"Wir haben gegen Kroatien mit einem Tor verloren nach einem Riesenkampf. Ist das in Deutschland der Maßstab, dass danach der Trainer infrage gestellt wird, wenn man Kroatien nicht schlägt? Dann muss ich das so hinnehmen, ich glaube es aber nicht. Wir haben sechs Ausfälle, deshalb ist es schon lobenswert, wie diese Mannschaft sich ins Turnier gekämpft hat."
Die zahlreichen Ausfälle sind nicht wegzudiskutieren. Das Fehlen von Martin Strobel, Simon Ernst, Tim Suton, Niclas Pieczkowski, Steffen Weinhold, Fabian Wiede und Franz Semper fällt natürlich schwer ins Gewicht. Vor allem Weinhold und Wiede hätten der deutschen Mannschaft bei der EM im Rückraum deutlich mehr Möglichkeiten eröffnet. Und es ist natürlich Prokops gutes Recht, darauf hinzuweisen.
Ob es hilfreich für das Selbstvertrauen der Spieler ist, die für die fehlenden Akteure in die Bresche springen, wenn diese Ausfälle immer wieder von DHB-Seite thematisiert und als Entschuldigung hergenommen werden, ist eine andere Frage. Das ganz große Vertrauen vermittelt man diesen Spielern so womöglich nicht. Dagur Sigurdsson hat beispielsweise bei der EM 2016 in Polen die vielen Ausfälle nie erwähnt, dafür aber konsequent das vorhandene Personal starkgeredet.
Prokops Frage, wonach es der deutsche Maßstab zu sein scheine, dass ein Trainer nach einer Niederlage gegen Kroatien infrage gestellt wird, ist ein falscher Ansatz. Es gab zwar Stimmen, die das vielleicht zu lange Festhalten an Julius Kühn in der zweiten Halbzeit dem Bundestrainer angelastet haben. In der deutlichen Mehrheit aller Kritiken stand die Partie gegen die Kroaten an sich allerdings nicht ansatzweise im Mittelpunkt. Im Gegenteil: Der starke Auftritt wurde trotz der Niederlage meistens richtigerweise gelobt.
Vielmehr ging es um die insgesamt schlechte Vorrunde in Trondheim mit dem enorm enttäuschenden Auftritt gegen Spanien. Die Frage, warum das DHB-Team eines von zwei absoluten Schlüsselspielen auf dem erhofften Weg ins Halbfinale von der ersten Minute an in den Sand gesetzt hat, muss erlaubt sein. Offensichtlich war die Mannschaft auf diese Partie zumindest mental nicht gut genug vorbereitet.
"Mein Maßstab ist die Leistung der Mannschaft. Auch, wenn wir gegen Österreich verloren und dabei bis zum Ende gefightet hätten wie gegen Kroatien. Ich weiß, dass wir ein Ergebnisland sind, aber das steht für mich nicht an erster Stelle. Ich möchte Spiele gewinnen, die Mannschaft möchte Spiele gewinnen, aber das Gefühl, wie wir hier zusammenstehen und auftreten, wie wir diese EM nutzen, das ist viel entscheidender."
Deutschland ist nicht mehr oder weniger ein Ergebnisland wie alle anderen Länder auch. Und selbstverständlich muss das Ergebnis im Leistungssport - erst recht bei einer deutschen Handball-Nationalmannschaft und während eines großen Turniers - an erster Stelle stehen. Alles andere würde die klar formulierten Ziele, wonach der DHB konstant zur Weltspitze zählen und immer um Medaillen mitspielen möchte, ad absurdum führen. Das Problem bei dieser EM: Deutschland hat beide entscheidenden Spiele verloren.
Richtig ist, dass die deutsche Mannschaft nach dem Nackenschlag gegen Kroatien (das Ziel Halbfinale war damit nicht mehr zu erreichen) eine überragende Reaktion gezeigt hat. Prokop ist es im Eiltempo gelungen, seine Truppe wieder aufzurichten und gemeinsam mit dem Team ein neues Ziel festzulegen.
Den angesprochenen Zusammenhalt, der für das häufig über die Emotionen ins Spiel kommende DHB-Team so wichtig ist, hätte sich allerdings von EM-Beginn an viel stärker auf der Platte widerspiegeln müssen. In der leeren Halle im dunklen Trondheim war davon nicht viel zu sehen.
Es fällt schwer, eine Erklärung dafür zu finden, warum die deutsche Mannschaft verglichen mit der Hauptrunde in der Vorrunde ein so radikal anderes Gesicht gezeigt hat.
"Ich glaube, man sollte den Maßstab entwickeln, wie spielt diese Mannschaft, welches Gefühl gibt sie dem Publikum und sich selber und wie entwickelt sie sich weiter. Und das hat man glaube ich gesehen, das war für uns ein Spiel in die richtige Richtung."
Die positive Entwicklung während der EM 2020 ist unübersehbar. Die Mannschaft hat in den ersten drei Partien in Wien überzeugt und die Fans mitgerissen. Noch einmal: All das war während der Vorrunde in Norwegen aber nun einmal nicht der Fall.
Dass sich die Mannschaft auch grundsätzlich unter Prokop weiterentwickelt, ist allerdings schwer zu erkennen. Im Vergleich zur Heim-WM 2019 war die jetzige EM nicht nur vom nackten Ergebnis her eher ein Rückschritt. Die desolate EM 2018 einmal ganz ausgespart.
Die Kritik von Daniel Stephan kann in diesem Zusammenhang auf gar keinen Fall pauschal als Blödsinn abgestempelt werden, wie dies DHB-Vizepräsident Bob Hanning getan hat. Der frühere Welthandballer bemängelte den nach wie vor statischen Angriff, die vielen Auswechslungen, die die Spieler eher verunsichern würden und die Auszeiten, aus denen mehr rauszukitzeln sei. Stephans Fazit im Sportbuzzer: "Prokop hat der Mannschaft keine Stabilität gegeben."
Ruft man sich alle Partien der bisherigen EM ins Gedächtnis und zieht ein Gesamtfazit, steckt in jedem dieser Kritikpunkte mindestens ein Fünkchen Wahrheit. Im Rückraum fehlen häufig adäquate Lösungen. Die Auswechslungen sind nicht immer nachvollziehbar und die wenig emotionalen Auszeiten sind seit langer Zeit ein Thema.
Fazit
Prokops Abwehrhaltung ist menschlich mehr als verständlich. Niemand kann nämlich abstreiten, dass er vom ersten Tag seiner Amtszeit an einen schweren Stand hatte. Und dieser wurde durch den völlig verkorksten Auftakt bei der EM 2018 freilich nicht leichter. Trotzdem muss Kritik erlaubt sein, wenn eine Handballnation wie Deutschland dreimal in Folge ohne Medaille bleibt und die Chancen darauf häufig auf die gleiche Art und Weise verspielt werden. Es ist weder alles schlecht, noch darf man sich vormachen, dass nach einem fünften oder sechsten Platz bei einer EM alles gut gelaufen ist.