Fußball-Kolumne: Welchen Anteil Guardiola an Ancelottis Aus bei Bayern hatte

Martin Volkmar
06. Mai 202215:28
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Carlo Ancelotti war nach seinem Aus beim FC Bayern schon abgeschrieben und trainierte in Everton biederes Mittelmaß, ehe ihm Real Madrid noch mal eine Chance gab. Wie der Italiener sie überragend nutzte - und warum ihm das in München nicht gelang. Die Fußball-Kolumne.

Nach dem spektakulären 3:4 von Real Madrid im Hinspiel bei Manchester City ging ein Cartoon-Video von GOAL auf TikTok weltweit viral. Dort sieht man zunächst Pep Guardiola, der aufgedreht ein ganzes Taktikboard vollschreibt (inklusive Einsteins Formel der Relativitätstheorie) und auf seine überforderten Spieler einredet, die sich wie Schuljungen Notizen machen.

Dann folgt der Schnitt auf den völlig relaxten Carlo Ancelotti, der mit hochgezogener Augenbraue ebenfalls am Bord steht und dort nur eine Nachricht ans Team eingetragen hat: "Spielt den Ball zu Benzema."

Das Video wurde millionenfach geteilt, weil es das spektakuläre Halbfinale zwischen Real und City schon vor dem dramatischen Rückspiel am Mittwoch auf den Punkt brachte: Hier der verkopfte Guardiola, der seine Profis mit Vorgaben überfrachtet, so dass sie in den entscheidenden Momenten nicht mehr weiter wissen, das Falsche tun oder sich nicht mehr auf ihren fußballerischen Instinkt verlassen.

Und dort als leuchtendes Gegenbeispiel die Trainer-Legende Ancelotti, der seinen Akteuren vor allem Vertrauen gibt sowie Selbstbewusstsein einimpft und ansonsten einfach spielen lässt. Ergebnis ist dann ein eigentlich als komplett aus der Zeit gefallener Helden-Fußball, in dem wie vor 50 Jahren dem besten Spieler der Mannschaft der Ball gegeben wird, um das Spiel zu gewinnen.

Was bei Karim Benzema perfekt funktioniert hat. Mit 34 Jahren steht der Franzose auf dem Höhepunkt seiner Karriere und ist aktuell der große Favorit auf den Weltfußballer-Titel. In der Champions League hat der Stürmer schon vor dem Endspiel am 28. Mai in Paris gegen den FC Liverpool 15 Tore erzielt, die entscheidenden dabei in den K.o-Spielen.

In allen drei Runden war Real nicht favorisiert und sah beinahe in jeder Partie wie der sichere Verlierer aus. Doch mit einem Hattrick im Achtelfinale gegen PSG, vier Toren im Viertelfinale gegen Chelsea sowie drei weiteren Treffern nun gegen City, darunter dem entscheidenden Elfmeter zum 3:1 in der Verlängerung des sensationellen Rückspiels, sorgte Benzema fast im Alleingang für den umjubelten Finaleinzug.

Carlo Ancelotti: Einziger Meistercoach in allen Top-Ligen

"Wir waren in dieser K.o.-Phase gefühlt schon 26-mal raus und haben uns 26-mal zurückgekämpft", sagte Toni Kroos danach und bedankte sich explizit bei Ancelotti als dem Vater des Erfolges. Exemplarisch dafür standen die Diskussionen mit seinen Führungsspielern um die bereits ausgewechselten Kroos und Benzema an der Seitenlinie, mit denen er dann gemeinsam entschied, welche frischen Kräfte Real ins Spiel brachte.

Was anderen Trainern als Führungsschwäche und Inkompetenz ausgelegt worden wäre, wurde beim Italiener als Beweis für seine enge Teamführung gelobt - zumal alle Wechsel, etwa der des kopfballstarken Ex-Frankfurters Jesus Vallejo, aufgingen. "Für König Carlo ist dies ein goldenes Jahr, alles gelingt ihm", schrieb die Gazzetta dello Sport danach. Und der Corriere dello Sport stellte fest: "Ancelotti ist eine lebende Legende."

Schließlich hatte der ehemalige Nationalspieler, der als erster Coach zum fünften Mal das Endspiel der Königsklasse erreichte (bislang zwei Siege mit Milan und einer mit Real bei seiner ersten Station 2014), schon vorher Geschichte geschrieben: Durch den vorzeitigen Gewinn der Meisterschaft ist Ancelotti der einzige Chefcoach, der in allen Top-5-Ligen jeweils den Titel holte, mit Real, Bayern, PSG, Chelsea und Milan.

Entsprechend groß waren die Lobeshymnen seiner Spieler für "Carletto". Als "überragend" beschrieb ihn Kroos knapp. "Er ist wie ein Vater, der auch streng sein kann, aber herzlich, scherzend, freundlich ist", erklärte Torwart Thibaut Courtois schon am Samstag, als das Team ihren Mister nach dem 4:0 gegen Espanyol Barcelona in die Luft warf und später Bilder von den Feierlichkeiten postete, auf denen Ancelotti mit Zigarre und Sonnenbrille mittendrin war.

Ancelotti: Nachmittags Training, dann mit dem Boot nach Capri zum Essen

Dabei schien der 62-Jährige nach seinem Rauswurf beim FC Bayern im September 2017 bereits auf dem Abstellgleis. Zwar führte er den SSC Neapel 2019 zur Vizemeisterschaft, wurde aber schon in der folgenden Saison nach wenigen Monaten wegen Erfolglosigkeit entlassen - vermutlich auch, weil er es nicht eben mit der Arbeit übertrieb. "Ich trainierte nachmittags und fuhr dann mit dem Boot nach Capri, um zu Abend zu essen", erzählte er offen.

Noch schlechter lief es danach beim FC Everton, Platz 12 in der ersten Saison folgte Rang zehn in der vergangenen Spielzeit. Entsprechend groß war die Skepsis, als Real-Präsident Florentino Perez wohl auch aus Mangel an Alternativen Ancelotti im Sommer zurück nach Madrid holte - zumal es bei seinem ersten Abschied im Mai 2015 viele Vorwürfe über die fehlende Fitness des Teams und zu lasches Trainingspensum gegeben hatte. Gleichzeitig plädierte die Mannschaft um Cristiano Ronaldo damals für einen Verbleib des wie jetzt auch wieder absolut beliebten Spielerverstehers an der Seitenlinie.

Umso verwunderlicher wirkt es, dass sich Ancelotti ausgerechnet beim FC Bayern nicht dauerhaft durchsetzen konnte, galt doch gerade der deutsche Rekordmeister jahrzehntelang als "Spielerverein", in dem die Trainer im Normalfall vor allem darauf zu achten hatten, dass die Stimmung gut war und die Profis ansonsten irgendwie den Ball ins Tor brachten. So genannter Helden- oder auch Ottmar-Hitzfeld- bzw. Franz-Beckenbauer-Fußball ("Geht's raus und spuits Fußball").

Ancelottis Scheitern in München lag vor allem an zwei Gründen: An seiner eigenen eher mediterranen Einstellung zum Job und an seinem Vorgänger Pep Guardiola. Denn ähnlich wie in dem anfangs beschriebenen Cartoon trimmte der Katalane die Bayern-Profis drei Jahre lang auf höchstem Niveau und achtete in den anfordernden Trainingseinheiten auf jedes Detail.

Umso größer war der Kontrast, als Ancelotti im Sommer 2016 an der Säbener Straße übernahm und alles deutlich entspannter anging. "Er ist ein unheimlich angenehmer Zeitgenosse, aber eben auch Genussmensch und obendrein eine faule Socke", erinnert sich einer, der damals dabei war. Am Ende beschwerten sich die Führungsspieler beim Bayern-Vorstand über das unambitionierte Training und die geringe Intensität, zahlreiche Spieler legten daher sogar freiwillige Sonderschichten ein.

"Fitness-Raucher" Mauri bei Bayern im Zentrum der Kritik

In der Kritik stand vor allem Ancelottis italienisches Trainerteam, das für ihn wie eine Familie ist. Ganz besonders aber sein langjähriger Fitnesscoach Giovanni Mauri, der in der Mannschaft schnell den Beinamen "Fitness-Raucher" erhielt. Denn der damals 59-Jährige qualmte an jeder Ecke, auch im Kabinenbereich. Und als der Verein das untersagte, griff der schlaue Mauri grinsend zur e-Zigarette.

"Das geht ja auch nicht: ein Fitnesstrainer, der auf dem Balkon raucht oder gar auf dem Platz. Wir machen hier Sport, wir müssen was vorleben. Außerdem hat die Kabine gestunken", berichtete Sportchef Hasan Salihamidzic später der Süddeutschen Zeitung.

Ancelotti aber verteidigte seinen Kumpel, den er mehrfach als "besten Fitnesstrainer der Welt" bezeichnete, und schnorrte sich selbst regelmäßig Zigaretten bei ihm. Auf der Asienreise der Bayern vor der Saison 2017/18 verweigerte Ancelotti Vereinsmitarbeitern sogar die Nutzung eines Meetingraums, weil er diesen als "Raucherraum" für Mauri und sich haben wollte.

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Ancelotti: Verhältnis zu Bayern-Topspielern am Ende zerrüttet

So kam es schon wenige Monate nach dem Gewinn der Meisterschaft, nach der Ancelotti auf der Titelfeier inbrünstig eine italienische Gesangseinlage zum besten gegeben hatte, zur überraschend schnellen Trennung. Weil die Mannschaft langweiligen und uninspirierten Fußball bot, die Ergebnisse ausblieben und vor allem das Verhältnis zu den wichtigsten Profis offensichtlich zerrüttet war.

Vor seinem letzten Spiel, dem 0:3 in der Champions League bei Paris St. Germain Ende September, gab Ancelotti die komplett umgekrempelte Mannschaftsaufstellung bekannt, ohne ein Wort zu sagen. Er hängte lediglich das Blatt mit der Startelf an die Wand des Besprechungsraums und ging.

So erfuhren die Führungsspieler Mats Hummels, Jerome Boateng, Arjen Robben und Franck Ribery sowie Kingsley Coman, dass sie nicht von Beginn an spielen würden. Danach was das Tischtuch endgültig zerschnitten, zumal auch der zur Halbzeit ausgewechselte Thomas Müller anhaltende Probleme mit dem Trainer gehabt haben soll.

"So ging es nicht weiter", sagte mir damals am Tag danach am Pariser Flughafen ein Spielerberater und ehemaliger Profi: "Der Verein musste handeln. Man hatte den Eindruck, als wolle Ancelotti seinen Rauswurf mit der Aufstellung provozieren." Noch in der Nacht kam es zum Krisentreffen von Vorstand und Präsidium, bei der auch Ancelottis engster Vertrauter Karl-Heinz Rummenigge schließlich dem Drängen von Uli Hoeneß nach einem Neuanfang nachgab.

"Mit den Assistenten von Ancelotti hat es hinten und vorne nicht gepasst. Mit Carlo selber ja gar nicht, da war alles okay. Aber da war ja jeden Tag irgendeine Streiterei zwischen den Physios, den Medizinern und den Trainern von Ancelotti. Und in so einem Umfeld kannst du nicht vernünftig arbeiten", erklärte der damalige Aufsichtsratsvorsitzende und Präsident Hoeneß später.

Hoeneß nach Ancelotti-Rauswurf: "Feind im Bett ist der gefährlichste"

Doch auch den Chefcoach entließ er nicht aus der Verantwortung für die aus seiner Sicht desolate Lage. "Carlo hat auf einen Schlag fünf Spieler gegen sich aufgebracht", berichtete Hoeneß: "Ich habe in meinem Leben einen Spruch kennengelernt: Der Feind in deinem Bett ist der gefährlichste. Deswegen mussten wir handeln. Carlo hätte das nicht durchgehalten."

Stattdessen holte der FCB Vereinslegende Jupp Heynckes aus dem Ruhestand zurück und gewann erneut die Meisterschaft. Ancelotti dagegen tauchte zunächst in der Heimat seiner kanadischen Frau ab, genoss dann in Neapel vor allem die Dolce Vita und coachte Everton danach im Niemandsland der Premier League.

Wenig sprach dafür, dass er ein Jahr später von allen Seiten als bester Trainer der Welt bejubelt werden würde, während die Bayern unsicher sind, ob sie international künftig noch mithalten können werden.

Ein Triumph im Champions-League-Finale in Paris würde für Ancelotti gleich in mehrere Hinsicht einen Bogen schließen und vermutlich auch für eine gewisse Genugtuung sorgen. Weil er hier als Trainer tätig war, vor allem aber, weil er an der Seine mit den Bayern eine seiner größten Niederlagen erlebte, nach der seine Karriere auf höchstem Niveau schon beendet schien.

Deshalb ist dieses Comeback fast ebenso erstaunlich wie das von Real Madrid in dieser Saison. Wobei, einen Grund gibt es vielleicht: "Fitness-Raucher" Giovanni Mauri gehört seit dem Aus bei Bayern im Gegensatz zu den anderen Landsleuten nicht mehr zu Ancelottis Trainerteam.