Der Titelverteidiger ist raus, Belgien steht trotz schwacher Leistung im EM-Viertelfinale: Nach dem 0:1 aus Sicht der Portugiesen stehen grundlegende Änderungen ins Haus. Cristiano Ronaldo aber sollte davon unberührt bleiben. Vier Thesen zum Achtelfinale zwischen Belgien und Portugal.
1. Portugal braucht einen Trainerwechsel
Am Ende war Belgiens Sieg glücklich, das gab sogar Abwehrchef Thomas Vermaelen unverblümt zu. Portugal war dominanter und hätte sich den Ausgleich verdient. Nach Expected Goals hat die Mannschaft von Fernando Santos die Partie mit 1.56 zu 0.23 für sich entschieden. Doch das reichte nicht.
Und das, obwohl Belgien genau das machte, was gegen Portugal tödlich sein kann: den Ball abgeben. In der zweiten Halbzeit hatte der Titelverteidiger über 65 Prozent Ballbesitz. Eine Ausgangslage, die prädestiniert für die variable Offensive der Portugiesen ist.
Mit etwas mehr Glück stünde also möglicherweise Portugal im Viertelfinale gegen Italien. Mit "Pech" allein ist das frühe EM-Aus Portugals aber nicht hinreichend erklärt. Der Fehler beginnt schon früher: in der taktischen Grundausrichtung.
Der Kader der Portugiesen ist nochmal deutlich stärker als der vom EM-Sieg von vor fünf Jahren. Diogo Jota, Bernardo Silva, Goncalo Guedes, Joao Felix, Bruno Fernandes, Cristiano Ronaldo, Andre Silva - und das sind nur die Offensivoptionen. Weltklasse!
Die Offensive hat taktische Anleihen von Champions-League-Finalist Manchester City, ist nur nicht so eingespielt: breite Außen, variable Besetzung zwischen den Linien. Die Offensive hat auch eine ähnliche individuelle Qualität wie die des englischen Meisters. Diese ist bei der defensiven Herangehensweise von Santos aber verschwendet.
Statt vermehrt auf diese Offensive zu setzen, blieb Santos seinem "Defense first"-Ansatz von 2016 treu. 2016, als Portugal noch Außenseiter war und mit drei Unentschieden die Gruppenphase überstand - in einer Gruppe mit Ungarn, Island und Österreich wohlgemerkt. Fünf Jahre später - kaum Weiterentwicklung.
Dabei sind Portugals Rezepte gegen den Ball noch einen Tick riskanter:
- Wildes Pressing, bei dem immer ein zentraler oder Außenspieler des Gegners freisteht und auf Fehler des Gegners spekuliert wird. Das kann dann gegen ballsichere Gegner wie Deutschland eben schiefgehen. Ein Spiel mit dem Feuer.
- Eine tiefe Abwehrkette und absinkende Flügelstürmer mit der Tendenz zur Sechserkette. Durch die flache Staffelung beraubt sich Portugal der eigenen Stärke: dem Konterspiel.
Wenn eine Mannschaft wie Belgien mit sicherer Restverteidigung die Portugiesen also ausreichend unter Druck setzt, kommt deren Offensive gar nicht erst so zur Entfaltung. Das zeigte die erste Halbzeit nur zu gut.
Santos hat die EM und die Nations League gewonnen. Diese großen Erfolge waren auch dank ihm möglich und dürfen nicht vernachlässigt werden. Nach dieser EM wird es jedoch Zeit für einen Trainer, der noch mehr aus dem riesigen Potenzial dieser Mannschaft schöpft.
2. Renato Sanches löst das Pep-Versprechen ein
35 Millionen Euro zahlte der FC Bayern 2016 für den Golden Boy Renato Sanches. "Er ist bei Weitem einer der besten jungen Spieler in Europa. Er hat viel Qualität und Persönlichkeit. Er hat eine große Zukunft vor sich", versprach der damals scheidende Trainer Pep Guardiola. 53 Spiele machte Sanches letzten Endes für die Bayern - der Transfer avancierte zum Missverständnis.
2019 ging Sanches zu OSC Lille nach Frankreich. Nach anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten kam er dort immer besser in Fahrt, entwickelte sich zum Stammspieler und gewann in der abgelaufenen Saison als Leistungsträger seiner Mannschaft die französische Meisterschaft.
Seine Leistungen bei der EM waren die Krönung einer herausragenden Saison. Gegen Ungarn kam er zu einem Kurzeinsatz, gegen Deutschland empfahl er sich in der zweiten Halbzeit für die Startelf. Gegen Frankreich avancierte er zum Hoffnungsträger der Portugiesen und bestätigte diesen Ruf im Achtelfinale.
Renato Sanches: Seine Statistiken bei der EM 2021:
Spiele (davon Startelf) | 4 (2) |
Gespielte Minuten | 220 |
Pässe | 191 |
Passquote | 91,6 % |
Zweikampfquote | 59,4 % |
Ballsicherungen | 21 |
Schüsse | 4 |
Torschussvorlagen | 3 |
Sanches dirigierte das Kombinationsspiel im Mittelfeld der Portugiesen, sorgte mit seiner Körperlichkeit für gefährliche Umschaltmomente und setzte seine Mitspieler perfekt in Szene. Die von Guardiola prophezeite Zukunft ist jetzt.
Sinnbildlich für Sanches' EM-Turnier war eine Szene aus der 40. Minute: Sanches pflückte einen (desaströsen) halbhohen Pass von Guerreiro technisch perfekt herunter, behauptete sich gegen De Bruyne, trieb den Ball nach vorne, überpowerte Witsel und überwand dabei das gesamte Mittelfeld, ehe er Bernardo Silva auf der rechten Außenbahn perfekt bediente - Weltklasse!
3. Der Erfolg gibt Belgien (noch) Recht
Auch Belgien setzt in erster Linie zunächst auf Defensivspiel. Nur war vom Weltranglistenersten auch nichts anderes zu erwarten. Die drei Siege in der Gruppenphase und das Torverhältnis von 7:1 sollten darüber nicht hinwegtäuschen. Bei der WM 2018 waren es ebenfalls neun Punkte und sogar 9:2 Tore. Dafür ist die Qualität im Kader zu gut.
Die K.o.-Spiele waren für Belgien aber schon 2018 auf Kante genäht. Das scheint sich nun zu wiederholen. In der Anfangsphase gegen Portugal machte es Belgien gut, ließ den Ball durch Witsel und Tielemans zirkulieren und beschäftigte den Gegner.
Nach rund 20 Minuten aber gewährte Belgien den Portugiesen vermehrt längere Ballbesitzphasen. Die Mannschaft von Trainer Roberto Martinez hielt sich zurück. Nach dem Führungstreffer und der verletzungsbedingten Auswechslung von Kevin De Bruyne kam dann gar nichts mehr.
Das Offensivkonzept der Belgier beschränkt sich sehr auf Isolationsspiel mit Romelu Lukaku und De Bruyne, die das mit ihrer Qualität freilich sehr gut machen, was aber in vielen Fällen mehr kräfteraubend als erfolgreich ist.
Die wirkliche Stärke der Belgier ist aber das Ausschwärmen in offensiven Umschaltmomenten. Wenn es chaotisch wird, wenn der Gegner die Ordnung aufgibt, dann ist Belgien da. Doch nicht gegen Portugal.
In der Schlussphase ergaben sich durch die belgische Führung etliche Kontermöglichkeiten, die die roten Teufel aber fürchterlich ausspielten. Die 3-gegen-2-Situation mit Yannick Carrasco als ballführendem Spieler kurz vor Schluss schafft es wohl in jeden Lowlight-Zusammenschnitt dieser EM. "Wenn wir den letzten Ball und unseren Ballbesitz besser genutzt hätten, hätten wir wahrscheinlich viel Freude an den Risiken gehabt, die Portugal eingegangen ist", sagte Martinez nach dem Spiel. Hätten ...
Was bleibt, ist ein schwacher Auftritt, der dank einer Einzelaktion von Thorgan Hazard zum Viertelfinal-Einzug reichte. Belgien spielt wie 2018 mit dem Feuer. Noch gibt der Erfolg den roten Teufeln Recht.
Die Auswechslungen der angeschlagenen De Bruyne und Eden Hazard machen aber wenig Hoffnung, dass das auch gegen Italien reicht.
4. Cristiano Ronaldo ist noch längst nicht am Ende
Allein die Tatsache, dass ein Narrativ vom möglicherweise letzten großen Turnier des 36 (!) Jahre alten Cristiano Ronaldo gar nicht erst bemüht wird, spricht Bände: CR7 ist noch längst nicht am Ende.
Bei der WM 2022 wird Ronaldo sicherlich wieder für Portugal auflaufen - und nicht nur das: Er ist noch immer eine gewaltige Bereicherung für diese Mannschaft. Der ganze Hohn und Spott über "Penaldo", der vermeintlich nur noch vom Elfmeterpunkt treffen kann, ist ein Kommentarspalten-Phänomen und sollte auch dort bleiben.
Ronaldo ist dank seiner fünf Treffer bei dieser EM nicht nur EM-Rekordtorschütze (14), sondern auch Rekordtorschütze bei großen Turnieren (21).
Dass sich böse Zungen gehässig auf Ronaldos Freistoßausbeute (0 von 28 EM-Freistößen direkt verwandelt), sein "Alibi-Pressing" oder seine schnörkellosen Dribblingansätze stürzen: geschenkt. Ronaldo ist eben nicht mehr der trickreiche Jungspund im United-Trikot. Er ist aber verdammt nochmal effizient.
Der portugiesische Kapitän hat die Metamorphose zum Strafraumstürmer der alten Schule durchgemacht, dabei aber nicht an Athletik oder Antritt verloren. In dieser Form ist er für Portugal auch noch beim nächsten großen Turnier der Sieggarant.