AC Mailand holt den Scudetto - "Milan is back": Der elegante Gegenentwurf zu Inter

Justin Kraft
24. Mai 202212:58
SPOXgetty
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Die AC Mailand ist zurück auf dem italienischen Fußballthron. Mit einem 3:0-Sieg bei Sassuolo Calcio holten die Rossoneri am Sonntag ihren 19. Scudetto. Mailand ist damit wieder die Fußballhauptstadt Italiens - für den Moment. Aber ist das Milans Schritt zu altem Glanz?

Jung, dynamisch, modern - oder, wie es die eigenen Fans im September anlässlich der Champions-League-Rückkehr nach sieben Spielzeiten ohne Königsklasse formulierten: "Milan is back!"

Etwas mehr als 35 Minuten hatte es bei Sassuolo Calcio am entscheidenden letzten Spieltag gedauert, da war die Luft aus dem Meisterschaftsrennen schon raus. Die Hoffnung von Inter, dass das junge Milan-Team just dann einbrechen würde, wenn alles auf dem Spiel steht, wurde ausgerechnet durch einen der jüngsten Leistungsträger im Kader erstickt.

Rafael Leao zeigte abermals, was für ein überragender Fußballer er ist und warum er als eines der aufregendsten Talente Europas gilt. Zweimal tankte er sich links in den Strafraum und fand jeweils Olivier Giroud (17. und 32.), einmal brach er rechts durch und legte den Treffer von Franck Kessie vor (36.). Der frühe Assist-Hattrick des 22-Jährigen sorgte dafür, dass die vielen mitgereisten Mailänder nichts mehr zu befürchten hatten.

AC Mailand: Rafael Leao ist das Gesicht der Milan-Philosophie

Schon in den letzten Wochen, in denen Milan zu wackeln drohte, war der Portugiese die Lebensversicherung des Teams. In 42 Pflichtspielen war der Linksaußen an 26 Toren direkt beteiligt. Allein in den letzten sechs Partien in der Serie A gelangen ihm drei Treffer und sechs Assists, womit er an neun von 13 Toren seines Teams direkt beteiligt war.

Ibrahimovic, Giroud - in einem üppig besetzten Angriff ist es einer der jüngsten Spieler, der heraussticht. Und damit ist er ein Paradebeispiel für das neue Milan. Leao kam 2019 für 29,5 Millionen Euro aus Lille. Kein Schnäppchen, aber gut investiertes Geld.

Sein Marktwert wird mittlerweile laut transfermarkt.de auf 50 Millionen Euro geschätzt. Leao bringt die für Außenspieler üblichen Fähigkeiten mit: Schnelligkeit, Technik, Torgefahr. Er arbeitet darüber hinaus sehr engagiert in der Defensive mit und ist beinahe omnipräsent auf dem Platz. Was auf hohem Niveau aber den Unterschied macht, sind Konstanz und Zuverlässigkeit. Lange fehlte ihm diese Qualität, aber je länger die nun abgelaufene Saison andauerte, desto besser wurde Leao. Er reifte zuletzt zu einer absoluten Konstante in der Offensive der Rossoneri.

Deshalb will Milan den Vertrag mit seinem Top-Talent auch möglichst bald verlängern. Schon im Januar gab es erste Gerüchte, zuletzt wurden diese wieder konkreter. Leaos Agent ist Jorge Mendes und der soll den jüngsten Aufstieg seines Klienten nutzen wollen.

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Juve zahlt mehr als doppelt so viel für den Kader

Ein Blick aufs Gehaltsgefüge wertet den Erfolg der letzten zwei Jahre nochmal auf. Milan zahlt für seinen jetzigen Kader rund 175 Millionen Euro pro Saison. Juventus Turin (370 Millionen Euro) und Inter (260 Millionen Euro) sind deutlich potenter - von der internationalen Konkurrenz ganz zu schweigen.

Die Kaderplanung der Norditaliener war in den vergangenen Jahren aber ein herausragendes Merkmal des Erfolgs. Dass die US-Investorengruppe Elliott Management im Jahr 2018 eine neue Ära eingeleitet hat und den Klub vor allem auch finanziell in ein neues Fahrwasser führen konnte, sollte nicht romantisch verklärt werden.

Doch Milan hatte in den vergangenen Jahrzehnten häufig Geld. Sehr viel Geld. Und wusste dieses sehr gekonnt zu verbrennen. Mit Stefano Pioli (Trainer seit 2019) und Paolo Maldini (seit 2019 technischer Direktor) wurde jedoch eine sportliche Leitung etabliert, die die Milan-Philosophie zurückbringen und weiterentwickeln konnte. Und diese lässt sich eben anhand von Spielern wie Leao hervorragend erklären.

Nur drei Spieler des Meisterteams kamen vor 2018 nach Mailand. Obwohl Zlatan Ibrahimovic (40), Simon Kjaer (33), Olivier Giroud (35) oder Alessandro Florenzi Teil des diesjährigen Kaders sind, stellt Milan das zwölftjüngste Team der Liga (26,8 Jahre im Schnitt). Jünger als Juventus Turin (27,1), Neapel (27,4) oder Inter (30,1) - sogar der jüngste Meisterkader seit Einführung der Drei-Punkte-Regel. Maldini ist der Vater dieses Erfolgs.

Milan wird durch junge Spieler geprägt

Die jungen Spieler sind es, die Milan in dieser Saison immer wieder auf Kurs gehalten haben. So wichtig Ibrahimovic, Giroud und Kjaer als Typen und mit ihrer Erfahrung für das Team auch sind: Allen voran Franck Kessie (25), Fikayo Tomori, Theo Hernandez, Ismael Bennacer (alle 24), Sandro Tonali und eben Leao (beide 22) bilden eine sehr wichtige Achse.

Vor allem im Mittelfeld ist die Handschrift des Klubs gut zu erkennen. Keiner von ihnen lässt sich in eine Schublade stecken. Sie alle haben ausgeprägte Qualitäten in allen Anforderungsbereichen auf unterschiedlichen Positionen im zentralen Mittelfeld. Jeder von ihnen verfügt über die Qualität, die Stärken des anderen zu kompensieren, wenn es notwendig ist. Milan scoutet und verpflichtet junge Spieler, die auf ihren Positionen nicht nur mehrere Rollen beherrschen, sondern perfekt in den dynamischen Stil des Trainers passen.

Tonali und Bennacer sind beispielsweise hervorragende Spielmacher, die mit ihren Pässen Takt und Tempo bestimmen können. Gleichzeitig sind sie gute Zweikämpfer und Spielzerstörer, wenn es darauf ankommt. Kessie mag wiederum vor allem mit seinen Fähigkeiten im Pressing und als Balltreiber assoziiert werden, doch auch er ist gleichzeitig ein feiner Techniker.

Milan-Trainer Pioli ist der Kopf der fußballerischen Entwicklung

Trainer Pioli hat somit gegen jede Art von Gegner unterschiedliche Spielertypen zur Verfügung, die in nahezu jeder Situation eine entsprechende Anpassung ermöglichen. Gleichzeitig ist der 56-Jährige aber selbst der Kopf der fußballerischen Entwicklung. Das ist umso bemerkenswerter, da der Italiener 2020 fast vor dem Aus stand. Ralf Rangnick galt damals als heißer Nachfolgekandidat. Zum Glück für Pioli und Milan kam alles anders.

Der Meistermacher steht für einen flexiblen Offensivfußball am Puls der Zeit. Milan spielt dynamischen, angriffslustigen und ästhetischen Fußball. Erfolgreich sind sie, weil der Trainer es schafft, die einzelnen Puzzleteile mit Blick auf die jeweiligen Gegner nahezu optimal zusammenzufügen. Das Team kann beides: Ein Spiel mit und ohne Ball kontrollieren.

Das Problem vieler ballbesitzorientierter Teams ist, dass sie gegen technisch starke Gegner die Kontrolle verlieren. Mannschaften mit deutlich ausgeprägtem Pressingfokus fehlt es nicht selten an Kreativität und Dynamik gegen tiefstehende Gegner.

Milan beherrscht den Fußball ganzheitlich - wie es sich für ein modernes Top-Team eben gehört. Pioli hat einen guten Kader, aber er holt eben auch alles aus den Spielern heraus.

Als Milan vor elf Jahren eine siebenjährige Durststrecke beendete und die Serie A gewann, ahnte niemand, welcher Absturz folgen würde. Jetzt ist es vor allem die Rückbesinnung auf die glorreiche Vergangenheit der Achtziger, Neunziger und 2000er, die die Norditaliener zurück an die Spitze der Serie A geführt hat.

AC Mailand: Der elegante Gegenentwurf zu Inter ist zurück

Besonders süß ist dieser Triumph, weil man Stadtrivale Inter auf den zweiten Platz verdrängen konnte. Milan und Inter prägten gemeinsam den italienischen Fußball auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Auf der einen Seite die Nerrazzuri, die den Catenaccio in den Sechzigern unter Trainer Helenio Herrera berühmt gemacht haben.

Der ergebnisorientierte Fußball Inters war nicht schön anzusehen, aber unglaublich erfolgreich. Mentalität, Kampfgeist, Abgezocktheit und Erfahrung sind Begriffe, die den Klub bis heute begleiten und definieren. In dieser Linie standen auch Trainer wie Giovanni Trapattoni oder Jose Mourinho.

Auf der anderen Seite die Rotschwarzen, die jahrzehntelang mit Eleganz, Leichtigkeit und taktischem Fortschritt assoziiert wurden und dafür in Europa eine hohe Anerkennung genossen. Nils Liedholm führte bei Milan in den Siebziegern die Raumdeckung ein, Arrigo Sacchi prägte Ende der Achtziger nicht nur den Klub, sondern den kompletten Weltfußball. Seine pressingstarke und ballbesitzdominante Philosophie beeinflusst noch heutige Trainergenerationen. Die beiden wohl besten Trainer der Welt, Pep Guardiola und Jürgen Klopp, ließen sich von seinen Ideen inspirieren. Auch Carlo Ancelotti prägte mit attraktivem Fußball eine Ära mit Milan.

Aus diesem Gegensatz zu Inter sowie der räumlichen Nähe zueinander entwickelte sich eine der bedeutendsten sportlichen Rivalitäten des europäischen Fußballs - die seit der letzten Saison wieder aufzuleben scheint. Dass die AC Mailand wieder einen eleganten und erfolgreichen Gegenentwurf zu Inters Philosophie darstellt, ist der Hauptgrund dafür.

Stefano Pioli hat Milan wieder zu alter Stärke geführt.imago images

Milan: Keine Angst vor weiterem Verkauf

Dieser Gegensatz bereichert die Serie A. Mit jungen Spielern wie Rafael Leao. Mit einer sportlichen Leitung, die ganz offenbar weiß, was sie tut. Lange war Milan ein abschreckendes Beispiel dafür, dass viel Geld keine Garantie für sportlichen Erfolg ist. Das moderne Milan holt aus einer deutlich weniger guten finanziellen Ausgangsposition das Maximum heraus.

Es tut dem Klub womöglich gut, dass sie den Weg nach oben nicht von heute auf morgen angetreten sind. Gleichzeitig birgt das immer die Gefahr, Schlüsselspieler zu verlieren. So wird Kessie wohl ablösefrei zum FC Barcelona wechseln. Auf der anderen Seite sieht es aktuell so aus, als könne Milan den Großteil des Kaders zusammenhalten - und so auch konkurrenzfähig bleiben.

Demnächst wird es sehr wahrscheinlich wieder einen Verkauf des Klubs geben. Angesichts der kompetenten sportlichen Leitung dürfte die Vorfreude in der Modestadt aber deutlich größer sein als die Angst vor negativer Veränderung. Denn dieser Vereinsführung wird zu Recht zugetraut, dass sie damit umgehen kann.

Das ist ein Verdienst, den sich vor allem Pioli und Maldini auf die Fahne schreiben dürfen. Jung, dynamisch, modern - so haben sie Milan zurück auf Italiens Thron geführt. Jetzt aber kommt die größte Herausforderung. Kann Milan sich an der Spitze halten? Die Hoffnung ist bei den Rossoneri jedenfalls groß, dass es bis zum nächsten Scudetto nicht wieder elf Jahre dauern wird.