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WM 2018 - Gareth Southgates Masterplan: Wie England sein Elfmeter-Trauma überwand

Gareth Southgate feiert mit den Fans: England hat tatsächlich ein Elfmeterschießen gewonnen.
© getty

England kann doch Elfmeterschießen: 5:4 gewinnen die Three Lions ihr WM-Achtelfinale gegen Kolumbien und sind dabei zum ersten Mal seit 1996 vom Punkt siegreich. Ausgerechnet Trainer Gareth Southgate, der damals im EM-Halbfinale gegen Deutschland versagte, wird dabei zum entscheidenden Mann. SPOX erklärt, wie der 47-Jährige aus den Fehlern der Vergangenheit lernte.

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Three Lions - oder wahrscheinlich besser bekannt unter seinem inoffiziellen Namen It's Coming Home - ist die Fußball-Hymne schlechthin. 1996 erstmals von Baddiel & Skinner & Lightining Seeds für die EM in England aufgelegt, ist die Version von 1998 wahrscheinlich sogar die bekanntere. Nicht zuletzt aufgrund des kultigen Musikvideos, in welchem die englischen Protagonisten gegen ein deutsches Team bestehend aus lauter Kuntz' antreten und am Ende einen sensationell improvisierten WM-Pokal in die Höhe stemmen.

Dabei beginnt das Video eher düster. Baddiel, Skinner und Lightning-Seeds-Sänger Ian Broudie stehen im strömendem Regen am Straßenrand und müssen im Schaufenster eines Elektronikgeschäfts mit ansehen, wie ein 25-Jähriger zu seinem Elfmeter antritt. EM-Halbfinale, England gegen Deutschland, Elfmeterschießen. Es steht 5:5, das Sudden Death steht an.

Dieser 25-Jährige absolviert erst sein neuntes Länderspiel, dennoch hat er sich freiwillig gemeldet. Co-Trainer Bryan Robson hat er zuvor versichert, dass er schon Elfmeter geschossen hat. Was er verschweigt: Es war ein einziger, drei Jahre zuvor für Crystal Palace. Verschossen.

Als er nach 120 gespielten Minuten und einem Spielstand von 1:1 von Manager Terry Venables angesprochen wird, trifft es ihn wie "ein Blitz aus heiterem Himmel". Aber er ist der Typ, der auf keinen Fall kneifen will. Er schnappt sich den Ball, registriert plötzlich die 75.900 Fans im Stadion, die einsetzende Dämmerung - und Andreas Köpke zwischen den Pfosten, der immer größer zu werden scheint. Der Ball liegt, er nimmt Anlauf, Sandor Puhl pfeift, er läuft sofort los.

"Gareth Southgate, the whole of England is with you ... Oh, it's saved! Saved!"

Englands Bilanz bei Elfmeterschießen: Fünf Niederlagen in Folge

22 Jahre hatte Southgate Zeit, um dieses persönliche Trauma zu überwinden. Oder besser gesagt: darüber zu grübeln. Ein Trauma, dass damals vielleicht noch nicht das ganze Land ergriffen hatte, schließlich hatte man nach 1990 erst zum zweiten Mal bei einem großen Turnier nach Elfmeterschießen verloren. Und einmal sogar gewonnen, 1996 im Viertelfinale gegen Spanien.

Doch sein Fehlschuss schien plötzlich in der kollektiven Seele des englischen Fußballs verankert. 1998 - raus nach Elfmeterschießen. Dann 2004. 2006 ebenfalls. Noch einmal 2012. Und irgendwann in diesen 22 Jahren realisierte die Fußballwelt: England und Elfmeter - das passt nicht. Nenn es Pech, Unvermögen, selbsterfüllende Prophezeiung oder auch einen Fluch. Es passt einfach nicht.

Englands Elfmeterschießen bei großen Turnieren
TurnierRundeGegnerErgebnisverschossen
WM 1990HalbfinaleDeutschland4:5

Stuart Pearce

Chris Waddle

EM 1996ViertelfinaleSpanien4:2-
EM 1996HalbfinaleDeutschland6:7Gareth Southgate
WM 1998AchtelfinaleArgentinien5:6

Paul Ince

David Batty

EM 2004ViertelfinalePortugal7:8

David Beckham

Darius Vassell

WM 2006ViertelfinalePortugal1:3

Frank Lampard

Steven Gerrard

Jamie Carraghter

EM 2012ViertelfinaleItalien2:4

Ashley Young

Ashley Cole

WM 2018AchtelfinaleKolumbien5:4Jordan Henderson

Zehn Jahre nach seinem bitteren Missgeschick in Wembley, das ihm an diesem Abend sogar eine Umarmung von Premierminister John Major einbrachte, trat Southgate seinen ersten Posten als Cheftrainer an. Noch einmal zehn Jahre später wurde er Coach der Three Lions. Zuerst auf Interimsbasis für Sam Allardyce, ein paar Monate später auf Dauer.

Er führte England durch die Qualifikation, und spätestens zu diesem Zeitpunkt müssen die Fragen nach Elfmetern, nach seinem Elfmeter 1996 und der englischen Elfmeterkrise allgemein überhandgenommen haben. Man kann sich förmlich vorstellen, wie sich zwei Gedanken in seinem Hinterkopf festsetzten.

Erstens: seinen Fehler von damals wiedergutmachen. Zweitens: seine Spieler vor einem ähnlichen Schicksal bewahren: "Ich sage mir, dass das Schnee von gestern ist, dass das die Leute nicht mehr interessiert. Und dann bin ich in einer Hotellobby und eine Frau dreht sich zu ihrem Freund und sagt: 'Ich glaube das ist der Typ, der den Elfmeter verschossen hat.' 'Psst', macht er, aber es ist schon zu spät."

Gareth Southgate: Akribische Vorbereitung auf Elfmeterschießen

Was nach der erfolgreichen Qualifikation folgte, muss eigentlich von Musik wie dieser untermalt werden, denn am besten beschrieben wäre es durch eine mehrere Minuten lange Montage in bester Hollywood-Manier. Southgate wollte auf dem Weg nach Russland nichts, aber auch gar nichts dem Zufall überlassen.

Schließlich wusste er, woran er selbst 1996 gescheitert war. Nicht an einem Fluch, noch nicht einmal unbedingt an Pech oder eigenem Unvermögen. Sondern an mangelnder Vorbereitung. Und daran würde England diesmal nicht scheitern.

Die Gruppenphase der WM war noch nicht einmal ausgelost, da machte Southgate in England Schlagzeilen mit der Ankündigung, im März vor dem Turnier ein Elfmeterschießen unter Wettkampfbedingungen in Erwägung zu ziehen. In einem vollbesetzten Wembley-Stadion. Dazu kam es letzten Endes nicht, doch es war der Beweis dafür, dass der Manager bereit war, neue Wege zu gehen.

England contra Elfmeterschießen: Southgate geht neue Wege

Dazu gehörten ein umfangreiches Analytics-Team und die eigenen Nachwuchsteams als Versuchskaninchen. So wurde die U20 dazu ermutigt, während der WM in Südkorea im Hotel Wettbewerbe auf einem Putting Green abzuhalten - Trash Talk währenddessen ausdrücklich erlaubt. Die U17 analysierte die eifrigsten Schützen, den Effekt von Elfmetertraining und mehreren "Go-to-Penalties" in der Hinterhand.

Wöchentlich wurden die Ergebnisse analysiert und Fortschritte besprochen. Dazu gehörten regelmäßige Trainingseinheiten und der Ablauf des Elfmeterschießens. "Man hat ein paar Minuten Zeit, um sich vorzubereiten. Was macht man in dieser Zeit?" schilderte der Technische Direktor Dean Ashworth dem Telegraph. "Wo bereitet man sich vor? Wer gehört dazu? Wo steht man während des Elfmeterschießens? Von wo läuft man los?"

So habe eine Untersuchung ergeben, dass die englischen Spieler nach dem Pfiff sehr schnell loslaufen würden, "andere Nationen dagegen lassen sich mehr Zeit."

Southgate war 1996 sofort losgestürmt - und hatte seinen Schuss flach in die Arme von Köpke geschoben.

"Wir haben uns individuelle Prozesse angeschaut, individuelle Techniken", verriet der Manager bereits Tage vor dem Spiel gegen Kolumbien. "Wir haben diverse Studien durchgeführt, verschiedene Methoden getestet." Die Spielräume in der K.o.-Runde seien derart dünn, dass man sich auf alles vorbereiten müsse: "Wir brauchen eine gewisse Ruhe. Wir müssen den Ablauf kontrollieren, nicht er uns."

Seit März habe man diese Abläufe einstudiert, fast nach jeder Trainingseinheit, beginnend mit dem Lauf vom Mittelkreis zum Punkt. Video-Analysten hatten zudem die gegnerischen Schützen und die Sprungmuster der gegnerischen Torhüter analysiert.

Elfmeterschießen: England analysiert Psyche der Spieler

Das Hauptaugenmerk allerdings lag auf der Psyche der Spieler. So sei es 1996 ein Fehler gewesen, sich aus Pflichtgefühl freiwillig zu melden, erklärte Southgate: "Wenn man sich nicht sicher ist, ist es wahrscheinlich mutiger, wenn man das nicht tut."

Wie geht es den Spielern in der Zeit vor dem Elfmeterschießen? "Einige Spieler haben gesagt, dass sie zum Ende der Verlängerung nervös werden und dass das ihr Spiel beeinflusst", sagte Matt Crocker, im Verband verantwortlich für den Nachwuchs. "Wie können wir ihnen damit helfen?" Wie läuft man zum Ball und "behält dabei die Routine aus dem ganz normalen Spiel bei?" Braucht man mehrere Elfer in der Hinterhand, wenn man im Turnierverlauf schon einen oder zwei geschossen hat?

Erste Erfolge hatte der Nachwuchs im vergangenen Jahr bereits feiern können. Auf dem Weg zum WM-Titel bezwang England im Achtelfinale Japan mit 5:3 nach Elfmeterschießen. Das deckte sich mit Ashworths Analyse: "Wenn man die WM gewinnen will, muss man statistisch gesehen ein Elfmeterschießen gewinnen." Gegen Japan habe man bereits organisiert an der Mittellinie gestanden, während der Gegner noch auf der Suche nach Schützen gewesen sei.

Southgates Arbeit hat Erfolg: England schlägt Kolumbien

Über Monate hinweg hatte Southgate seinen Spielern eine Botschaft eingeimpft, die er nach dem Spiel gegen Belgien offenlegte: "Es geht definitiv nicht um Glück. Auch nicht um Zufall. Es geht darum, eine Fertigkeit unter Druck abzurufen. Daran kann man arbeiten."

Mit Erfolg, wie der Sieg über Kolumbien bewies. Dabei wird es der so lange geschundenen englischen Seele herzlich egal sein, dass David Ospina den nicht sonderlich gut geschossenen Strafstoß des nach eigener Aussage nervösen Eric Dier um ein Haar pariert hätte. Oder dass die ersten fünf Elfmeter 1996 besser geschossen waren, nämlich allesamt unhaltbar, während David Seaman seine Hand am Versuch von Stefan Reuter hatte?

England hat sein nationales Trauma überwunden. Zumindest vorerst. "Wenn wir uns die Art des Sieges hätten aussuchen dürfen, wäre es dieser gewesen", gab Southgate nach Abpfiff zu. "Normalerweise will man nicht, dass es soweit kommt, aber wir sind unglaublich glücklich für die Fans und das ganze Land", stimmte Torhüter Jordan Pickford zu. "Das gibt uns das nötige Selbstbewusstsein für das Spiel gegen Schweden."

Drei Siege fehlen England noch. Die vermeintlich schwerste Aufgabe hat man am Dienstag gemeistert. Wie sangen doch Baddiel, Skinner und Broudie 1998, nur Sekunden nach Köpkes Parade gegen Southgate?

"We still believe."

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