Dieser Artikel erschien zum ersten Mal am 21. Juli 2020
Yahaya Mallam, Vladimir But, Conor Casey und Anderson Thiago de Souza haben eine Gemeinsamkeit mit Borussia Dortmunds Jude Bellingham. Alle Vier wechselten einst als U19-Spieler aus dem Ausland zum BVB. Das liegt jedoch bisweilen schon 25 Jahre zurück.
Das gewissermaßen erste Talent der Neuzeit, das die Borussia außerhalb von Deutschland rekrutierte, war Damien Le Tallec. Der Stürmer kam im Sommer 2009 mit 19 Jahren zu den Schwarzgelben, es begann damals die zweite Saison unter Jürgen Klopp.
Schon zu dieser Zeit hatte der BVB internationale Konkurrenz. Der bei Stade Rennes im ersten französischen Ausbildungszentrum gereifte Le Tallec, der dort mit 17 einen Profivertrag erhielt, war schon auf dem Weg zum FC Chelsea, ehe er aufgrund vereinsinterner Querelen zurück in die Bretagne beordert wurde. Auch der FC Valencia legte ihm einen Vertrag vor, doch kurz darauf schlug die Borussia zu.
"Damien ist ein großes Nachwuchstalent, wir haben ihn in vielen Länderspielen beobachtet. Er hat alle Jugendnationalmannschaften Frankreichs durchlaufen", sagte BVB-Sportdirektor Michael Zorc zum Transfer. Klopp ergänzte, Le Tallec solle "langsam an das Bundesliganiveau herangeführt" werden.
Damien Le Tallec beim BVB: Verletzung zur Unzeit
25 Tore in 44 Länderspielen für die französische U16 bis U20 hatte Le Tallec zu diesem Zeitpunkt erzielt, in Deutschland interessierten sich auch Hertha BSC und der VfB Stuttgart für ihn. Nach einer gewissen Anpassungsphase und ersten Partien für die U23 des BVB tauchte der Franzose schließlich immer häufiger im Dunstkreis der Profimannschaft auf.
Im Oktober 2009 wurde er zur Pause gegen Bochum eingewechselt und feierte sein Bundesligadebüt. Nur ein paar Tage später schied der BVB im DFB-Pokal gegen den VfL Osnabrück aus - und verlor Le Tallec für mehrere Monate. Gerade einmal fünf Minuten nach seiner Einwechslung fiel er ohne Fremdeinwirkung zu Boden. Diagnose: ausgekugelte Schulter. Eine Verletzung zur Unzeit. "Es tut mir leid für den Jungen. Er war brutal im Aufwind", sagte Klopp.
Als Le Tallec zu Beginn des neuen Jahres wieder auf der Matte stand, sammelte er in drei aufeinanderfolgenden Spielen für die Profis 151 Minuten und stand gegen Frankfurt auch erstmals in der Startelf. Er hatte nach dem verletzungsbedingten Rückschlag neue Hoffnung geschöpft: "Ich hoffe, in dieser Saison einen Stammplatz zu erobern. Das ist machbar", sagte er.
"An jedem Wochenende kommen mindestens fünf Spieler unter 21 Jahren zum Einsatz. Teilweise sind sie nicht älter als 17 oder 18. Das ist hier fast ein bisschen das deutsche Arsenal. Wenn ein junger Mann besser ist als ein 27-Jähriger, dann spielt er auch. Ich denke, ich bleibe noch lange in Dortmund."
Le Tallec kam nur auf 252 Profi-Minuten für den BVB
Viel Wahres war an diesen Einschätzungen allerdings nicht dran für ihn. Als der Lauf des BVB begann und Klopps Team ab 2010 viele Siege aneinanderreihte, war keine Zeit mehr für Experimente. Le Tallec schaffte kaum noch den Sprung in den Kader, wenngleich er in insgesamt 43 Partien für die zweite Mannschaft auf ordentliche 14 Treffer und vier Vorlagen kam. Bei den Profis blieb der Zähler bei 252 Pflichtspielminuten stehen.
Le Tallec darf sich zwar Deutscher Meister 2011 schimpfen, doch im Januar 2012 nahm er Reißaus. Verständlich, denn er wollte spielen. "In Deutschland lief es ganz gut, aber am Ende hat die Mannschaft immer gewonnen und der Trainer hat seine Aufstellung nicht geändert", blickte er zurück. Sein Plan: Zurück nach Frankreich, dort Spielpraxis sammeln und dann wieder nach Deutschland wechseln.
Le Tallec schloss sich dem FC Nantes an, doch der ihm aus dem NLZ in Rennes bekannte Trainer Landry Chauvin wurde schnell vor die Tür gesetzt. Der Angreifer kam kaum zum Einsatz. Und, wenig überraschend, der gehegte Plan ließ sich in der Folge auch nicht in die Tat umsetzen: "Ich wartete auf ein Angebot aus Deutschland, aber es zog sich hin und es war bereits August. Das einzige Angebot, das ich hatte, war aus der Ukraine", sagte Le Tallec.
Le Tallecs sechsjähriges Abenteuer in Osteuropa
Es begann ein sechsjähriges Abenteuer in Osteuropa, das sich für den Franzosen jedoch noch als prägend herausstellen sollte. Le Tallec griff im Sommer 2012 also zum Hörer und rief David Odonkor an, den er noch aus Dortmund kannte. Ein Verein mit dem wohlklingenden Namen FC Hoverla-Zakarpattya Uschhorod aus der Westukraine hatte sich bei ihm gemeldet.
"David versicherte mir, dass es dort keine Gehaltsprobleme gäbe und alles gut für ihn liefe", sagte Le Tallec, der kurz darauf einen Zweijahresvertrag beim Aufsteiger in der ukrainischen Premier League unterschrieb - und bald seine letzten Spiele als Stürmer absolvierte. Le Tallec wurde zum Sechser umgeschult.
"Ich fand mich grundlos auf der Bank wieder. Nach einer Stunde fragte mich der Trainer, ob ich in der Mitte spielen könne, weil es nötig sei. Ich sagte ja. Ich kam rein, machte eine gute Partie und im nächsten Spiel startete ich vor der Abwehr", erinnert er sich.
Le Tallec und die Faszination Russland
Nach 44 Pflichtspielen mit sieben Toren und sieben Assists war das Kapitel sechs Monate vor Ablauf seines Vertrags jedoch wieder beendet, denn Odonkors Aussage traf nicht mehr zu. Der russisch-ukrainische Krieg sorgte für eine schwache Währung und den Exodus zahlreicher ausländischer Spieler. Vielerorts konnten die Klubs ihre Gehälter nicht mehr stemmen. "Ich habe sieben Monate kostenlos gespielt", sagte Le Tallec.
Im März 2014 schaltete er gar die FIFA ein. Sein Klub habe auf sechs Briefe von ihm nicht reagiert, auch die Miete seiner Wohnung sei nicht mehr beglichen worden. In der Folge erhielt Le Tallec doch noch sein Geld und schloss sich dem russischen Erstligaaufsteiger Mordowija Saransk an.
Le Tallec verliebte sich auf Anhieb. Der Klub spielte eine sehr gute Saison und landete auf Rang acht, der nun 24-Jährige kam fast immer über 90 Minuten zum Einsatz. Was ihn gleichsam faszinierte, war das Leben in Russland, die dortige Kultur und Mentalität. Er heiratete eine Russin, mit der er einen Sohn bekam. Bis heute weilt Le Tallec in Länderspielpausen in Russland, in Moskaus Altstadt gehört ihm eine Wohnung.
Wechsel nach Belgrad: "Ich hatte keine große Wahl"
Mittlerweile hat er gar den russischen Pass beantragt und träumt davon, in Zukunft für die Nationalelf zu spielen. "Wenn mich der Trainer braucht, würde ich, sobald ich meinen Pass erhalten habe, seinen Anruf entgegennehmen. Ich hoffe wirklich, dass er mich beobachtet. Es wäre eine große Ehre für mich", sagte Le Tallec einmal.
Zumindest auf dem Papier könnte das jedoch schwer werden, denn nach den Regeln der FIFA müsste er entweder in Russland geboren sein, ein russisches Eltern- oder Großelternteil haben oder nach seinem 18. Geburtstag fünf Jahre hintereinander dort gelebt haben. Nichts davon ist der Fall, auch weil die Zeit in Saransk nach eineinhalb Jahren endete - wie schon in der Ukraine aufgrund finanzieller Probleme des Vereins.
"Der Klub brauchte Geld und beschloss, mich zu verkaufen. Ich hatte keine große Wahl", erklärte er. Es ging weiter zu Roter Stern Belgrad, wo er zum ersten französischen Spieler der Vereinsgeschichte wurde. In der serbischen Hauptstadt verbrachte Le Tallec seine bis heute erfolgreichste Zeit. 2016 und 2018 feierte er die Meisterschaft und kam, mittlerweile als Innenverteidiger eingesetzt, auf sieben Treffer und sieben Vorlagen in 104 Pflichtspielen.
Damien Le Tallec in Montpellier: Endlich angekommen
Die Titelgewinne und in erster Linie seine guten Leistungen brachten ihn vor allem in seiner Heimat wieder auf die Bildfläche. Als sein Vertrag in Belgrad im Sommer 2018 auslief, wechselte Le Tallec ablösefrei zu HSC Montpellier - quasi ans andere Ende des Landes, nachdem er zwischen 1995 und 2005 mit dem Fußball in der nördlichen Hafenstadt Le Havre begann. Le Tallec war fest als Innenverteidiger eingeplant und sollte den nach Leipzig abgewanderten Nordi Mukiele ersetzen.
Der 1,87 Meter-Mann rettete seinen guten Lauf aus Serbien hinüber nach Frankreich, Le Tallec stand auf Anhieb regelmäßig auf dem Feld. Allerdings wieder als defensiver Mittelfeldspieler, da er von Trainer Michel Der Zakarian recht zügig versetzt wurde. "Er hat eine gute Übersicht, Technik und spielt interessante Pässe in die Spitze", sagte der Coach.
Es schien, als sei Montpellier die Endstation von Le Tallecs langer Reise, die mit einem Wechsel zum BVB einst begann. Doch auch in Montpellier hielt sein Glück nicht für den Rest seiner Karriere, obwohl er in drei Jahren eigentlich unangefochtener Stammspieler gewesen war.
Le Tallec mit Horrorfoul und Wechsel nach Athen
Nur ein unschöner Zwischenfall bescherte Le Tallec eine zweimonatige Pause: Bei der 0:4-Pleite gegen Reims Anfang November 2020 brannten dem ehemaligen Dortmunder kurz vor der Pause die Sicherungen durch, Le Tallec trat Gegenspieler Kaj Sierhuis mit voller Absicht ins Gemächt und flog völlig zurecht mit Rot vom Platz. Die brutale Tätigkeit bescherte Le Tallec eine vierwöchige Denkpause, anschließend stand er bis zum Ende des Jahres nur noch einmal im Kader, der Stammplatz war futsch.
Zwar wurde er am Ende der Saison noch einmal gebraucht, doch seinen auslaufenden Vertrag verlängerte Le Tallec nicht mehr. Stattdessen zog es ihn nach Griechenland zu AEK Athen, wo er zumindest über weite Strecken bis zum Ende des Jahres wieder Stammspieler war - als Defensiver Mittelfeldspieler. Ob nun Griechenland die Endstation für den mittlerweile 32-Jährigen ist?
Zu seiner Zeit beim BVB sagte er, er wolle gerne einmal in England spielen, das dürfte zumindest auf hohem Niveau in seinem Alter allmählich schwierig werden. Doch vielleicht wagt er ja noch einmal ein Abenteuer.
Damien Le Tallec: Seine Karrierestationen im Überblick
Verein | Zeitraum |
Le Havre AC | 1995-2005 |
Stade Rennes | 2005-2009 |
Borussia Dortmund | 2009-2012 |
FC Nantes | 2012 |
FC Hoverla-Zakarpattya Uschhorod | 2012-2014 |
Mordowija Saransk | 2014-2016 |
Roter Stern Belgrad | 2016-2018 |
HSC Montpellier | 2018-2021 |
AEK Athen | seit 2021 |