Vor einem Jahr gab es den ersten Anruf. Als der an der Cote d'Azur in der Geschäftsstelle der Association Sportive de Monaco entgegengenommen wurde, war am anderen Ende der Leitung: der FC Bayern München. Man wolle sich nur kurz erkundigen. Es gehe um einen gewissen Thomas Lemar.
Der L'Equipe war diese Meldung im vergangenen Winter genau einen Absatz wert: Bayern sei interessiert, im Fürstentum könne man sich nicht vorstellen, Lemar zu verkaufen. Der war ja ohnehin erst im Sommer gekommen, ausgestattet mit einem Vertrag über fünf Jahre.
Punkt.
Zwölf Monate sind seither vergangen. Und Lemar ist kein geheimes Talent mehr, kein der breiten Masse Unbekannter. Er ist vielmehr eine feste Säule - manche behaupten sogar das Kronjuwel - der aktuell besten Angriffsformation im europäischen Fußball. Neue Gerüchte lassen die Fans mittlerweile aufmerksam zuhören. Denn viele wollen den Zauberjungen aus Baie-Mahault.
"Man sah nur ihn"
Dort beginnt die Geschichte von Thomas Lemar. Auf Guadeloupe, einem französischen Überseedepartement, inmitten der Inseln über dem Winde in der Karibik. Die Strände sind kitschig weiß, das Meer kitschig blau, Kreuzfahrtschiff um Kreuzfahrtschiff steuert das Eiland an.
In der Hafenstadt Pointe-a-Pitre - abgesehen von Lilian Thuram ist diese nicht gerade als Brutstätte für Fußballikonen verschrien - spielte der junge Lemar beim lokalen Klub Solidarite Scolaire. Schon immer kleiner als alle anderen, schon immer besser als alle anderen, lautete das Motto. Lemar spielte sogar so viel besser, dass es nur eines brauchte, um sein Leben von Grund auf zu verändern: Philippe Tranchant.
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Tranchant war Trainer der Reservemannschaft von SM Caen. Und ihm war schnell klar, was er bei diesem Probetraining im Jahr 2008 vor sich hatte; was zu tun war mit diesem 13-Jährigen. "Er war einen Kopf kleiner als der Rest, wie eine kleine Garnele", waren die Worte des Trainers. "Man sah aber nur ihn, mit seiner außergewöhnlichen Ballbehandlung."
Zehn Klubs zerrten am Knirps, doch Tranchant schaffte es, den Sohn eines Zollbeamten und einer Arzthelferin von Caen zu überzeugen. Im Sommer 2010 wagte Lemar den Schritt auf das französische Festland: Ärmelkanal und Normandie statt Karibik. Ein Jahr darauf, Lemar war gerade 16 Jahre alt geworden, spielte er regelmäßig in der zweiten Mannschaft von Caen. In der 4. Liga.
Die falsche Idee vom Fußball
Lemars Anfänge in Frankreich waren keine Supernova, es war keines dieser Fußballmärchen, in denen Teenager viel zu früh zu vermeintlichen Weltstars werden. Sein emsiger Förderer Tranchant wusste jedoch genau, was zu tun war: Grundsteine legen. Er beorderte Lemar aus dem zentralen Mittelfeld nach vorne, auf die Zehn, auf die Flügel. "Er ist ein Kreativer", sagte Tranchant. "Aber er hat nicht die athletischen Maße, um den Balleroberer zu geben."
Was er dafür konnte: laufen. Nein, rasen. Explodieren, alle hinter sich lassen und dabei den Ball selbstverständlich an seinem linken Fuß behalten.
Am wenigsten wunderte es deswegen Tranchant selbst, dass er Lemar schon bald Richtung erste Mannschaft ziehen lassen musste. Und umso enttäuschter war er, als dieser 1,70 Meter kleine Dribbler, der so schnell und so gut war, unter Trainer Patrice Garande unbeachtet blieb. "Ich dachte", erinnerte sich Tranchant, "dass Thomas außergewöhnlich war. Alle im Klub dachten das. Aber Garande behauptete, er würde nicht zu seiner Idee vom Fußball passen."
In seiner Debütsaison stieg Caen in die Ligue 1 auf, Lemar bekam eine Hand voll Joker-Einsätze. In der Folgesaison: sechsmal Startelf, neunzehnmal eingewechselt. Zufrieden machte das niemanden. Zur Saison 2015/16 wurde Lemar verkauft. Die AS Monaco zahlte vier Millionen Euro.
Gut spielen, nicht oft spielen
Im Fürstentum landete Lemar bei Leonardo Jardim, der all das im Angreifer gesehen hatte, was schon Tranchants Augen in Pointe-a-Pitre leuchten ließen. War er fit, spielte Lemar. Überall. Jardim vetraute Lemar, vor allem wusste er, wie er seinen Schützling anfassen muss: "Mein Ziel mit Lemar ist es, dass er gut spielt und nicht, dass er oft spielt."
Er erkannte im Gegensatz zu Garande, was er an dieser unglaublichen Ballkontrolle bei Höchstgeschwindigkeiten hat, an den präzisen Distanzschüssen und Freistößen. Bei seiner ersten Rückkehr nach Caen war der einst Verschmähte längst Stammspieler bei einem Champions-League-Klub. Und traf mit einem Freistoß zum 1:0.
Ein fußballerischer Denkzettel für seinen Ex-Klub, auf einen verbalen verzichtete er. Lemar redet sowieso ungerne, schon gar nicht in der Öffentlichkeit oder der Presse. Was nicht bedeutet, dass Lemar nicht genau weiß, was seine Vorstellungen des Fußballs und des eigenen Spiels sind: "Ich versuche, Zweikämpfen aus dem Weg zu gehen und mich so gut wie möglich auf das Passspiel und meine Bewegungen zu konzentrieren."
Der 21-Jährige will den Ball, immer. Und er will ihn vor allem im richtigen Moment wieder abgeben. Es ist nicht die Gier nach Toren und Spektakel, nach Knoten in den Beinen der Verteidiger, die ihn antreiben. "Der Coach sagt mir oft, ich solle mehr Chancen nutzen, aber das ist nicht meine größte Qualität. Ich ziehe es vor, andere in Szene zu setzen." Dieses Desinteresse am Rampenlicht, dieser Wille zum Teamplay sind die Gründe, warum Lemar in seiner zweiten Saison im Fürstentum so unersetzlich ist.
64 Tore hat Monaco diese Saison schon geschossen, in nur 21 Spielen. Sieben davon Lemar, nur Altstar Falcao hat mehr. Vier weitere bereitete er vor, nur Kylian Mbappe und Bernardo Silva haben mehr aufgelegt.
Carlo, Diego, Pep?
"Er weiß, was er will. Und er macht alles dafür, dass es auch klappt", sagte Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps, als er Lemar im vergangenen November für den verletzten Kingsley Coman nachnominierte und ihm zu seinem Debüt in der Equipe Tricolore verhalf. Nicht erst seit diesen zwölf Minuten im blauen Dress gegen die Elfenbeinküste taucht Lemars Name immer öfter in den Zeitungen auf. Lobeshymnen werden gesungen, baldige Weltklasse prophezeit, Wechsel herbeigeschrieben.
"Über diese Dinge denke ich nicht nach, ich konzentriere mich auf meinen Fußball beim AS Monaco", sagt Lemar dann im obligatorischen Fußballersprech, und ergänzt genauso diplomatisch: "Wenn sich andere Möglichkeiten auftun, wie zum Beispiel bei der Nationalmannschaft, bin ich glücklich darüber und nehme das gerne mit."
Wie es wirklich in ihm aussieht, darüber würde Lemar wohl sowieso nicht sprechen. Die L'Equipe berichtete Anfang des Jahres erneut, dass man in München immer noch mit wachen Augen ins Fürstentum blickt. Auch Atletico Madrid soll sich bereits auf den Abgang von Antoine Griezmann vorbereiten und mit Lemar den Nachfolger auserkoren haben, Pep Guardiola soll schon zu Bayern-Zeiten ein Bewunderer gewesen sein. Der Preis der vier Millionen Euro, den Monaco damals nach Caen gezahlt hatte dürfte sich bei einem Weiterverkauf mehr als verzehnfachen.
"Das Problem mit solch talentierten Spielern ist es, dass sie sich nicht von ihrem Umfeld und den Leuten um sie herum zu sehr beeinflussen lassen", mahnte Tranchant einst. Doch wo andere Jungstars ihren Kanälen in den sozialen Medien genauso viel Bedeutung beimessen wie ihrem Schaffen auf dem Rasen, sticht Lemar wieder heraus: Der 21-Jährige hat keinen offiziellen Facebook-Account, ist nicht bei Instagram, teilt sich nicht auf Twitter mit.
Tranchant war sich damals schon sicher: "Ein gutes Umfeld, Spieler, die sich gut mit ihm ergänzen und ein passender Spielstil - dann kann er eine Kanone werden."
Thomas Lemar im Steckbrief