Im ersten Teil des Interviews sprach Draxler über seine fußballerischen Anfänge, seinen strengen Vater und den Geburtstag seines Onkels, auf dem er sich anhören musste, was für ein Arschloch er sei.
Im zweiten Teil geht es um den gescheiterten Transfer zu Juventus Turin, seinen Wechsel von Schalke 04 zum VfL Wolfsburg und seine Situation bei Paris Saint-Germain.
Dabei berichtet der 26-Jährige von einer Zwickmühle, einem Krisengespräch mit der ehemaligen VW-Chef-Etage und Ratschlägen von Manuel Neuer.
Julian, Sie waren bereits mit 19 Jahren das Gesicht von Schalke 04. War die damit verbundene Last zu groß?
Draxler: In erster Linie war ich damals unglaublich stolz. Die Erfahrungen, die ich damals gesammelt und die Liebe, die mir die Leute entgegengebracht haben, werde ich in meinem Leben nie vergessen. Schalke ist nach wie vor mein Lieblingsverein und wird es auch immer bleiben. Wenn ich mir samstags die Ergebnisse anderer Teams angucke, schaue ich zuerst, wie Schalke gespielt hat. Und trotzdem musste ich den Verein in meiner damaligen Situation meiner Meinung nach verlassen, um meine Karriere voranzutreiben. Irgendwann kam ich an einen Punkt, an dem ich mich nicht mehr nur als Fan, sondern auch als Sportler mit ambitionierten Zielen gesehen habe. Für mich war das eine Zwickmühle, weil ich einerseits meine sportliche Karriere vorantreiben, aber gleichzeitig niemanden enttäuschen wollte. Das ging aber nicht - und irgendwann musste ich eine Entscheidung treffen. Die sah letztlich so aus, dass ich meine sportlichen Ziele vorangetrieben habe. Ich wusste, dass ich damit viele Menschen verletze. Wie der Abschied verlaufen ist, war leider unglücklich. Da habe ich Fehler gemacht.
Inwiefern?
Draxler: Ich hätte meine Sicht darstellen und meine Entscheidung besser erklären müssen. Damals hatte ich aber das Gefühl, dass ohnehin niemand meine Sicht hören will. Deswegen habe ich mich dafür entschieden, nicht so viel über meinen Abschied zu reden. Das würde ich heute auf jeden Fall anders machen. Die Art und Weise, wie ich mich nach so vielen Jahren bei Schalke verabschiedet habe, war mehr als unglücklich und ich verstehe jeden, der sagt: Das gehört sich nicht. Wenn man diese Entscheidung trifft, muss man zumindest versuchen, sie zu erklären.
Nach Ihrem Wechsel wurden Sie heftig angefeindet. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Draxler: Als ich die Entscheidung getroffen habe, Schalke zu verlassen, war ich auf so etwas in gewisser Weise vorbereitet. Als Mensch fühlst du natürlich trotzdem etwas, wenn es dann passiert. Mir kann keiner erzählen, dass einen solche Dinge kalt lassen. Aber nochmal: Ich konnte die Fans zu hundert Prozent verstehen.
Haben Sie sich damals mit Mario Götze ausgetauscht, der zwei Jahre zuvor bei seinem Wechsel zum FC Bayern Ähnliches durchgemacht hat?
Draxler: Mit Mario weniger, aber mit Manu Neuer, dessen Wechsel von Schalke zu Bayern für die Fans wahrscheinlich noch schlimmer war als mein Abgang. Natürlich habe ich ihn gefragt, wie er mit der Situation umgegangen ist. Meine Familie lebte ja weiterhin in der Region und die Leute wissen, dass es meine Familie ist. Auf dem Klingelschild steht ja Draxler drauf. Natürlich fragt man dann: Manu, wie hast du das gemacht? Wie hast du das weggesteckt? Wie hast du deine Familie abgeschirmt? Wie hast du sie beschützt? Wie machst du es, wenn du durch Gelsenkirchen gehst?
Haben Sie negative Erfahrungen gemacht?
Draxler: Auf jeden Fall. Du wirst angepöbelt und bekommst dumme Sprüche ab. Wenn du Pech hast, gerätst du an den Falschen, der was getrunken hat und dir auch noch an den Kragen will. Die Familie fängt an, sich zu streiten. Bei unseren Familienfesten sind nur Schalke-Fans. Da müssen sich dein Vater und dein Bruder plötzlich für dich rechtfertigen. Da wird gefragt: Was hast du eigentlich für einen Sohn? Warum ist der nach Wolfsburg gegangen? Was soll das? Wie konnte der so werden? Der war doch früher nicht so.
Wäre das anders gewesen, wenn Sie zu einem internationalen Top-Klub gewechselt wären?
Draxler: Davon bin ich fest überzeugt. Das hätte mir keiner übelgenommen und da hätte ich auch andere Argumente gehabt.
Warum also Wolfsburg?
Draxler: Damals stand auch ein Wechsel zu Juventus Turin zur Debatte. Das Problem war, dass der Fußball auch ein Geschäft ist und dass ich nicht alleine entscheide. Hinter Transfers stecken auch Ablösesummen und vertragliche Modalitäten. Es muss passen und das war bei Juve leider nicht der Fall. Ich hatte Schalke damals schon mitgeteilt, dass ich auf jeden Fall gehen will. Ich hatte mich praktisch schon verabschiedet und wusste, dass ich weg muss, um persönlich weiterzukommen. Zudem war ich nicht der Überspieler, der in der Bundesliga 20 Tore gemacht und zehn vorgelegt hat, sodass ich mir den Verein hätte aussuchen können. Wichtig war mir bei der Vereinswahl, dass gewisse Rahmenbedingungen stimmen.
Welche?
Draxler: Die Europameisterschaft 2016 stand vor der Tür. Ich musste also zu einem Verein wechseln, der eine gute Mannschaft hat und der in der Champions League spielt. Zudem war mir wichtig, dass es ein Verein ist, der im Blickfeld von Jogi Löw ist. Das war bei Wolfsburg der Fall. Kevin de Bruyne war damals gerade für eine gigantische Summe zu Manchester City gewechselt, sodass Wolfsburg die finanziellen Mittel hatte, um die Ablösesumme an Schalke zu zahlen. So habe ich mich dann bewusst für Wolfsburg entschieden. Wolfsburg war die Brücke zu einem Verein, bei dem ich mich sehe.
Ein Sprungbrett quasi.
Draxler: Nicht falsch verstehen: Mir war in Wolfsburg nicht alles egal. Ich bin Sportler, ich will gewinnen. Ich habe dem Verein auch Respekt zu zollen. Trotzdem ist es für mich nichts Schlimmes, öffentlich zu sagen, dass Wolfsburg nicht der Verein war, von dem ich als Kind geträumt habe. Dazu stehe ich nach wie vor. Wolfsburg wollte von mir profitieren und ich wollte von Wolfsburg profitieren. Dass die Zusammenarbeit nicht auf fünf, sechs Jahre ausgelegt war, war allen klar. Es war von vornherein so abgesprochen, dass wir uns bei einem passenden Angebot an einen Tisch setzen und dass man mir auch keine Steine in den Weg legen würde.
In Wolfsburg lief es allerdings sportlich auch nicht rund.
Draxler: Die Mannschaft war stark. Wir sind nicht umsonst in der Champions League bis ins Viertelfinale gekommen. Wir haben Manchester United und Real Madrid besiegt. Trotzdem habe ich in der Bundesliga sicher nicht die Leistungen abgerufen, die ein de Bruyne zuvor gezeigt hatte und die auch von mir erwartet wurden. Und dennoch habe ich in dem Jahr gezeigt, dass ich die internationale Klasse habe, um Spiele gegen Real oder Manchester United zu entscheiden. Dadurch bin ich dann auch auf den EM-Zug 2016 aufgesprungen.
Also war es rückblickend für Sie eine erfolgreiche Zeit?
Draxler: Es war eine Zeit, in der ich sehr viel gelernt habe und die mich wieder zurück in die Nationalmannschaft gebracht hat.
Nach der EM wollten Sie im Sommer 2016 unbedingt den Verein verlassen.
Draxler: Paris Saint-Germain wollte mich nach der Europameisterschaft verpflichten und ich konnte mir sehr gut vorstellen, dorthin zu wechseln. Ich habe dann darum gebeten, dass wir uns vernünftig an einen Tisch setzen, wie es mir versprochen wurde. Es war nicht so, dass mir zugesagt wurde, den Verein für eine x-beliebige Summe verlassen zu können, aber eben ein vernünftiges Gespräch, das dann abgeschmettert wurde.
Letztlich mussten Sie bleiben. In der Folge wurde Ihnen vorgeworfen, lustlos zu spielen.
Draxler: Es war definitiv nicht so, dass ich bewusst schlecht gespielt oder nicht alles gegeben habe, auf gar keinen Fall. Wenn du aber in so einer Situation steckst, im Kopf nicht frei bist und dich ungerecht behandelt fühlst, schaffst du es nicht, zu hundert Prozent deine Leistung abzurufen. Natürlich fragst du dich: Was mache ich hier eigentlich noch?
Sie haben mal gesagt, es sei die schlimmste Hinrunde Ihres Lebens gewesen.
Draxler: So war es auch. Ich bin zwischenzeitlich suspendiert worden, weil mir vorgeworfen wurde, nicht alles zu geben und vom Kopf her nicht voll da zu sein. Letzteres will ich gar nicht bestreiten. Ich war nach den Geschehnissen im Sommer enttäuscht. Dass die Entscheidung getroffen wurde, ohne mit mir zu reden, hat mir gar nicht gefallen. Und trotzdem habe ich versucht, in jedem Training Gas zu geben und der Mannschaft zu helfen. Die Mannschaft hatte mir ja nichts getan und die Fans im Stadion schon gar nicht.