und Fanlandschaft gefeiert. Doch weil der Ex-Stuttgarter nun dem umstrittenen System RB angehört, steckt er in einer fatalen Schublade fest. Eine mehr als bedenkliche Entwicklung, die umgehend eingedämmt gehört.
Werners mentale Stärke ist begrenzt
Am Samstagabend waren es wiederholt "nur" Pfiffe. Doch das "Bashing" hat längst unwürdige Ausmaße angenommen. Auf diversen Darts-Turnieren lagen und liegen sich wildfremde Menschen in den Armen und beschimpfen Werner und seine Mutter in lautstarken Dauergesängen. Und in den Partygefilden Mallorcas kursiert seit geraumer Zeit ein unwürdiger sogenannter Ballermann-"Hit", mit dem sich einer der Partykönige rühmt. Ein erstes gutes Zeichen war jedoch, dass sich einige Kollegen weigerten, diesen Hit auf Kosten des Nationalspielers zu spielen.
Viel bedenklicher ist jedoch, dass solche anmaßenden Versuche, auf dieser Bashingwelle mitzureiten und finanziellen Ertrag zu generieren, funktionieren. Sie funktionieren, weil die Fußball-Gesellschaft es dankend annimmt. Es hat sich ein für unsere Gesellschaft unwürdiges Stimmungsbild entwickelt. Ein Stimmungsbild, das die Pfiffe in Nürnberg gestern bestätigten.
Timo Werner ist Fußballprofi. Er ist erst 21 Jahre alt und einer der talentiertesten Spieler seiner Generation. Doch auch seine mentale Stärke und seine Selbstreflexion, die gestern von Bundestrainer Joachim Löw und Stürmer-Konkurrent Sandro Wagner gelobt wurden, sind begrenzt.
Wir fordern als Gesellschaft immer, dass wir in dieser digitalen, schnelllebigen Welt rücksichtsvoller miteinander umgehen sollten. Der Profi-Fußball und seine Ableger, die eine immense Daseinsberechtigung in Deutschland vorzuweisen haben, sind davon nicht auszuschließen.
Menschen erfreuen sich am professionellen Fußball und wollen für 93 Minuten ihre Alltagssorgen vergessen und Spaß haben - das ist vollkommen ok. Einen 21-jährigen jungen Mann dauerhaft in die Ecke zu drängen und zu diffamieren jedoch keinesfalls.
Timo Werner hat einen Neustart verdient. Sofort!
Timo Werner im Steckbrief