"Kein Trainer muss sich inszenieren"

Jochen Tittmar
25. April 201709:14
Dieter Hecking ist seit Winter Trainer von Borussia Mönchengladbachgetty
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Dieter Hecking ist aktuell der erfahrenste Trainer aller Bundesligisten. Seit Hecking im Winter bei Borussia Mönchengladbach übernahm, geht es bei den Fohlen wieder bergauf. Vor dem DFB-Pokal-Halbfinale gegen Eintracht Frankfurt (20.30 Uhr im LIVETICKER) spricht er über seinen Ruf als Trainer, oberflächliche Diskussionen beim Thema Taktik und erklärt, weshalb der Amateurfußball in Deutschland in seinen Augen krankt.

SPOX: Herr Hecking, im Sommer 2009 bezeichneten Sie sich im SPOX-Interview als Coach von Hannover 96 noch als jungen Trainer.

Dieter Hecking: (unterbricht) Das bin ich immer noch. (lacht)

SPOX: Mittlerweile sind Sie von den aktuellen Fußballlehrern in der Bundesliga jedoch derjenige mit den meisten Spielen. Vor zwei Jahren haben Sie beim VfL Wolfsburg mit dem DFB-Pokal Ihren ersten Titel geholt. Wie hat sich dadurch die Wahrnehmung von außen auf Sie verändert?

Hecking: Mir persönlich ist am wichtigsten, dass ich mich kein bisschen verändert habe. Das bestätigen mir viele Menschen. Wie andere mich wahrnehmen, habe ich nie beeinflussen wollen. Das könnte ich ja ohnehin nicht. Ich habe nach dem Titelgewinn schnell gemerkt, dass man deutlich häufiger angesprochen und damit konfrontiert wird, in den letzten Jahren immer mehr in der Öffentlichkeit gestanden zu haben. Ich werde häufiger erkannt, verstehe aber auch die Menschen, wenn sie eine Person des öffentlichen Lebens zu Gesicht bekommen.

Dieter Hecking unterhielt sich mit SPOX-Redakteur Jochen Tittmar in Mönchengladbachspox

SPOX: Fühlen Sie sich nun auch als sehr erfahrener Coach?

Hecking: Ich sehe mich als einen der gestandenen Trainer an, so selbstbewusst bin ich schon. Ich bin jetzt seit über elf Jahren in der Bundesliga, bin erfahren und habe Titel gewonnen. Titel sind die markantesten Auszeichnungen für einen Trainer. Es ist letztlich einfach ein riesiger Unterschied, ob man wie ich 2006 in Hannover zum ersten Mal in der Bundesliga trainiert oder ob man schon seit Jahren dabei ist.

SPOX: Elf Jahre sind eine Menge im Trainergeschäft.

Hecking: Erfahrung ist etwas, was man nicht in der Trainerausbildung lernt - die muss man machen. Ich weiß heute, was ich kann. Dieses Selbstbewusstsein muss man in diesem Metier auch haben. Einen der begehrtesten Arbeitsplätze im deutschen Fußball zu haben, ist nach wie vor ein Privileg. Ich weiß aber auch ganz sicher, dass mir der Job in der 2. oder 3. Liga genauso viel Spaß machen würde. Man muss sich als Trainer auf alles einstellen, was auf einen zukommt. Diese Bodenständigkeit habe ich mir immer erhalten.

SPOX: Sie waren als Trainer sehr zielstrebig und sind immer wieder frühzeitig die nächsten Karriereschritte gegangen. Glauben Sie, dass es vielleicht mehr Inszenierung braucht, um in die oberste Kategorien an Trainern zu stoßen?

Hecking: Kein Trainer muss sich inszenieren, um erfolgreich zu sein. Für mich zählt nur, wie mein engstes Umfeld meine Leistung einzuschätzen weiß. Die allermeisten Leute, die über mich urteilen, kennen mich und meine Arbeit nicht wirklich. Man steckt in Schubladen, in die man irgendwann einmal hineingepackt wurde. Ob sie der Wahrheit entsprechen oder nicht, muss letztlich jeder für sich selbst beurteilen. Ich gebe nichts auf öffentliche Beurteilungen, weil mittlerweile eine über die Jahre gewachsene Gelassenheit in mir steckt.

SPOX: Woher kommt diese Gelassenheit, aus Ihren westfälischen Wurzeln?

Hecking: Das weiß ich nicht. Es ist besonders, in der Bundesliga zu arbeiten, aber es wird eben auch gewissermaßen zur Normalität, je mehr Erfahrung man ansgesammelt hat. Die Gelassenheit braucht man in hektischen, wie in erfolgreichen Phasen, um den Überblick zu behalten und nicht durchzudrehen. Das ist in meinen Augen meine große Qualität.

SPOX: Für wie bedauerlich halten Sie diese teils hektischen Reaktionen in der Öffentlichkeit, was den Fußball anbelangt?

Hecking: Der Fußball ist immer hektisch gewesen, dazu ist mittlerweile kaum mehr Kontinuität gegeben. Doch das gilt nicht nur für den Fußball, sondern für unsere gesamte Gesellschaft. In jedem Beruf steigt der Leistungsdruck kontinuierlich. Man muss Ergebnisse liefern und darf sich keine Schwächen erlauben, weil man sonst Gefahr läuft, dass vor der Tür schon der eigene Nachfolger wartet. Das ist das deutsche Leistungsprinzip. Es gibt andere Länder, in denen es deutlich ruhiger zugeht. Im Moment wird mir die Spirale bei allem Streben nach Perfektion zu häufig überdreht, die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Das fällt auf, gerade wenn man sieht, wie viele Familien erheblich zu tun haben, um den normalen Alltag bewältigen zu können. Ich bin gespannt, ob das die Gesellschaft irgendwann einmal auffangen kann.

SPOX: Als Sie in Gladbach übernahmen, war eine Ihrer Maßnahmen, sich auf die verinnerlichten mannschaftstaktischen Abläufe unter Lucien Favre zurück zu besinnen. Beispielsweise führten Sie die Viererkette wieder ein, nachdem unter Ihrem Vorgänger Andre Schubert meist eine Dreierkette zum Einsatz kam. Die Diskussionen darum kanzelten Sie anschließend als "oberflächlich und populistisch" ab. Wie war das gemeint?

Hecking: Man hat zwanghaft versucht, irgendwelche Unterschiede zu Andre Schubert oder Gemeinsamkeiten mit Lucien Favre auszumachen. Ich mag diese Vergleiche nicht. Ich bin ein ganz anderer Trainer als Lucien Favre, auch wenn ich jetzt dasselbe System spielen lasse. Ich habe von der ganzen Kaderzusammenstellung her etwas vorgefunden, das sich in der Vergangenheit und auch nach wie vor am besten angeboten hat. Andre Schubert war hier sehr erfolgreich, doch am Ende nur zu sagen, er habe ständig die Aufstellung verändert, greift viel zu kurz. Vielleicht musste er das aus Verletzungsgründen oder um die Belastung zu verteilen zwangsläufig machen. Es ist der falsche Ansatz zu behaupten, nur durch die Wiedereinführung der Viererkette sei wie selbstverständlich alles stabiler.

SPOX: Wie sah denn die Entscheidungsfindung dafür genau aus? SPOXspox

Hecking: Mir blieb nach meiner Übernahme nur wenig Zeit, um mir das bestmögliche Bild meiner neuen Mannschaft zu machen. Wir haben von 17 Tagen der Vorbereitung zwölf Tage lang Dreierkette gespielt. Ich wollte ein Gefühl dafür bekommen, ob die Mannschaft wirklich stabil genug dafür ist. Ich hatte aber den Eindruck, dass es nicht so richtig passt. Vor unserer ersten Partie in Darmstadt haben wir im Training mit der A-Mannschaft und einer Dreierkette gegen die B-Mannschaft gespielt. Da hat sie Probleme gezeigt, es wurde zwischen den Spielern viel über Laufwege und Abstimmung diskutiert. Das hat mir nicht gefallen, so dass ich die Entscheidung getroffen habe, künftig mit Viererkette zu spielen.

SPOX: Sie sagten auch, dass diese Betrachtungen grundsätzlich "etwas mehr in die Tiefe" gehen sollten. Trainerausbilder Frank Wormuth pflichtete Ihnen kürzlich bei, dass die Bewertung taktischer Systeme und Ordnungen mittlerweile überzogen sei. Man sähe plötzlich Dinge, die es möglicherweise gar nicht gibt, sagte Wormuth. Weshalb wird zu viel in das Thema Taktik hineininterpretiert?

Hecking: Es lassen sich mittlerweile sehr viele Menschen über Fußball aus. Es gibt Onlineportale, die Spieler und Partien analysieren. Da habe ich einmal einen Bericht über eines unserer Spiele gelesen. Darin standen Ausdrücke, da wusste ich auf Anhieb gar nicht, wie das gemeint sein könnte. Vieles wird heutzutage verwissenschaftlicht und verkompliziert. Ich selbst spreche keine veraltete Fußball-Sprache, denn der Fußball ist einfach. Ich muss nicht das Wort Matchplan bemühen. Das sind alles neue Wortschöpfungen, die ich zwar wahrnehme, aber für mich total unwichtig sind - und manchmal muss ich darüber schmunzeln.

SPOX: Andererseits: Wäre es nicht wünschenswert, wenn inhaltliche Themen breiter diskutiert würden anstatt des neuesten, mit Brillanten besetzten Rucksacks eines Profis?

Hecking: Das wäre absolut wünschenswert, aber das will doch niemand hören. Viele widmen sich kaum mehr inhaltlichen Themen. An der Gazzetta dello Sport in Italien hat mir immer gefallen, wie es dort ans Eingemachte geht und die Taktik des Trainers analysiert wird. Das liest man in Deutschland viel zu wenig. Hier ist wichtig: Verlängert er seinen Vertrag, wer kann mit wem, wo ist etwas schiefgelaufen? Aber das, was auf dem Platz passiert, interessiert fast niemanden mehr. Selbstverständlich muss das Produkt Fußball verkauft werden. Es lebt nicht von einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Spiel. Dass sie aber beinahe gänzlich unter den Tisch fällt und abgetan wird, ist mehr als schade.

SPOX: Das gilt auch für die Insolvenz Ihres Ex-Klubs Alemannia Aachen, nach dem SC Verl und dem VfB Lübeck der dritte Verein, den Sie in Ihrer Karriere trainiert haben. Zwischen 2004 und 2006 spielten Sie am Tivoli mit dem damaligen Zweitligisten Europa League und stiegen in die Bundesliga auf, nun steht der Verein vor einem Scherbenhaufen.

Hecking: Und das stimmt mich sehr traurig. Der Weg zurück wird für sie sehr beschwerlich sein. Es ist ja bereits die zweite Insolvenz in Aachen. Die Alemannia müsste mit dem Stadion und der Stadt eigentlich Minimum in der 3. Liga spielen.

SPOX: Wie blicken Sie auf diese Situation? Es ist ja nicht der erste Traditionsverein, den es trifft.

Hecking: Gerade die Vereine, die in ihrer Stadt den Anspruch haben, ein Profiklub zu sein, werden ihm nicht mehr gerecht - nach wie vor. Es wird in den unteren Ligen viel zu viel Geld gezahlt, doch dort kannst du es irgendwann kaum mehr auffangen. Bei allen Erwartungen und Hoffnungen muss die Wirtschaftlichkeit über allem stehen. Viele Traditionsvereine bekommen durch den Anspruch und die Erwartungen Probleme. Manche Verantwortliche werden sicherlich wissen, dass ihr Konzept finanziell am seidenen Faden hängt, doch sie spüren den Druck der Stadt, der Fans und der eigenen Tradition, zu können und zu müssen. Doch im Endeffekt können sie gar nicht.

SPOX: Liegt das nicht zumindest auch teilweise an den kruden Regularien?

Hecking: Ja. Der Spielbetrieb unterhalb des Lizenzbereichs müsste neu strukturiert werden. Das kann so nicht weitergehen. Irgendwann wird es den großen Knall geben und dann werden nicht ein oder zwei Vereine insolvent gehen, sondern sieben oder acht. Gerade die Aufstiegsregelung in den Regionalligen ist katastrophal. Warum sollten in der 3. Liga nicht vier Mannschaften absteigen können? Man muss als Regionalligist aufsteigen können, wenn man Meister wird. Ich denke, dass der DFB bei diesem Thema in Zukunft sehr gefordert sein wird, da Insolvenzen sonst kaum aufzuhalten sind.

SPOX: Zumal es doch auch schlicht dem Leistungsgedanken im Fußball widerspricht, wenn man sich sportlich für eine höhere Liga qualifiziert, die Teilnahme aber aufgrund größerer Auflagen des Verbands nicht stemmen kann.

Hecking: So ist es. Meister sollen aufsteigen können. Ich bin andererseits aber froh über Vereinsverantwortliche, die genau einschätzen können, dass sie sich eine höhere Liga nicht leisten können. Wie aber soll ich die Spieler dafür begeistern, trotz einer gewonnenen Meisterschaft nicht aufzusteigen, weil ansonsten der Verein kaputt geht? Das ist eine Gefahr, zumal auch beispielsweise innerhalb der Regionalliga eine Diskrepanz besteht.

SPOX: Was meinen Sie genau?

Hecking: Ich habe etwas Einblick bei einem kleineren Verein in Niedersachsen. Er ist aufgestiegen, muss seinen Dorf-Sportplatz nun aber komplett umbauen. Tribüne, Bandenwerbung, Sicherheitsvorkehrungen, ein umzäunter Gästebereich - das wurde dort alles in Eigenleistung gemacht. Aber es hat den Verein kurz vor die Grenze gebracht. Dort spielen Spieler für ganz kleines Geld, weil sie einfach Spaß am Abenteuer Regionalliga haben wollen. Doch dort gibt es dann auch Teams wie die Zweitvertretungen der Profiklubs, die nicht auf jeden Cent schauen müssen. Auch in der 3. Liga tummeln sich genügend Vereine, die jetzt schon wissen, dass sie es nicht schaffen werden, sich dauerhaft weiter oben zu positionieren. Viele dieser Klubs werden am Ende der Saison auf die Bilanz schauen und das nächste Minus ausweisen müssen. Die Vereine merken, es geht nicht mehr. Es kann aber doch nicht sein, dass sich Vereine fragen: Was wollen wir in der 3. Liga, da haben wir ja gar keine Chance. Denen ist die 4. Liga gerade recht, doch auch dort kostet es Geld. Und das erwirtschaftet man nur schwerlich, wenn nur ein paar Hundert Zuschauer kommen. Diese Schwelle zwischen Halbprofitum und Profitum, zwischen 3. und 4. Liga, ist schon grenzwertig. Ich glaube, dass diese Gemengelage eine große Gefahr für den Amateurfußball ist.

SPOX: Engelbert Kupka, langjähriger Präsident der SpVgg Unterhaching, initiierte das Bündnis "Rettet die Amateurvereine". Es scheint weiter zu wachsen. Sind Amateurvereine überhaupt noch etwas wert?

Hecking: Zwei meiner Söhne spielen in der Bezirksklasse und der Kreisliga. Das ist nicht mehr der Amateurfußball von früher. Es sind längst Grundprobleme, dass die ersten Mannschaften Schwierigkeiten haben, sonntags überhaupt elf Spieler zusammen zu bekommen. Kaum noch ein Amateurverein hat eine zweite oder dritte Mannschaft. Darin sieht man, dass der Amateurfußball selbst in den untersten Spielklassen immer mehr krankt. Ich verstehe das Grummeln an der Basis, im Magen des deutschen Fußballs. Da kommt eine große und verantwortungsvolle Aufgabe auf den DFB zu, wenn er seinem Anspruch als größter Sportverband der Welt gerecht werden will. Das ist offensichtlich, es gibt aber auch keine Patentlösung. Man muss sich die Probleme der Basis anhören und dann an Lösungen arbeiten.

Profis vs. Amateure: Fußball, bist Du noch Du selbst?

SPOX: Können Sie als Zuschauer ein Spiel Ihrer Söhne genießen in diesem niederen Bereich?

Hecking: Klar, ich schaue dort und grundsätzlich in unteren Spielklassen gerne zu. Ich war kürzlich mal wieder bei einem Spitzenspiel in der Bezirksliga, da waren immerhin mal rund 300 Zuschauer da. Das war richtiger Amateurfußball. Da ging es ordentlich zur Sache, da wird nach einem Tor noch vor Freude die Bratwurst aufs Feld geschmissen. (lacht) Das macht mir sehr viel Spaß.

SPOX: Themenwechsel zum Schluss: Gewinnen Sie am Saisonende als Trainer von Gladbach zum zweiten Mal den DFB-Pokal?

Hecking: Wir sollten zunächst einmal zuhause das Halbfinale gegen Eintracht Frankfurt gewinnen. Mir wird momentan zu sehr so getan, als sei das bereits geschafft. Bei aller Euphorie muss ich den Finger heben, denn die Gunst der Stunde ist auch für die Eintracht riesengroß. Sie stehen in der Bundesliga vor uns und werden uns das Leben richtig schwer machen. Dennoch haben wir absolut die Qualität, sie zu schlagen. Wenn man im Pokal startet, will man ihn auch gewinnen. Eine Finalteilnahme wäre sensationell. Wir wollen jetzt unbedingt diese letzten zwei Schritte machen.