Er dribbelte den Ball am liebsten mit dem Kopf und galt als nächster Ronaldinho. 2008 nahm Inter Mailand den damals 20-Jährigen unter Vertrag, ein Spiel für die Nerazzurri machte er nie. Mit 29 beendete er nach einem Gastspiel in der Slowakei seine Karriere.
Der Ball flog sanft auf seine Stirn. Und dann ab die Post: Die Nase gen Himmel, ein Auge auf den Ball gerichtet, der im steten Rhythmus von der Stirn nach oben fliegt, ein Auge aufs Spielfeld. Und so vorbei an allen Gegnern. Wenn der Ball in der Luft ist, kann er einem nicht vom Fuß gespitzelt werden.
Eine Spielweise wie ein Lebensstil, ein Manifest des Nonkonformismus in einem Spiel der Maschinen. Aber wenn man sich heute noch an Kerlon Moura Souza, genannt "Foquinha", der kleine Seehund, erinnert, dann liegt das eben vor allem an dieser bizarren Art, den Ball bis in den Strafraum zu tragen. Am Seehund-Trick, dem Dribbling mit dem Ball auf dem Kopf.
Als Kerlon die Fußballbühne betrat, befanden wir uns schon in der YouTube-Ära. Der Fußball wurde langsam zur Show. Schon bevor Kerlon, 1988 in Ipatinga in Brasilien geboren, als 20-Jähriger nach Europa kam, eilte ihm dank der Videos sein Ruf voraus - und brachte ihn bis zu Inter Mailand. Doch ebenso schnell wie Kerlons Stern aufging, verglühte er auch wieder, bis hin zum Karriereende mit 29.
Wie Meteore sind sie. Diese Spieler, die versprechen, die Welt aus den Angeln zu heben, aber dann von der Welt erdrückt werden. Spieler wie Freddy Adu, der mit 14 sein Debüt in der MLS feierte und nun mit 31 mal wieder einen Vertrag irgendwo in der schwedischen dritten Liga unterschrieben hat. Spieler wie Fabio Paim, der einst in der Jugend von Sporting Lissabon besser als Cristiano Ronaldo gewesen sein soll und zuletzt für die zweite Mannschaft eines portugiesischen Zweitligisten auflief.
Kerlon: Mit ihm auf dem Platz war der Zirkus in der Stadt
Oder eben Kerlon, der als nächster Ronaldinho galt, weil er auch mit dem Ball zwischen den Füßen umgehen konnte, sogar noch besser als mit dem Ball über dem Kopf. 2005 feierte der nicht einmal 1,70 Meter große Fantasista bei Cruzeiro sein Debüt. Und sofort ging die Show los. Kerlon dribbelte, Kerlon legte sich den Ball sanft auf den Kopf, Kerlon köpfelte sich am Gegner vorbei. Immer und immer wieder. Wenn der Ball auf dem Kopf eines nicht einmal 1,70 großen Spielers balanciert, kann man ihm die Kugel kaum wegnehmen. Und es sieht spektakulär aus. Wenn Kerlon auf dem Platz stand, war der Zirkus in der Stadt.
Blöd nur, dass er es am 16. September 2007 für eine gute Idee hielt, auch im Derby gegen Atletico Mineiro seinen Trick zu zeigen. Immerhin hatte er ihn geübt, seit er neun Jahre alt war, der Seehund war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. "Mein Vater hat mich dazu ermutigt. Ich konnte den Ball sehr gut halten und begann ihn auch mit meinem Kopf zu kontrollieren. Wir haben das so lange trainiert, bis der Trick ganz automatisch kam", sagte Kerlon mal.
Doch dieses Mal: Autsch. Schlechte Idee. Atleticos Außenverteidiger Dyego Coelho mochte nicht gedemütigt werden vom kleinen Seehund, er wandte die einzige wirklich effektive Waffe gegen das Dribbeln des Seehunds an: Halb mit der Schulter, halb mit dem Ellbogen senste er Kerlon um. Coelho wurde für vier Monate gesperrt, aber Kerlon war nie mehr der Gleiche. "Es war der Moment, der mein Leben verändert hat", erinnerte sich Kerlon auf Instagram.
Er galt nun auch als der Spieler, der seine Gegner demütigen wollte, koste es, was es wolle. Der lieber Zirkusstückchen aufführte als wirklich der nächste Ronaldinho zu werden. Aber "es ging mir nie darum, die Gegner zu demütigen. Für mich war es eben die Art, wie ich mich auf dem Feld fortbewegte", sagte Kerlon, der immer öfter gefoult wurde und irgendwann immer seltener, weil sein Körper nicht mehr mitspielte und er immer verletzt war.
Kerlon: Mino Raiola brachte ihn verletzt zu Inter
Schon als das YouTube-Phänomen Kerlon 2008 zum Profi in der Serie A wurde, bedurfte es einer Meisterleistung seines Agenten Mino Raiola. Wenige Monate vor der Unterschrift für Inter hatte sich Kerlon das Kreuzband gerissen. Inter Mailand hatte damals zudem zu viele Nicht-EU-Ausländer im Kader.
Und doch zahlten sie 1,3 Millionen Euro Ablöse für den maladen Mittelfeldspieler, den sie sogleich bei Chievo Verona parkten. Es war die Zeit, als Co-Eigentumsverhältnisse an Spielern in Italien gang und gäbe waren.
Kerlon bestritt für Chievo schließlich nur vier Spiele. Bei Inter brauchte er später dann ein Fernglas, um den Rasen nur zu sehen. In Jose Mourinhos Superkader war die Konkurrenz schlicht zu groß. Und dann holten den Jungprofi auch schnell Schicksalsschläge ein. 2009 der nächste Kreuzbandriss, 2010 war der Knöchel kaputt.
Inter verlieh ihn zu Ajax Amsterdam, wo er nur für die zweite Mannschaft spielen durfte, aber immerhin mit Luis Suarez und Christian Eriksen trainierte. Im Januar 2011 ging es für den kleinen Seehund zurück nach Brasilien, Inter lieh ihn an Parana aus. Von den Sternen zurück auf dem harten Boden der Realität.
Aber es wird immer nur noch schlimmer: Inter löste den Vertrag auf, Kerlon startete seine persönliche Weltreise, die ihn nach Brasilien, Japan, in die USA, nach Malta und erneut nach Brasilien brachte. Zuletzt absolvierte er 2016/2017 vier Spiele in der Slowakei für Spartak Trnava. Dann, mit nur 29 Jahren, wurde Foquinha, der der nächste Ronaldinho werden sollte, offiziell zum Ex-Profi.
Kerlon: Sechs Knie- und zwei Knöchel-OPs
"Ich habe Momente großer Trauer erlebt, mit so vielen Verletzungen und viel Misstrauen" - erklärte er, als er seine Entscheidung mitteilte - "ich habe gekämpft, ich habe es versucht. Obwohl ich sechs Knie- und zwei Knöcheloperationen durchlaufen musste, habe ich immer versucht, das zu tun, was mir am besten gefällt: Fußball zu spielen."
Auf seinen Seehund-Trick ist er bis zuletzt stolz: "Mein Vater und ich haben etwas Einzigartiges geschaffen. Die Verletzungen haben mich besiegt, aber ich bin glücklich, weil ich die die Momente erleben durfte, die einem nur der Fußball bieten kann."
Heute lebt der kleine Seehund in den USA, arbeitet als Spielerberater und als Ausbilder an seiner eigenen Fußballschule. Im Wappen der "FK Brazilian Soccer"-Akademie: Ein Seehund mit einem Ball auf der Nase. Was sonst?
Kerlons Karriere-Stationen
Jahre | Klub | Spiele (Tore) |
2005 - 2008 | Cruzeiro Belo Horizonte | 42 (9) |
2008 - 2009 | Chievo Verona | 4 (0) |
2009 - 2012 | Inter Mailand | 0 |
2009/2010 | Ajax Amsterdam (Leihe) | 0 |
2011 | Parana Clube (Leihe) | 3 |
2012 | Nacional (Leihe) | 1 |
2012 - 2014 | Fujieda MYFC (Japan) | 22 (9) |
2015 - 2016 | Sliema Wanderers (Malta) | 1 (0) |
2016 | Vila Nova AC (Brasilien) | 8 (2) |
2017 | Spartak Trnava (Slowakei) | 4 (0) |