"Ich habe echt Angst": Warum Harry Kane in Englands EM-Halbfinale keine Startelf-Garantie haben sollte

Von Richard Martin
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Die Three Lions zitterten sich trotz ihres erneut farblosen Mittelstürmers weiter. Sie sollten nicht den gleichen Fehler wie Portugal machen.

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Die englische Presse ist bekanntlich nicht zimperlich. So war das Aus von Portugal und Gigastar Cristiano Ronaldo am vergangenen Freitag freilich ein gefundenes Fressen und das durchaus aus gutem Grund.

Was ein mitreißendes Duell zweier der besten Mannschaften der Welt hätte sein können, wurde zu einer bizarren Ronaldo-Show, genau wie schon Portugals Achtelfinale gegen Slowenien.

"Ronaldo wirkte verloren in seiner eigenen Traumwelt", schrieb etwa der Telegraph. Und der Guardian meinte: "Eine galaktische Schlacht, verloren im schwarzen Loch des Egos eines Mannes." The I Paper befand, Ronaldo solle um seinetwillen aus der Nationalmannschaft zurücktreten. Der 39-Jährige gefährde "seine eigene Hinterlassenschaft, weil er nicht weiß, wann Schluss ist."

Portugal zahlte am Ende den Preis für den Versuch, einen Kapitän einzubinden, der seinen Zenit überschritten hatte, und eine Mannschaft voller Weltklassetalente war dem Elfmeterschießen ausgeliefert.

Nicht mal 24 Stunden später wäre es England beinahe genauso ergangen, indem man gegen die Schweiz blind auf Harry Kane vertraute, der die Mannschaft klar ersichtlich hemmte.

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Ronaldo & Kane machen ihre Teams schlechter

Kane und Ronaldo sind sicher sehr verschiedene Typen. Hier der stets bescheiden und höflich auftretende Engländer, dort der schillernde Weltstar mit dem monströsen Ego.

Aber es gibt auch offensichtliche Gemeinsamkeiten. Beide sind die Kapitäne ihrer Nationalmannschaften und beide sind die erfolgreichsten Torjäger ihrer Länder. Beide waren schon Torschützenkönige bei einem großen Turnier und beide führten ihre Farben bereits ins Endspiel einer EM-Endrunde. Die Plätze in den jeweiligen Hall-of-Fames sind schon reserviert.

Und doch brachten sie ihre Mannschaften bei der EM nicht weiter und entpuppten sich sogar als Schwachstellen. Ihre Trainer jedoch, Englands Gareth Southgate und Portugals Roberto Martínez, stellten sie immer wieder auf und schenkten ihnen ihr Vertrauen.

Kane "geht mir richtig auf die Nerven"

Die Kritik an Kane hielt sich bislang noch in Grenzen. Der 30-Jährige vom FC Bayern München verpasste das Elfmeterschießen gegen die Schweizer nach seiner Auswechslung in der Verlängerung; nach einem Sturz außerhalb des Spielfelds war es für Kane nicht mehr weitergegangen.

Ein Experte allerdings ging aus dem Sattel. Der frühere Tottenham-Profi Jamie O'Hara gab bei talkSPORT radio den Chefankläger: "Er sieht nicht fit aus, er ist faul und geht mir richtig auf die Nerven", sagte der 37-Jährige über Kane. "Ich habe echt Angst, dass wir einen Ronaldo in unserem Team haben und ihn spielen lassen müssen. Er ist ein Problem in diesem Turnier. Er ist meilenweit weg von seiner Form, er bremst das ganze Spiel."

O'Hara plädierte dafür, Kane im Halbfinale am Mittwoch gegen die Niederlande auf die Bank zu setzen, was seinen Co-Experten Jason Cundy, früher FC Chelsea, auf den Plan rief. Cundy meinte, Southgate würde in "gewaltige Schwierigkeiten" geraten, wenn er auf Kane verzichten und England ausscheiden würde.

Dabei ließ auch Cundy kein gutes Haar an Kanes Auftritt gegen die Schweiz. "Er hat nichts angeboten. Ich weiß nicht, was los ist und ob er überhaupt fit ist."

Die kritischen Experten räumten aber ein, dass es "keine richtige Antwort" gebe beim Ronaldo-Kane-Dilemma. "Das ist eine Entscheidung von enormer Tragweite", sagte Cundy über eine mögliche Degradierung Kanes, "und ich weiß nicht, ob sie die richtige ist, weil sie auch ein Statement ist. Wenn du ihn im Halbfinale draußen lässt und du kommst weiter, stellst du ihn dann im Endspiel wieder auf? Deinen Kapitän? Das ist eine knifflige Frage."

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Martínez' größter Fehler

Wer es mit Portugal hält, hätte sich vermutlich gewünscht, Nationalcoach Martínez hätte den Mut gehabt, Ronaldo im Viertelfinale gegen Frankreich aus der Startformation zu nehmen oder zumindest im Laufe der 120 Minuten durch Diogo Jota oder Goncalo Ramos zu ersetzen. Ronaldo ließ Speed und Durchsetzungsvermögen vermissen, um sich entscheidend gegen die französische Hintermannschaft in Szene zu setzen, forderte aber Ball um Ball. Wie gegen Slowenien beanspruchte er nahezu jeden Freistoß für sich, um dann nach ausgiebigem Posing direkt aufs Tor zu ballern, aber nahezu keine Gefahr zu erzeugen.

Und doch war der 39-Jährige in seinem Viertelfinale noch mehr involviert als Kane in seinem. 41 Ballaktionen hatte Ronaldo (20 erfolgreiche Pässe), nur 27 Englands Skipper (10). Und CR7 brachte von seinen drei Versuchen immerhin einen aufs Tor, bei Kane herrschte Fehlanzeige.

Zwei Tore, aber: Kane nur ein Schatten

Immerhin hat Kane bei der EM schon zweimal getroffen, während Ronaldo erstmals in seiner unvergleichlichen Laufbahn ohne persönliche Ausbeute von einem großen Turnier abreiste. Kane ist nur ein Schatten seiner selbst, was sich etwa im Pressing niederschlägt. Dieses kam gegen die Schweiz zwar durchaus verbessert daher, ist aber noch stark ausbaufähig.

Auffällig ist, dass England viel zu wenig Kapital aus der großartigen Verfassung von Rechtsaußen Bukayo Saka schlägt. Der Arsenal-Star gelangt immer wieder hinter die letzte gegnerische Kette, doch ein Abnehmer, der zwingend Kane heißen müsste, ist nur in den seltensten Fällen zu finden.

"Kane bewegt sich überhaupt nicht", echauffierte sich der frühere Torjäger Alan Shearer während des Schweiz-Spiels bei der BBC, nachdem Saka wieder mal vergeblich gewirbelt und geflankt hatte.

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Kein Exempel, nur eine Pause für Kane

"Kane bewegt sich überhaupt nicht" wäre eine gute Überschrift über die bisherigen Leistungen des Bundesliga-Torschützenkönigs bei der EM. Und England kann es sich nicht leisten, einen Mittelstürmer in dieser Verfassung durchzuschleppen.

Kane hat eine überragende Saison gespielt für die Bayern, aber mangelnde Frische und die Auswirkungen seiner Rückenverletzung, die ihn gegen Ende der Spielzeit plagte, sind deutlich spürbar.

Nach seiner Auswechslung in der Verlängerung gegen die Schweiz hat sich Kane für das Halbfinale am Mittwoch gegen die Niederlande fit gemeldet. Doch England wäre wohl gut beraten, seinen Mittelstürmer zunächst auf die Bank zu setzen. Aston-Villa-Torjäger Ollie Watkins wäre eine gute Alternative, um Virgil van Dijk und Stefan de Vrij die Hölle heiß zu machen - und etwa das Feld zu bereiten für eine späte Einwechslung Kanes.

Cundy hat davor gewarnt: Kane auf die Bank zu setzen, könnte als Statement interpretiert werden, aber das muss ja gar nicht der Fall sein. Southgate muss kein Exempel an Kane statuieren. Englands Trainer hat "nur" die Aufgabe, eine Mannschaft zusammenzustellen, die die besten Aussichten hat, die Niederlande zu besiegen und nach 2021 erneut ins EURO-Endspiel einzuziehen. Wenn das bedeutet, dem besten Torschützen der englischen Länderspielgeschichte eine dringend benötigte Pause zu geben, dann wäre es einen Versuch wert. Martínez' Umgang mit Ronaldo könnte als abschreckendes Beispiel dienen ...

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