Als Ilkay Gündogan im vergangenen Jahr seine Ziele für die Saison 2017/18 formulierte, war er noch mittendrin in dieser verseuchten Phase seiner Karriere, die ihn insgesamt fast zweieinhalb Jahre Spielzeit kostete, 150 Spiele, dazu die WM 2014 und die EM 2016. Die jüngste einer ganzen Litanei von Verletzungen - diesmal war es ein Kreuzbandriss - war noch nicht ausgeheilt, da blickte er im Interview mit der Zeit voraus.
"Ich will selber die Premier League gewinnen, selber die Champions League und die WM spielen. Einfach spielen."
Gut zehn Monate später hat der 27-Jährige zwei von drei Zielen nahezu wahrgemacht: Der Premier-League-Titel ist Manchester City nur noch auf dem Papier zu nehmen, in der Champions League hat Gündogan brilliert, wie etwa bei seinen zwei Toren im Achtelfinale gegen den FC Basel. Die WM, sie fehlt noch. Das erste große Turnier in der Karriere des technisch so versierten Mittelfeldmannes, es steht endlich kurz bevor, nach sieben Jahren mit der Nationalmannschaft, nach so vielen bitteren Fehlstunden.
Guardiola schwärmt von "Maschine" Ilkay Gündogan
"Einfach spielen", das kann so schön sein bei einem Mann dieser Güteklasse. Einfach ist es allerdings nicht - es sieht nur einfach aus. Wie etwa bei Gündogans Gala gegen den FC Chelsea Anfang März, als er mit 174 Pässen einen neuen Premier-League-Rekord in den Rasen schrieb, Erfolgsquote 96 Prozent. Einfach phänomenal, bejubelte die englische Presse den "Pass Master", Pep Guardiola gluckste verzückt ob seiner "Maschine": "Letzte Saison haben wir ihn sehr vermisst, als er verletzt war. Seine Tore, seine Persönlichkeit im Spiel - er war fantastisch."
In diesen Farben hatte es sich Guardiola wohl ausgemalt, als er Gündogan nach seinem Amtsantritt bei den Citizens 2016 aus Dortmund holte. Als ersten Wunschspieler wohlgemerkt, und die Spatzen pfeifen von den Dächern, dass er ihn in den Jahren zuvor gerne auch zu den Bayern geholt hätte. Gündogan als Schlüsselspieler in der Zentrale, Bindeglied zwischen Defensive und Offensive, der den Laden aus Kevin De Bruynes und David Silvas und Fernandinhos zusammenhält und strukturiert.
Logisch, dass er, endlich beschwerdefrei, in diesem Jahr einfach spielen musste in Manchester, nachdem ihn Guardiola langsam und vorsichtig wieder herangeführt hatte. Mittlerweile sind es fast 1.000 Einsatzminuten mehr als noch 2016/17, seit Weihnachten hat er allein elf Spiele über die volle Distanz absolviert. Das Highlight neben Chelsea sicherlich der Doppelpack in Basel, als Bundestrainer Joachim Löw auf der Tribüne staunte und Gündogan hinterher zu Protokoll gab: "Ich gehe mal davon aus, dass er seinen Ausflug nicht bereut hat."
Gündogan gegen Brasilien: Gibt es den Stammplatz neben Kroos?
Am Dienstagabend wird Löw noch näher dran sein und an der Seitenlinie mit Argusaugen beobachten, wie sich Gündogan im Berliner Olympiastadion gegen die hoch gehandelten Brasilianer anstellt. Und ob er eine Alternative darstellt für die Position neben Toni Kroos, einem der wenigen noch nicht definitiv besetzen Plätze im WM-Auftaktspiel am 17. Juni gegen Mexiko.
Denn wenn Löw seinen WM-Kader am 15. Mai im Fußballmuseum in Dortmund öffentlich macht, dann wird Ilkay Gündogan endlich dabei sein, sollte, Gott bewahre, keine weitere Verletzung dazukommen. "Wenn's denn sein soll mit der WM, dann soll es sein", hat der gebürtige Gelsenkirchener gesagt. "Es muss doch endlich sein", ist man geneigt zu antworten, angesichts der überragenden Leistungen im Trikot der Citizens, angesichts der bisher gerade mal 22 Länderspiele.
Gündogan muss mit, Gündogan muss spielen. Offen ist lediglich, ob es in der Zentrale passt mit ihm und Toni Kroos, oder ob Weltmeister Sami Khedira immer noch die Nase vorn hat. Überspitzt gesagt hat der Bundestrainer die Wahl: feine Klinge oder Pferdelunge.
Wie nah Gündogan dran ist an der ersten Elf, war daran abzulesen, dass es nach dem Unentschieden gegen Spanien am Freitag umgehend die Einsatzgarantie gegen die Selecao gab. Er darf sich von Beginn an zeigen, in Kombination mit City-Teamkollege Leroy Sane auf der linken Flanke. Für ihn gebe es nur "Vollgas", betonte Gündogan, trotz der zusammengewürfelten Startelf, trotz der Aufgaben, die im Saisonendspurt noch in Manchester warten, wie etwa das Champions-League-Viertelfinale gegen Liverpool und DFB-Kumpel Emre Can.
Gündogan als perfekter Spieler für das System Löw
Die DFB-Elf und Gündogan, das hat auf dem Papier vielleicht noch nie so gut gepasst wie dieser Tage. Es ist eine Spielergeneration her, da wäre ein Mann mit seinen technischen und spielerischen Fertigkeiten noch eine Ausnahme gewesen im Turniermannschaftskollektiv. Heute liegt es nicht an ihm, dem Team das spielerische Element zu verleihen. Vielmehr kann er sich nahtlos einfügen in ein Mittelfeld mit Kalibern wie Kroos, Sane oder Mesut Özil.
Löw hat ein Team geformt, das selbst gegen Spanien spielerisch mithalten kann - ein Gündogan könnte so seine Stärken ausspielen, wie er es in Manchester tut. Und diese Stärken hat er unter Guardiola noch einmal verfeinert. Spricht man ihn auf seinen Klubtrainer an, gerät er ins Schwärmen: Ein "Genie" sei der Katalane, dessen Fußball-Philosophie unerreicht. Ein Stil, der in seinen Grundzügen auch beim WM-Titelverteidiger gefragt ist wie noch nie: spielerische Lösungen, Ballbesitz, Kontrolle, Dominanz.
Forderungen wird Gündogan nicht stellen. Abseits des Platzes ist er ein Leisetreter, unaufdringlich, im Umgang unkompliziert. Er hat zu viel erlebt, will bei seiner vielleicht schon letzten WM-Chance, wie er selbst zugibt, einfach nur auf den Zug aufspringen. "Es ist schwierig für mich, meine persönliche Rolle innerhalb der Mannschaft zu definieren", gibt er selbst zu, dafür habe er zu oft gefehlt.
X-Faktor Gündogan: Sanes Mentor - Özils Ersatz?
Doch Löw weiß, wie wichtig Gündogan in Russland werden dürfte, ob nun neben Kroos oder als erster Einwechselspieler im zentralen Mittelfeld. Dazu kommen ein paar X-Faktoren: Überholt Sane auf links noch Julian Draxler, könnten auch Gündogans Chancen steigen, schließlich verstehen sich die beiden blind - und der Ältere weiß, wann der übertalentierte Jüngere mal "einen Tritt in den Allerwertesten" braucht.
Zudem bietet der Kader in seiner derzeitigen Form keine perfekte Alternative für den bereits abgereisten Özil. Julian Brandt, Leon Goretzka oder vielleicht sogar Lars Stindl könnten den Platz hinter dem Stoßstürmer ausfüllen, sie alle sind jedoch keine klassischen Zehner.
Gündogan könnte auf dieser Position seine offensiven Fähigkeiten ausspielen, den tödlichen Pass setzen oder als kopfballstarker Spieler selbst im Strafraum für Gefahr sorgen. Löw wird ihn von Beginn an bringen, die genaue Zusammensetzung des Mittelfelds ist aber noch offen. Das Trio Kroos-Khedira-Gündogan könnte gemeinsam auflaufen, ein flexibles Dreieck mit Kroos, Goretzka und Gündogan, die abwechselnd nach vorn stoßen, wäre auch denkbar.
Noch ist die Zeit für Experimente. Ab dem 17. Juni wird dann einfach nur noch gespielt.