DFB-Team nach EM-Aus - Markus Babbel attackiert Joachim Löw: "Diesen Schwachsinn hat kein Mensch verstanden"

Daniel Nutz
01. Juli 202110:44
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Markus Babbel, ehemaliger Nationalspieler und Bundesligatrainer, hat den scheidenden Bundestrainer Joachim Löw nach dem Achtelfinal-Aus bei der EM im Gespräch mit SPOX und Goal sowohl kritisiert als auch verteidigt und dabei die schwachen Einzelleistungen von Einzelspielern hervorgehoben. Weil er die aktuelle Nationalmannschaft nicht als "Gurkentruppe" sehe, habe er große Hoffnungen auf Löw-Nachfolger Hansi Flick und einen "Bayern-Effekt" im DFB-Team.

Babbel störte sich außerdem besonders an einer Aussage von Timo Werner, die dieser im Laufe der Europameisterschaft tätigte und sieht darin ein Sinnbild für das Scheitern bei der EM.

Einen abermaligen Neuanfang unter Flick ohne die älteren Semester Thomas Müller und Mats Hummels hält er für unnötig, jedoch dürfe es ausschließlich nach dem Leistungsprinzip gehen.

Markus Babbel über ...

... die Gründe für das Ausscheiden gegen England: Mir fehlte die Überzeugung, es schaffen zu können. Die Mannschaft hat gut angefangen, das hätte eigentlich Selbstvertrauen geben müssen. Man spürte, dass die Engländer Angst vor uns haben, aber auf einmal sind wir immer passiver geworden, haben keine Bälle mehr halten können, sobald die Engländer ein bisschen aggressiver wurden. Schnelle Ballverluste waren die Folge und auch die Atmosphäre im Stadion schien nach und nach Eindruck hinterlassen zu haben.


... Löws Entwicklung als Bundestrainer: Man muss Joachim Löw zweiseitig betrachten. Es gibt den Löw bis 2016, denn bis dahin lieferte er herausragende Arbeit für den deutschen Fußball. Mit dem WM-Triumph hat er 2014 den größtmöglichen Titel erreicht, aber auch die Entwicklung des Fußballs in Deutschland mit dem Einbau vieler Talente sensationell vorangetrieben. Ab 2016 setzte ein schleichender Prozess ein, Überheblichkeit kam dazu, man distanzierte sich von den Fans und wurde immer unnahbarer. So arrogant ist man 2018 dann auch in die Weltmeisterschaft gegangen und hat es völlig zurecht versemmelt. Das Komische ist: Auch mit Joachim Löw machte das etwas, man spürte eine gewisse Art von Angst. Er vermittelte nicht mehr diese Überzeugung von vor 2016 und das glückliche Händchen fehlte ihm mehr und mehr.

... Löws Handlungen in den letzten Jahren seiner Amtszeit: Aus Panik warf er dann die älteren Spieler raus, Leistung zählte nicht mehr, stattdessen ging es nur noch ums Geburtsdatum. Nicht mehr auf Leistung zu setzen, sondern in die Zukunft zu schauen, war für mich sein größter Fehler. In der Nationalmannschaft stand man immer als Leistungsträger: Wenn ich Leistung im Verein bringe, habe ich eine große Chance, nominiert zu werden. Da spielt es keine Rolle, ob ich 31 oder 21 bin. Löw vertraute stattdessen Spielern, die ihm das nicht zurückgezahlt haben und teilweise nicht mal in ihren Vereinen Stammspieler waren. Ein totaler Irrsinn! Diesen Schwachsinn hat kein Mensch mehr verstanden. Dafür wurden Spieler, die Leistung brachten, bestraft, nur weil sie ein gewisses Alter erreicht hatten.

... die Rückholaktion von Thomas Müller und Mats Hummels: Thomas Müller oder Mats Hummels sind doch keine alten Männer, die sind noch im besten Fußballeralter. Und kurz vor dem Turnier holst du sie aufgrund von Erfolglosigkeit dann doch zurück, allerdings viel zu spät, um etwas einzustudieren und dem Team Sicherheit zu verleihen. Da kann niemand erwarten, dass wir die Franzosen aus dem Stadion schießen. Dafür war der Auftritt eh noch ordentlich. Viele Punkte passten einfach nicht mehr zusammen und das ist natürlich dann auch die Verantwortung von Löw.

... die Fehler von Löw bei der EM: Dieses Festbeißen auf die Dreierkette, ohne einen Plan B zu haben, hat mich sehr irritiert. Ich tue mich immer schwer, wenn Spieler nicht auf ihrer besten Position spielen. Joshua Kimmich kann rechts spielen, aber meiner Meinung nach hat er eine hohe Unzufriedenheit ausgestrahlt. Er wollte auf der Sechs spielen. Bei einer Viererkette mit Kimmich als alleinigem Sechser und Toni Kroos neben Leon Goretzka in den Halbpositionen davor würden mir nicht viele Nationen mit einem besseren Mittelfeld einfallen. Er hätte zwei überragende Achter vor sich, mit Goretzka sogar einen der weltbesten im Moment. Dagegen hätte ich die Engländer mit ihrer Doppelsechs gerne gesehen. Es kann mir niemand erzählen, dass man auf der rechten Seite keinen Verteidiger findet. Da lache ich mich kaputt! Das muss doch kein Cafu sein, der ständig jeden Angriff mit einleitet. Seite zumachen reicht und Matthias Ginter, Emre Can oder Niklas Süle hätten das sicherlich hinbekommen.

... Leroy Sane: Auch Leroy Sane spielte nicht auf seiner Lieblingsposition. Auf der rechten Seite fühlt er sich wohl, bei uns musste er permanent über links kommen, das steigerte sein ohnehin schon angeknackstes Selbstvertrauen nur bedingt. Für Thomas Müller gilt das gleiche. Müller hat um den Stürmer herum seine beste Position gefunden bei den Bayern - er hat es dennoch gut gemacht bei der EM -, aber warum lassen wir unsere Jungs nicht dort spielen, wo sie am besten sind? Den Schuh muss sich Löw anziehen.

Tritt nach 15 Jahren als Bundestrainer zurück: Joachim Löw.getty

DFB-Team nicht gut genug? "Das ist doch keine Gurkentruppe"

... späte Umstellungen während den Spielen: In meinen Augen hatte Löw keinen Plan B neben seiner Dreierkette, obwohl an der Anzahl der Gegentore offensichtlich war, dass etwas nicht stimmte. Da waren uns die Engländer voraus. Die haben ebenfalls nach vorne nicht geglänzt, aber hinten stand die Null. Löw war einfach nicht flexibel genug und das ist das Enttäuschendste an der ganzen Geschichte. Du hast so viel Zeit, dich auf so ein Turnier vorzubereiten, und dann fehlt dir ein Plan B. Das führte letztendlich auch dazu, dass er nicht wusste, wie er auswechseln soll. Durch Wechsel wurden wir außer beim Ungarn-Spiel schlechter statt besser, das war symptomatisch für mich.

... über die größten Baustellen bei der Nationalmannschaft: Ich finde, dass wir eine gute Mannschaft haben. Das ist doch keine Gurkentruppe, bei der Hopfen und Malz verloren ist, ganz im Gegenteil! Darum tut dieses frühe Aus auch so weh. Du spielst mit einer Mannschaft, in der neun Spieler in einem Champions-League-Finale standen und sieben sie sogar gewonnen haben, gegen ein England mit Kalvin Phillips oder Declan Rice, die - bei allem Respekt - gute Spieler sind, jedoch bei durchschnittlichen Premier-League-Mannschaften spielen, und hast Angst vorm Gegner. Ein bisschen Körperlichkeit hat gereicht, um uns den Schneid abzukaufen. Das hat mich sehr irritiert, denn die Qualität wäre bei unserer Mannschaft vorhanden, aber der Glaube fehlte komplett.

... Ausfälle beim DFB-Team: Du brauchst bei so einem Turnier die Spieler in ihrer besten Verfassung, davon war Sane beispielsweise weit entfernt. Aber auch Serge Gnabry oder Timo Werner konnten ihre Klasse nicht abrufen. Werner kam als frischgebackener Champions-League-Sieger zur EM, ist aber aufgetreten, als würde er in Ehrfurcht erstarren. Wenn dir als Trainer vorne drei solche Hochkaräter ausfallen, wird es natürlich schwierig.

Timo Werner? "Da stellen sich mir die Nackenhaare auf"

... Robin Gosens und Antonio Rüdiger: Viele Spieler fühlten sich im System nicht wohl. Warum spiele ich Dreierkette? Robin Gosens kann dort auf der linken Seite sehr gut spielen, bei einer Viererkette ist er als Linksverteidiger allerdings katastrophal und offenbart unglaubliche Schwächen. Nach vorne hat er eine brutale Qualität, aber defensiv fehlt in einer Viererkette einfach das Niveau, da er die Absicherung dahinter braucht. Für Antonio Rüdiger gilt das gleiche, der braucht seine zwei Innenverteidiger neben sich, da es ansonsten im Spielaufbau bedenklich hakt. Das dürften die Überlegungen von Löw gewesen sein, um seine Leute auch alle unterzubringen. Bei einer Viererkette fehlte ihm wohl das Vertrauen in seine Innenverteidiger. Und wenn Gosens dort den Linksverteidiger nicht spielen kann, dann muss ich halt Christian Günter bringen. Diesen Mut hatte er allerdings nicht, aber ich bin der Meinung: Wenn er im Aufgebot steht, muss er auch spielen können. Aufgrund seiner Leistungen in Freiburg hätte ich persönlich bei ihm wenig Bauchschmerzen gehabt, wenn er in der Startformation gestanden hätte.

... einen Neuanfang ohne Müller, Hummels und Co. oder lediglich kleine Anpassungen unter Hansi Flick: Es muss nach dem Leistungsprinzip gehen und nicht nach Jahrgängen. Nächstes Jahr steht schon die WM an und wir haben doch keine überalterte oder qualitativ schwache Mannschaft. Sie muss allerdings wieder dominanter und selbstbewusster werden und ganz anders auftreten. Das muss Flick in der Kürze der Zeit schaffen. Dass ihm das gelingen kann, hat er schon bei den Bayern eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Auch in der Zukunft rücken immer wieder Talente nach, die sich mit Leistungen ihren Platz erkämpfen wollen und werden. Deshalb kann ich solche Aussagen wie von Werner, dass es nicht so schlimm wäre, nicht von Beginn an zu spielen und er ein Teamplayer wäre, nicht mehr hören. Der muss sich ärgern, wenn er auf der Bank sitzt! Wenn es dann nicht so ist, muss er sich natürlich in den Dienst der Mannschaft stellen, aber bei solchen Aussagen stellen sich mir die Nackenhaare auf. Als Champions-League-Sieger muss man doch den Anspruch haben, in der Startelf zu stehen. "Gnabry muss sich hinten anstellen", sollte man stattdessen von ihm hören. So ein Leistungsgedanke muss wieder in die Truppe, dann wird das auch wieder was.

... Flicks Hauptaufgaben: Er muss eine Einheit formen, wie er es in München auf fantastische Art und Weise geschafft hat. Es gilt nun, erstmal abzuwarten, ob alle älteren Spieler weiterhin zur Verfügung stehen, aber die WM ist bereits in einem Jahr. Ich bin großer Fan seiner Arbeit und gehe davon aus, dass es wieder nach dem Leistungsprinzip geht und er eine klare Mission hat, wie gespielt und aufgetreten werden soll. Dass endlich - auch nach außen - wieder eine Gemeinsamkeit entsteht, welche aufgrund der Aktivitäten des DFB in letzter Zeit verloren ging. Wenn wir alle eine Einheit darstellen, entwickeln wir eine Dynamik und eine Power und es kann wieder richtig gut werden.