"Frustrierender Normalzustand für die Deutschen": Das große EM-Resümee

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Die tanzenden Jungstars symbolisieren Spaniens fußballerische Wiedergeburt, ein Saxophonist Deutschlands atmosphärische - und ein Lockenkopf symbolisiert das bittere Aus des DFB-Teams. Der Wolfsgruß löst eine diplomatische Krise aus, die Niederländer hüpfen van links naar rechts, dafür stehen die Öffis oft still. Zehn prägende Bilder und Geschichten der EM.

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Yamal und Williams spielen, tanzen, feiern: Spaniens fußballerische Wiedergeburt

Ein Traumtor hier, ein Tänzchen dort. Schere-Stein-Papier darum, wer nach Abpfiff zuerst aus der Wasserflasche trinken darf. Zwei Geburtstagsfeste an den beiden Tagen unmittelbar vor dem Finale - und dann zur Krönung noch der Titel. Lamine Yamal und Nico Williams kamen in den vergangenen vier Wochen aus dem Spielen, Tanzen und Feiern gar nicht mehr raus.

Spaniens Führung gegen England bereitete der gerade erst 17 Jahre alt gewordene Yamal seinem gerade erst 22 Jahre alt gewordenen Spielpartner Williams vor. Obwohl Yamal laut deutschem Jugendarbeitsschutzgesetz so spät abends eigentlich gar nicht mehr hätte arbeiten dürfen. Aber was ist schon Arbeit? Danach schaute das jedenfalls nicht aus, was die beiden bei dieser EM veranstalteten.

Mit ihren spektakulären Auftritten avancierten Yamal und Williams zu den Gesichtern der spanischen Wiedergeburt. Trainer Luis de la Fuente erfand die Mannschaft fußballerisch neu und führte sie erstmals seit der goldenen Ära zwischen 2008 und 2012 wieder zu einem Triumph bei einem großen Turnier.

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Notfalls ein Fallrückzieher in der Nachspielzeit: Englands dramatischer Weg ins Finale

Trotz der hochkarätigsten Offensive spielte England mit den langweiligsten Fußball des Turniers - gleichzeitig aber auch den dramatischsten. Im Achtel-, Viertel- und Halbfinale geriet die Mannschaft von Trainer Gareth Southgate jeweils in Rückstand, rettete sich aber dennoch stets irgendwie eine Runde weiter.

Dank Jude Bellinghams Fallrückzieher gegen die Slowakei, in Kombination aus purer Schönheit und Dramatik der wohl beste Treffer des Turniers. Dank eines gewonnenen Elfmeterschießens gegen die Schweiz, Southgate hat Englands einstige Angst-Disziplin mit wissenschaftlichen Ansätzen in eine Stärke transformiert. Dank Joker Ollie Watkins gegen die Niederlande. Ein Spiel dauert 90 Minuten (oder länger) und am Ende gewinnt immer England, das Real Madrid des Verbands-Fußballs.

Dieser aufgrund des exquisiten Spielermaterials so unbefriedigende wie riskante Ansatz klappte bis zum Finale. Dort schlug Spanien England dank Mikel Oyarzabals Treffer kurz vor Schluss schließlich mit den eigenen Mitteln. Die Heimkehr des Fußballs muss weiter warten.

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Saxophonist Andre Schnura und die neue Begeisterung um das DFB-Team

Deutschland gewann bei der Heim-EM zwar keinen Titel, dafür aber die verlorenen Herzen seiner Anhänger zurück. Seit dem EM-Halbfinale 2016 war das DFB-Team von Tiefpunkt zu Tiefpunkt geeilt, wurde in der deutschen Öffentlichkeit eher verspottet als bejubelt. Der Sommer 2024 ging als das Ende der finsteren Jahre in die Geschichte ein. Als neue deutsche Einheit zwischen Mannschaft und Fans.

Major Tom avancierte zur Hymne der Nationalmannschaft, der Saxophonist Andre Schnura unverhofft zum Einheizer der Nation. In welcher Stadt auch immer das DFB-Team spielte, irgendwann tauchte der zuvor völlig unbekannte, gerade arbeitslos gewordene Musiklehrer auf, spielte seine Lieder und die Menge feierte mit. Wieder stolz in schwarz-rot-gold, oder auch im jetzt schon ikonischen pinken Auswärtstrikot. Nun liegt es an Bundestrainer Julian Nagelsmann und den Spielern, die Euphorie aufrechtzuerhalten und nach den Herzen auch den langersehnten Titel zu gewinnen.

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Marc Cucurella: Der Lockenkopf symbolisiert Deutschlands EM-Aus

Das Gesicht des deutschen Ausscheidens ist 25 Jahre alt, hauptberuflich Linksverteidiger des FC Chelsea, trägt markante Locken und den klingenden Namen Marc Cucurella. Tief in der Verlängerung des Viertelfinals blockte er beim Stand von 1:1 mit seiner linken Hand einen Schuss von Jamal Musiala ab. Der englische Schiedsrichter Anthony Taylor verzichtete auf einen Elfmeterpfiff, wenig später köpfelte Mikel Merino Spanien weiter.

Die deutsche Wut ergoss sich bei Spaniens Halbfinale in München und auch beim Finale von Berlin über Cucurella, bei jedem Ballkontakt wurde er gnadenlos ausgepfiffen. Ein unwürdiges Schauspiel. Sein Handspiel war offensichtlich unabsichtlich, für die Entscheidung des Schiedsrichters konnte er nichts. Die Pfiffe seien ihm "eigentlich egal", betonte Cucurella. "Aber gleichzeitig fühlte es sich auch ein wenig traurig an. Einige Leute haben damit Tickets verschwendet, die auch an Fans hätten gehen können, die das Spiel wirklich genossen hätten."

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Naar links, naar rechts: Die ikonischen Fanmärsche der Niederlande

Vorne der Oranjebus. Direkt dahinter die Büsten der niederländischen Fußball-Ikonen Johan Cruyff, Marco van Basten, Ruud Gullit, Dennis Bergkamp und Arjen Robben. Dann ein orangenes Menschenmeer, umhüllt von Rauch und Fahnen und Konfetti, das van links naar rechts hüpft und zurück. Die niederländische Nationalmannschaft scheiterte zwar im Halbfinale, ihre Anhänger gewannen dafür die Fanmarsch-Europameisterschaft.

Nach der Corona-EM 2021 und den Weltmeisterschaften in Russland und Katar war diese EM in Deutschland ein Fest der Fankultur. Farbenfroh, ungezwungen, rauschend und berauschend. Einfach wunderbar. Besonders das Konzept der Fanmärsche bewährte sich. Riesige Menschenmassen schlängelten sich durch die Straßen der deutschen Großstädte. Anwohner warfen Lächeln oder Bierdosen aus ihren Fenstern, die Fans ihre Arme dafür frenetisch nach oben. Hey, hey, hey!

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Dortmunds Stadion-Wasserfall: Das Wetter spielte nicht immer mit

Beim Sommermärchen 2006 strahlte nicht nur Helikopter-Kaiser Franz Beckenbauer alltäglich vom Himmel, sondern auch die Sonne. Die Neuauflage 18 Jahre später kam deutlich regnerischer daher. In aller Regelmäßigkeit blitze und donnerte es und schüttete es in Strömen. Symbolbild: Dortmunds Stadion-Wasserfälle.

Erstmals zu bewundern beim Gruppenspiel zwischen der Türkei und Georgien, zeigte sich der spektakuläre Wasserfall auch bei weiteren Partien. Deutschlands Achtelfinale gegen Dänemark musste wegen eines heftigen Gewitters sogar unterbrochen werden, zwei Dänen tanzten dennoch unter dem Strahl zwischen Nord- und Osttribüne. Vor Anpfiff des englischen Halbfinal-Triumphs gegen die Niederlande rutschte ein Engländer auf dem Bauch durch die Wassermassen. Wie Experten errechneten, ist Dortmunds Stadion-Wasserfall mit einer Höhe von 62 Metern der siebthöchste Deutschlands.

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Demirals Wolfsgruß: Die EM stand im Zeichen der Politik

Europa ist ein Kontinent in politischem Aufruhr, zwangsläufig kam auch die EM nicht ohne Politisierung aus. Kylian Mbappé und andere französische Nationalspieler wendeten sich beispielsweise mit Wahl-Empfehlungen an ihr Volk - und durften bei der Parlamentswahl eine überraschende Niederlage des rechtsextremen Rassemblement National bejubeln.

Für die größte Aufregung und sogar eine diplomatische Krise zwischen Deutschland und der Türkei sorgte unterdessen Merih Demiral. Nachdem der Innenverteidiger seine Mannschaft mit einem Doppelpack gegen Österreich ins Viertelfinale geköpfelt hatte, zeigte er den höchst umstrittenen Wolfsgruß. Das Erkennungszeichen der rechtsextremen Grauen Wölfe ist in vielen europäischen Ländern verboten, nicht aber in Deutschland.

Die UEFA sperrte Demiral, Deutschland und die Türkei bestellten kreuzweise ihre Botschafter ein, der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdogan reiste spontan zum Viertelfinale gegen die Niederlande nach Berlin, tausende türkische Fans zeigten beim letztlich abgebrochenen Fanmarsch sowie im Stadion den Wolfsgruß. Tagelang beherrschten heftige Debatten die Berichterstattung.

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Bahn-Chaos: Nicht nur die Fans mussten sich ärgern

Die Züge der Deutschen Bahn schafften es bei der EM zwar nur selten pünktlich in den sogenannten Ziel- und Endbahnhof, dafür aber immerhin in die renommierte New York Times. Unter dem Titel "Euro 2024 und die deutsche Effizienz: Vergesst alles, was Sie zu wissen glaubten" rechnete Journalist Sebastian Stafford-Bloor mit Deutschlands Öffis ab und posaunte die seit vielen Jahren hierzulande bekannten Mängel in die große, weite Welt hinaus. "Die unzähligen Verspätungen und Unterbrechungen im Zugnetz sind keine Überraschung, sondern ein frustrierender Normalzustand für die Deutschen."

Überhitzte und völlig überfüllte U-Bahnen, die nach dem Eröffnungsspiel in München ohne Informations-Durchsagen endlos in Tunneln verharrten. Engländer, die aufgrund fehlender Verbindungen in Gelsenkirchen mehrere Kilometer im Regen zu Fuß ins Stadtzentrum marschieren mussten. Österreicher, die bei der Anreise zum ersten EM-Spiel in Düsseldorf ironischerweise ausgerechnet in der deutschen Grenzstadt Passau strandeten. Und so weiter. Beziehungsweise: nicht weiter.

Aber nicht nur Fans litten unter der Bahn, sondern auch Spieler und Funktionäre. Die niederländische Nationalmannschaft scheiterte mit dem kühnen Vorhaben, auf Schienen vom Teamcamp in Wolfsburg zum Halbfinal-Austragungsort Dortmund zu reisen. Aufgrund einer Streckensperrung musste die Elftal kurzfristig aufs Flugzeug ausweichen. Die angedachte Pressekonferenz mit Bondscoach Ronald Koeman wurde abgesagt. Senk you for travelling with Deutsche Bahn!

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Scottish Invasion: Die prägendste Fan-Gruppierung der EM

Egal durch welche deutsche Stadt man während der Gruppenphase spazierte, egal welchen Zug man bestieg - die Schotten waren schon da mit ihren Dudelsäcken, karierten Röcken und dem Schlachtruf "No Scotland, no Party". An der famosen Stimmung der Fans änderte auch das enttäuschende Abschneiden ihrer Mannschaft samt Vorrunden-Aus nichts.

"Wir wussten vorher schon, dass unsere Mannschaft nicht die beste Europas sein wird. Deshalb war es unser Auftrag, die besten Fans Europas zu sein", sagte Hamish Husband, Sprecher der Tartan Army, im Interview mit SPOX. Man darf resümieren: Auftrag erfüllt! Insgesamt 200.000 Schotten, rund vier Prozent der Gesamtbevölkerung, reisten während der EM durch Deutschland. Die Niederländer zeigten zwar spektakulärere Fanmärsche und die Türken sorgten bei ihrem Semi-Heimturnier in den Stadien für mehr Stimmung. Aber insgesamt waren die Schotten die prägendste Fan-Gruppierung dieser EM.

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Cristiano Ronaldos Tränen: Es war nicht die EM der Superstars

Obwohl das Spiel noch lief, heulte Cristiano Ronaldo los. In der Verlängerung des Achtelfinals gegen Slowenien hatte der 39-jährige Superstar vom Punkt vergeben und daraufhin die Kontrolle über seine Emotionen verloren. Beim anschließenden Elfmeterschießen sollte Ronaldo zwar treffen und mit seiner Mannschaft immerhin ins Viertelfinale einziehen. Dort folgte aber das Aus gegen Mbappés Frankreich. Beide Superstars blieben im direkten Duell blass und ohne Tor, Frankreich scheiterte im Halbfinale an Spanien.

"Mein Turnier war ein Reinfall", bekundete Mbappé anschließend. Ausgelaugt von einer langen Saison mit Paris Saint-Germain, ausgebremst von einer Maske, die er nach seinem gegen Österreich erlittenen Nasenbeinbruch tragen musste. Neben Ronaldo und Mbappé enttäuschten auch die übrigen Superstars des Turniers. Harry Kane und Jude Bellingham erreichten zwar das Finale, zeigten auf dem Weg dahin aber nur sehr vereinzelte Glanzlichter, Luka Modric scheiterte mit Kroatien tragisch in der Vorrunde. Die überzeugendsten Mannschaften der EM profitierten von einem starken Kollektiv: Deutschland und Spanien.