Uwe Gensheimer ließ die Ehrung für den Spieler des Spiels mit versteinerter Miene über sich ergehen, klatschte mit den Teamkollegen ab und verschwand wie bereits vor der Partie angekündigt wortlos aus der Kindarena von Rouen.
Es war die letzte Aktion eines Tages, an dem der letzte, eigentlich längst nicht mehr nötige Beweis geliefert wurde: Gensheimer trägt die Kapitänsbinde beim DHB aus einem ganz bestimmten Grund - weil er der perfekte Anführer und ein riesiges Vorbild ist.
"Das war großartig", sagte Dagur Sigurdsson auf den 30-Jährigen angesprochen. Der als emotionaler Eisblock verschriene Isländer hatte in diesem Moment glasige Augen, nur mit Mühe und Not hielt der Bundestrainer die eine oder andere Träne zurück, die ihm über die Wangen zu kullern drohte.
15 Würfe, 13 Tore
Nur fünf Tage nach dem unerwarteten Tod seines 60-jährigen Vaters Dieter und 24 Stunden nach seiner Ankunft im Mannschaftsquartier hatte Gensheimer zuvor eine Leistung auf die Platte gezaubert, die kaum in Worte zu fassen ist.
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Der Linksaußen stand die kompletten 60 Minuten auf dem Feld, war mit 13 Toren bester Werfer, versenkte 87 Prozent seiner Versuche und verwandelte alle acht Siebenmeter. Ganz nebenbei war er auch in der Phase einer der besten DHB-Akteure, als die Partie in der zweiten Halbzeit zu kippen drohte.
Dabei hätten Mitspieler, Trainer, Funktionäre, Fans und Medien natürlich vollstes Verständnis gehabt, wenn sich Gensheimer die Reise in den Norden Frankreichs gespart hätte. Doch der Mannheimer, der im Sommer von den Rhein-Neckar Löwen zu Paris Saint-Germain gewechselt war, hatte erklärt: "Ich werde die Weltmeisterschaft spielen. Das hätte mein Vater so gewollt."
DHB-Team verneigt sich vor Gensheimer
"Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich heute mehr über Uwe als über den Sieg der deutschen Nationalmannschaft gefreut", sagte der sichtlich bewegte DHB-Vizepräsident Bob Hanning: "Er ist ein großartiger Mensch und ein großartiger Kapitän."
"Ich habe einfach einen unglaublichen Respekt dafür, was er geleistet hat. Ich habe sogar auf dem Spielfeld eine Gänsehaut verspürt", fügte Rückraumspieler Julius Kühn hinzu.
Die Mannschaft hatte Gensheimer, der gemeinsam mit Teammanager Oliver Roggisch nach Frankreich fuhr und in der kommenden Woche zur Beerdigung nach Deutschland zurückkehren wird, am Donnerstagabend einen herzlichen Empfang in Rouen geboten.
Alle ließen ihn spüren, wie sehr sie es zu schätzen wissen, dass er in dieser Situation die Familie im Badischen verlässt, um für das DHB-Team zu spielen.
Dass er seine Sache angesichts der psychisch enorm schwierigen Situation so hervorragend lösen würde, konnte allerdings keiner ahnen. "Das war Wahnsinn. Er hat uns mit seiner Souveränität im Spiel gehalten. Das war schon groß", sagte Silvio Heinevetter: "Es gibt den Menschen Uwe und den Handballer Uwe. Es ist hart, aber man muss auch den Schalter umlegen können. Ich bin froh, dass er hier ist und uns hilft."
Heinevetter hält überragend
Heinevetters Leistung drohte angesichts der berechtigten Lobeshymnen auf Gensheimer fast ein wenig unterzugehen. Der Torhüter der Füchse Berlin, der sich seit Wochen in glänzender Verfassung präsentiert und deshalb den Vorzug vor Andreas Wolff erhielt, war nämlich neben Uns Uwe der zweite DHB-Akteur, der vollends zu überzeugen wusste.
Der 32-Jährige war von der ersten Sekunde an im Spiel und entsprechend schnell in den Köpfen der Ungarn. Er wehrte 14 von 36 Würfen ab und kam somit auf eine Gesamtquote von 39 Prozent.
"Unsere Leistung ist noch ausbaufähig. Wir haben unser Spiel nicht über 60 Minuten durchgebracht. Es war noch nicht alles Gold, was geglänzt hat", wollte Heinevetter den Sieg nicht überbewerten. Richtig ist: Ohne die Paraden Heinevetters wäre Ungarn zweifelsohne in der zweiten Halbzeit noch weiter als bis auf ein Tor herangekommen.
"Zufriedenheit ist fehl am Platze"
Doch am Ende zählt zum Auftakt eines großen Turniers, das für Deutschland am Sonntag mit der Partie gegen Chile (14.45 Uhr im LIVETICKER) weitergeht, immer nur der Sieg. Und dieser bedeutete immerhin den Ausbau einer stolzen Serie. Die letzte Auftaktniederlage bei einer WM hat es für den DHB vor 43 Jahren (11:12 gegen Dänemark) gegeben.
"Es war ein sehr hartes und schwieriges Auftaktspiel. Der Sieg ist verdient, wir haben immer geführt", sagte Sigurdsson, während Hanning einräumte, dass "das Ergebnis deutlicher als der Spielverlauf" war.
Letztlich brachte es Patrick Groetzki auf den Punkt: "Das war absolut okay. Doch Zufriedenheit ist fehl am Platze. Die sollte man am Ende eines Turniers haben."
Und das soll für den Europameister von 2016 möglichst erst am 29. Januar nach dem Finale in Paris gekommen sein.
Die WM 2017 im Überblick