Hätte Hansi Flick sich beim FC Bayern nicht mit Hasan Salihamidzic unversöhnlich zerstritten und statt vorzeitig auszusteigen seinen bis 2023 laufenden Vertrag in München erfüllt, dann würde Stefan Kuntz nun wohl der nächste Bundestrainer werden.
Dabei wurde Kuntz trotz seiner bisherigen Erfolge mit der U21 eher als Außenseiter gehandelt, als Jogi Löw im Frühjahr seinen Rücktritt nach der EM angekündigt hatte. Als zu alt, zu wenig innovativ und auch zu wenig kompetent bezeichneten ihn Kritiker.
Als Beweis diente ihnen der Fakt, dass der 58-Jährige bis zu seiner überraschenden Vorstellung beim DFB 2016 zuvor knapp 13 Jahre nicht mehr als Trainer gearbeitet hatte. Und als solcher war der ehemalige Nationalstürmer zwischen September 2002 und November 2003 bei den Zweitligisten Karlsruher SC, Waldhof Mannheim und LR Ahlen jeweils wegen Erfolglosigkeit entlassen worden. "Dieses Kapitel ist für mich definitiv abgeschlossen", sagte Kuntz damals und versuchte sein Glück fortan als Funktionär.
Stefan Kuntz: Erst in Kaiserslautern gefeiert, dann verdammt
Zunächst bei TuS Koblenz und dem VfL Bochum, dann acht Jahre lang beim 1. FC Kaiserslautern. Seinen Ex-Klub führte der einstige Torschützenkönig als Vorstandsvorsitzender zurück in die Bundesliga, doch nach dem Abstieg 2012 scheiterten die Roten Teufel viermal knapp am fest eingeplanten Wiederaufstieg. Die Kritik an Kuntz wurde schließlich so laut, dass die Zusammenarbeit im Frühjahr 2016 beendet wurde.
Bis heute macht man dort den Ex-Publikumsliebling für den folgenden Absturz des Traditionsvereins verantwortlich, Vetternwirtschaft und sogar Insolvenzverschleppung wurden ihm vorgeworfen. "Vom Helden Stefan Kuntz ist in der Pfalz wirklich nicht mehr viel übrig", schrieb die Süddeutsche Zeitung. Auch wenn er sämtliche Vorwürfe zurückwies, verweigerten ihm wenige Monate nach seinem Abschied knapp 72 Prozent der FCK-Mitglieder die Entlastung.
Teilweise sehr skeptisch war daher seinerzeit die Entscheidung des DFB für Kuntz als Nachfolger von Horst Hrubesch aufgenommen worden, nachdem der eigentlich bereits als neuer U21-Chefcoach verkündete Marcus Sorg zum Assistenten von Löw aufgestiegen war.
"Ich wollte einen Trainer, der aus dem Profifußball kommt, von dessen Fachwissen und Erfahrung junge Spieler lernen und profitieren können", erklärte der damalige DFB-Sportdirektor Hansi Flick.
Stefan Kuntz: "Gute-Laune-Bär" für Medien und Stimmung?
Trotzdem wurde Kuntz seitdem ungeachtet seiner Erfolge von Spöttern als "Gute-Laune-Bär" bezeichnet, der vorrangig für die Medienarbeit und die gute Stimmung im Nachwuchsteam verantwortlich sei. Die eigentliche Arbeit aber, so hieß es immer wieder, machten seine Helfer. Vor allem die beiden Co-Trainer Daniel Niedzkowski, der Leiter der DFB-Fußballlehrerausbildung, und Antonio di Salvo, der als Profi unter anderem eine Vergangenheit beim FC Bayern München und beim TSV 1860 München hatte.
Kuntz kennt diese Stimmen, ließ sich davon aber laut eigener Aussage nie beeinflussen. "Bei uns im Business muss man damit leben, dass andere Menschen eine andere Meinung haben", sagte er dazu nur. Nach seiner Logik führt er vielmehr als Verantwortlicher, "der am Ende den Kopf hinhält", ein qualifiziertes Team von Spezialisten.
Stefan Kuntz: Zum dritten Mal in Folge im U21-EM-Finale
Die Ergebnisse sprechen ja eine eindeutige und eindrucksvolle Sprache: Am Sonntag steht Kuntz zum dritten Mal in Folge in einem U-21- EM-Finale, das gelang vor ihm nur der italienischen Trainer-Ikone Cesare Maldini zwischen 1992 und 1996 (der jedes Mal gewann).
Ein einmaliger Erfolg für die deutschen Junioren, die zwar 1982 im Endspiel standen und 2009 unter Hrubesch erstmals den Titel holten, ansonsten aber bis 2015 spätestens im Viertelfinale ausschieden und sich insgesamt zehnmal gar nicht für die Endrunde qualifizieren konnten.
Erst nach Hrubeschs Rückkehr 2015 wurde wieder das Halbfinale erreicht, aber die aktuell angeblich letzte "goldene Generation" des Jahrgang 1995/1996 mit dem amtierenden Weltmeister Matthias Ginter sowie Joshua Kimmich, Emre Can, Kevin Volland und Marc Andre ter Stegen kassierte dort beim 0:5 gegen Portugal die höchste Pleite einer deutschen U 21.
Dann übernahm die vermeintliche Verlegenheitslösung Kuntz die weniger talentierten Nachrücker - und gewann 2017 auf Anhieb den EM-Titel und schaffte zwei Jahre später erneut den Finaleinzug (1:2 gegen Spanien). Dennoch stuft auch er den jetzigen Höhenflug offenbar am höchsten ein.
Stefan Kuntz: Abschneiden bei U21-Europameisterschaften
Jahr | Runde | Gegner | Ergebnis |
2017 | Europameister | Spanien | 1:0 |
2019 | Finale | Spanien | 1:2 |
2021 | Finale | Portugal | ? |
U 21: Noch zu Beginn der EM-Quali große Skepsis im DFB
Schließlich hatte sich Kuntz noch zu Beginn der Qualifikation äußerst skeptisch gezeigt. "Es ist kein Geheimnis, dass jetzt die Jahrgänge kommen, die mit ihren Junioren-Nationalmannschaften eher nicht so erfolgreich waren", erklärte er damals. Und wenn man vergleiche, wie viele deutsche U-21-Profis im Vergleich zu den anderen großen Nationen in den Topligen spielten, "sind wir komplett im Hintertreffen".
Sein Vorgesetzter nahm Kuntz' Mannschaft sogar als Blaupause für die großen Defizite im Jugendbereich. "Wir haben bei den Spielern, die nachrücken, nicht mehr die Dichte enormer Qualität. Deshalb haben wir uns von der Weltspitze entfernt. Das zeigt sich bereits bei der aktuellen U21-Mannschaft", sagte der Sportliche Leiter Nationalmannschaften Joti Chatzialexiou, im Interview mit 11Freunde.
Dieses Urteil würde er jetzt wohl nicht mehr wiederholen, auch Kuntz war nach dem hochverdienten Halbfinalsieg gegen die deutlich höher eingeschätzten Niederländer begeistert. "Die Mannschaften, die vom Marktwert her höher eingeschätzt waren, sind alle zu Hause", sagte der Erfolgstrainer. "Ich glaube, dass die Jungs jetzt schon gezeigt haben, dass sehr viel Talent in ihnen drinsteckt."
U 21: Geschlossenheit und Teamgeist als größte Stärken
Trotz der beiden A-Nationalspieler Florian Wirtz und Ridle Baku sind aber vor allem die mannschaftliche Geschlossenheit und der Teamgeist die größten Stärken der Truppe, für die nicht mal ein Stammtorwart aus den ersten drei Ligen gefunden werden konnte. Und spätestens hier kommt Kuntz wieder ins Spiel, der von Beobachtern als "Menschenfänger" und "Spielerflüsterer" bezeichnet wird.
Seine Jungs, so scheint es, würden für ihren Chef durchs Feuer gehen. "Für mich war er der beste U21-Trainer", sagt Abwehrspieler Nico Schlotterbeck: "Er macht es sehr gut, wie er mit den Spielern kommuniziert und umgeht. Ich kann nur Positives über ihn sagen."
Ähnlich äußern sich auch die Mitspieler, und der frühere Nationaltorwart Rene Adler verglich Kuntz sogar mit einem der erfolgreichsten deutschen Trainer. "Stefan kennt seine Spieler, und das sind vor allem Menschen. Er berührt die Menschen einfach. Wenn mir spontan ein Trainer einfallen müsste, der seine Jungs so erreicht, dann vielleicht Jupp Heynckes", sagte Adler bei ProSieben.
Stefan Kuntz: Spekulationen über Abschied vom DFB
Und trotzdem herrscht trotz laufenden Vertrags bis 2023 eine gewisse Unsicherheit, wie es mit Kuntz und dem DFB nach den Olympischen Spielen in Tokio weitergehen wird. "Schmeißt Kuntz nach Olympia hin?", titelte die Bild zu Wochenbeginn. Nach Informationen des Blattes soll der Coach sehr verärgert sein über den Umgang des Verbandes mit ihm bei der Suche nach einem Löw-Nachfolger.
"Es wurde ein Gespräch avisiert, welches nicht stattgefunden hat", sagte Kuntz selbst dazu. "Ab einem gewissen Zeitpunkt hat sich die Wunschlösung Hansi Flick abgezeichnet, insofern war das verständlich." Gleichwohl soll es für nachhaltigen Unmut bei ihm gesorgt haben, dass sich der für die Bundestrainersuche zuständige Oliver Bierhoff entgegen angeblich anderer Zusagen gar nicht mehr bei Kuntz meldete, um ihm zumindest abzusagen.
"Wer Kuntz kennt, der weiß: Kaum ein anderer Trainer ist ein so großer Gerechtigkeitsfanatiker und schätzt Werte wie Loyalität, Fairness und Transparenz wie er", schrieb die Bild. "Deshalb ist er auch ins Grübeln gekommen, ob seine weitere Zukunft wirklich beim DFB liegt."
Beim DFB alle Posten besetzt - Vereinsangebote für Kuntz?
Sollte der Europameister von 1996 tatsächlich auch noch bei Olympia eine Medaille gewinnen, könnte er sich auch sportlich die Frage stellen, was er mit der U 21 noch erreichen kann. Zumal er durch seine Erfolge auch Interesse bei einigen Vereinen geweckt haben dürfte. Und ob der DFB ihm dann ein attraktives Gegenangebot machen könnte, ist fraglich, da eigentlich alle relevanten Posten von Bierhoff bereits mit seinen Gefolgsleuten besetzt worden sind.
Dabei gäbe es eine recht naheliegende Lösung: Das Amt des DFB-Präsidenten. Kuntz, der bei seinem Heimatverein SV Furpach in seiner saarländischen Geburtsstadt Neunkirchen noch ab und an bei den Alten Herren kickt, wäre im Gegensatz zu den meisten Kandidaten sowohl bei Amateuren als auch bei Profis vermittelbar.
Der langjährige Bundesligaspieler kommt gut an, ist eloquent und kompetent in vielen Bereichen, hat aus seiner Funktionärszeit Erfahrung im Profifußball und beste Kontakte in der DFL, ist aber durch inzwischen fünf Jahre beim DFB auch im Verband hervorragend vernetzt. Kuntz könnte also tatsächlich für den dringend benötigten Neuanfang stehen, ohne alles komplett auf den Kopf stellen zu müssen.
Doch selbst wenn er gebeten würde, würde er sich vermutlich diese Herkulesaufgabe nicht antun. Zumal er im Sommer wohl ganz andere Möglichkeiten haben wird. Aber vielleicht erkennt der DFB auch, welchen Wert der Sympathieträger Kuntz für den dauerkriselnden Verband hat, der dank der U 21 erstmals seit Monaten wieder positive Schlagzeilen schreibt.