Dank Mauricio Pochettino sind die Tottenham Hotspur in dieser Saison ganz nah am ersten Ligatitel seit über 50 Jahren. Dabei besticht das Team mit einer klugen Personalpolitik und einer durchdachten Taktik. Am Samstag treffen die Spurs im North-London-Derby auf den FC Arsenal (ab 13.45 Uhr im LIVETICKER).
Fast regungslos steht Mauricio Pochettino während eines Spiels an der Seitenlinie. Meist im schwarzen Mantel gekleidet, mit verschränkten Armen und tiefgezogenen Augenbrauen. Dabei scheint es, als würde der Argentinier durchweg konzentriert in die Ferne blicken. Nur ab und zu fährt er einen Arm aus oder setzt zu einem gellenden Pfiff an, um seine Spieler auf Korrekturen aufmerksam zu machen. Zusätzlich fällt dann gerne ein forderndes ''Vamos! Vamos!'. In der Regel zieht er sich nach solchen 'Ausbrüchen' umgehend auf die Bank zurück und ruht ein paar Minuten.
So beherrscht der aktuelle Tottenham-Trainer nach außen wirken mag - innerlich brennt er über 90 Minuten lichterloh. Das belegen alte Aufnahmen von Trainingseinheiten in Southampton, bei denen der Coach zuweilen in die Knie sinkt, wenn ihm eine Aktion missfällt. Mit vollem Körpereinsatz nimmt er Anteil, hadert, schimpft. Nur am Spieltag sucht er konsequent seine innere Mitte.
Wildes System und kontrolliertes Chaos
Seine Mannschaft spielt aber wie sich Pocchetino im Training gibt. Seit inzwischen eineinhalb Jahren ist er für die Spurs verantwortlich und mittlerweile sitzt seine Spielidee wie ein maßgeschneiderter Anzug. Und dieser trägt die Marke Vollgas: Ständig fliegt abgegrätschter Rasen durch die Luft, pausenlos wird attackiert. Der Ball bewegt sich im höchsten Tempo und die Spieler sind immer auf der Suche nach dem nächsten Abschluss.
Auf den ersten Blick ein wildes Durcheinander, doch bei genauerer Betrachtung erkennt man ein kontrolliertes Chaos, ein striktes System; ein erfolgreiches noch dazu.
Denn mitten im riesigen Spektakel Premier League, bei dem zahlreiche Superstars über den Rasen schreiten, Investoren mit Millionen um sich schmeißen und TV-Verträge den Superlativen keine Grenzen setzen, bekämpft Pochettino mit seiner Elf ein Vorurteil, das schon seit Jahren der englischen Liga anhaftet. Dass die Taktiktafel nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Dass Namen schwerer wiegen als tatsächliche Qualität.
Wenig Geld, aber Kane
Dass Finesse und intelligente Einkaufspolitik aber auch in England über Erfolg oder Misserfolg bestimmen können, zeigt sich in der starken Saison der Spurs. Mit dem Überraschungsteam Leicester City wirbelt Tottenham die obere Tabellenregion gewaltig durch und hat dieses Jahr nach langer Zeit eine realistische Chance, den ersten Ligatitel seit 1961 abzuräumen. Platz zwei, 54 Punkte, die zweitmeisten Treffer erzielt, die wenigsten gefangen - und im Europa-League-Achtelfinale wartet Borussia Dortmund.
Die richtig großen Namen findet man allerdings bei der spendablen Konkurrenz. Vor dieser Saison nahmen die Spurs vergleichsweise wenig Geld in die Hand und erwirtschafteten sogar ein Transferplus von rund 16 Millionen Euro. Ein wichtiger Faktor war der Verbleib von Harry Kane, der in der vergangenen Spielzeit bereits den Zielspieler und Leitwolf mimte, jetzt aber noch konsequenter in Pocchettinos System eingebunden ist.
"Für kein Geld der Welt"
Neben seiner überdurchschnittlichen Spielintelligenz bringt Kane besondere Torjägerqualitäten mit. Auf 27 Ligatore kam er im Kalenderjahr 2015 - ein neuer Bestwert bei den Spurs. Aktuell steht er bei 16 Saisontreffern. Die immer wieder aufkeimenden Gerüchte um einen Wechsel erstickte Pochettino erst im Januar erneut mit Nachdruck. "Für kein Geld der Welt" werde der achtfache englische Nationalspieler verkauft.
Doch es ist nicht alleine der Stürmerstar, der für den Höhenflug der Lilywhites verantwortlich ist. Denn in dieser Saison spuckte die herausragende Scouting- und Nachwuchsabteilung des Klubs noch weitere talentierte Jungspieler aus - mitten ins Rampenlicht der Premier League.
Alli und Dier sind die Zukunft
Da wäre zum einen Dele Alli. Kein Pass ist dem 19-Jährigen zu riskant, kein Zuspiel zu aussichtslos. Mutig öffnet Alli die Spielsituationen, verliert auch unter Druck nicht die Übersicht. Mit seinem feinen Auge ist er vor allem für die Organisation der Offensive zuständig. Sieben Vorlagen brachte der pfeilschnelle Mittelfeldspieler bereits an den Mann.
Eine ähnliche Rolle kommt Eric Dier zu, der ebenfalls für den Rhythmus der Spurs zuständig ist. Als Gegenpart zu Alli kümmert sich Dier um die defensive Ordnung. Auf seiner neuen Position ist der 22-Jährige für die Balance im Spurs-Spiel verantwortlich und dirigiert vor allem das Verschieben gegen den Ball.
Die Versetzung Diers aus der Verteidigung ins Mittelfeld war so etwas wie das Meisterstück Pochettinos. Er sah sich zu dieser Maßnahme gezwungen, weil die Londoner im Sommer keinen zentralen Mittelfeldspieler verpflichten konnten, der Coach schnitzte sich kurzerhand seinen eigenen.
Dier erlernte das Fußballspielen zunächst in Portugal bei Sporting, da seine Mutter jahrelang in Lissabon arbeitete. Dort wurde er nicht nur taktisch hervorragend ausgebildet, besonders sein technisches Vermögen sticht bei einer Körpergröße von 1,88 Meter hervor. Deshalb verlief die Positionsumstellung nahezu reibungslos.
Doch die zwei Youngster, die ob ihres Potenzials auch bei den Three Lions für glasige Augen sorgen, sind in guter Gesellschaft. Insgesamt neun Engländer stehen im Spurs-Kader und keiner von ihnen ist älter als 25 Jahre. Fünf Spieler stammen aus der eigenen Jugend.
Die Identifikation mit dem Verein ist hoch: "Vielleicht können wir eine ähnliche Ära begründen wie Manchester United mit der Meisterschaft 1992. Das Team hatte eine ähnliche Zusammenstellung", befeuert Kane die Titelambitionen Tottenhams, das mit der jüngsten Startelf der Liga (24 Jahre, 296 Tage) durch die Premier-League-Stadien marschiert.
Pochettino der Lehrer
Dabei können sich die Spurs voll und ganz auf die Lehrerqualitäten von Pochettino verlassen. Er gilt als absoluter Fachmann, wenn es darum geht, Spieler auf ein neues Level zu heben. Alleine von den letzten vierzehn Spielern, die im englischen Nationalteam ihr Debüt gaben, gingen neun durch die Hände des Argentiniers bei Southampton oder Tottenham.
"Er verlangt unglaublich viel, er treibt dich soweit, dass es Tage gibt, an denen du ihn hasst. Doch am Spieltag bist du ihm einfach nur dankbar, weil es funktioniert", blickt Pablo Osvaldo auf seine Zeit mit seinem Landsmann zurück, der ihm die erfolgreichsten Jahre seiner Karriere bescherte.
Lernen will gelernt sein
Auch Ryan Mason ist nach einer langjährigen Ausleihtour durch die Tiefen der englischen Profiligen angekommen bei seinem Jugendverein. Mason wurde immer wieder für seine schlechte Defensive kritisiert, hat aber auf diesem Gebiet mittlerweile große Fortschritte erzielt. Er ist ein Beispiel von vielen. Andere Spieler wie der vormalige Kapitän Younes Kaboul schienen für großartige Verbesserungen nicht mehr bereit und wurden irgendwann vor die Tür gesetzt.
Der Trainer war in diesem Zusammenhang auch als Psychologe gefragt: "Als ich in das erste Trainingslager kam, musste ich vor allem die Mentalität hier verändern. Viele Spieler schienen schon zufrieden damit, dass sie bei Tottenham spielen. Manche Spieler verstanden nicht, dass sie nicht nur verpflichtet wurden, um zu spielen, sondern auch um zu trainieren. Doch du musst den Kampf jeden Tag annehmen und arbeiten, hart arbeiten", erklärte er gegenüber dem Guardian.
Viel Arbeit, hohe Belastung
Diese Haltung ist elementar für das Spiel unter Pochettino. Denn aus einem variablen 4-2-3-1 versucht die Elf der Spurs das Spiel bei fremdem Ballbesitz so weit wie möglich vom eigenen Tor fernzuhalten und forciert gleichzeitig ein überfallartiges Umschaltspiel, das noch etwas aggressiver ist als das Schema, das Jürgen Klopp spielen lässt.
Nahezu über die gesamte Partie drücken die Spurs mit einer Viererkette in vorderster Front gegen den Ball, um in Billard-Manier die Kugel wieder in die eigenen Reihen zu spülen. Das gesamte Spielsystem setzt enorme Laufbereitschaft voraus. Die Crux für ein Premier-League-Team liegt allerdings in der Belastung, der man über die Saison hinweg ausgesetzt ist.
Ein Herz für Taktikfetischisten
Anders als in der Bundesliga fehlen die nötigen Erholungspausen, um diese Herangehensweise über die komplette Spielzeit konsequent durchziehen zu können. "Die Zahl der Spiele ist enorm", skizzierte auch Klopp kürzlich den seiner Meinung nach größten Unterschied.
Deshalb verlangen die Spurs bei ihren Spielern nach einer Fähigkeit, die im heutigen Fußball stark in Mode ist und das Herz von Taktikfetischisten vor Freude höher schlagen lässt: Polyvalenz. Also die Fähigkeit, gleich mehrere Position ausfüllen zu können. Das erlaubt es Pochettino, seine Aufstellungen ohne großen Qualitätsverlust durchzuwechseln und verschafft seinen Jungs immer wieder Pausen.
Abgesehen von Harry Kane hat jeder Feldspieler im Kader diese Saison mindestens zwei verschiedene Positionen bekleidet. Alleine in der Premier League setzte Pochettino bereits über 15 verschiedene Startaufstellungen ein, auch mit einer Dreierkette wurde bereits gespielt, um für Verschnaufspausen der etatmäßigen Außenverteidiger zu sorgen.
Wie die Aufstellung gegen den Stadtrivalen Arsenal aussieht, wollte Pochettino nicht verraten. Vielleicht fährt der Argentinier nach der dritten Saisonniederlage im kleinen Derby gegen West Ham erneut mit einer Überraschung auf, nachdem er die Hammers erfolglos mit einem 4-3-3 plus falscher Neun überrumpeln wollte.
Doch auch von Rückschlägen lassen sich die Spurs, die in England seit Jahren unter einem Loserimage leiden, dank Pochettino nicht mehr aus der Bahn werfen: "Wir haben die Mentalität komplett umgekrempelt. Wir sind heiß und scheren uns nicht um das Gerede um uns herum. Du musst jederzeit wach sein, immer den Kopf einschalten, nur so erreichst du deine Ziele."
Die Tottenham Hotspur im Überblick