Tiger, H Bomb und Wunderkinder

Jan Höfling
08. März 201619:58
Viswanathan Anand (r.) war von 2007 bis 2013 Weltmeistergetty
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Ab dem 10. März steht das Kandidatenturnier 2016 in Moskau an. Acht der besten Schachspieler der Welt ermitteln innerhalb von zweieinhalb Wochen im historischen Gebäude des Central Telegraph den Gegner von Weltmeister Magnus Carlsen. SPOX stellt die Teilnehmer vor und wirft einen Blick auf das Format.

Viswanathan Anand (Elo 2762): Eigentlich muss der 46-jährige Inder, der seit 1996 mit seiner Frau und Managerin Aruna verheiratet und seit fünf Jahren Vater eines Sohnes ist, kaum noch vorgestellt werden. Anand ist nicht nur der 15. Weltmeister, sondern einer der größten Spieler aller Zeiten. Der Tiger von Madras, der mit einer extremen Auffassungsgabe sowie nicht minder beeindruckenden Intuition glänzt, war schon in seiner Jugendzeit eine Ausnahmeerscheinung. Im Alter von sechs Jahren erlernte er das Schachspielen von seiner Mutter und erlangte als 18-Jähriger als erster Inder den Titel des Großmeisters.

Sein Aufstieg in die Welt-Elite, der mit dem im Laufe seiner Karriere reifenden Spielstil und dem Eliminieren von Angriffsflächen sowie einer großen Variabilität bei der eigenen Eröffnung einherging, war deshalb nur eine Frage der Zeit. Es hagelte Turniersiege en masse, lediglich Legende Garry Kasparov konnte dem Lightning Kid, so sein damaliger Spitzname, im Blitz- sowie Schnellschach Gegenwehr leisten. Kasparov war es auch, der Anand 1995 die Chance auf den ersten WM-Titel raubte und beim Inder einen bleibenden Eindruck hinterließ.

Zwar feierte Vishy weiterhin Erfolge und sammelte Auszeichnungen, es dauerte allerdings zwölf Jahre und einen Sieg in der FIDE Knockout-Weltmeisterschaft des Jahres 2000, ehe er im Jahr 2007 endlich die unangefochtene WM-Krone errang und diese nach Titelverteidigungen gegen Veselin Topalov und Boris Gelfand erst im November 2013 an Magnus Carlsen wieder abgab. Nach einem Sieg beim 2014er Kandidatenturnier musste er sich erneut dem Norweger geschlagen geben. Der Ehrendoktor der University of Hyderabad spricht mehrere Sprachen und engagiert sich privat für soziale Projekte.

Sergey Karjakin (2760): Wenn man sich die Definition eines Wunderkindes vor Augen führen möchte, dürfte Karjakin wohl ein geeignetes Beispiel sein. Der gebürtige Ukrainer, der mit fünf Jahren das Schachspielen begann und sich bereits im Alter von elf Jahren und elf Monaten den Titel als Internationaler Meister sicherte, hält einen nicht ganz unbedeutenden Rekord. Am 12. August 2002 und damit im Alter von zwölf Jahren und sieben Monaten krönte er sich zum jüngsten Schach-Großmeister, den es jemals gab. Folgerichtig erklärte Kasparov ihn als "einen der künftigen Favoriten auf den Weltmeistertitel". SPOXspox

Ein Sieg gegen den damaligen Weltmeister Vladimir Kramnik in einer Partie Blitzschach, sowie der Triumph bei der Schnellschach-WM 2012 gegen Carlsen stehen ebenfalls zu Buche. Karjakin, der im Alter von 19 Jahren die russische Staatsbürgerschaft annahm, um von der Unterstützung des Verbandes sowie den besseren Trainingsbedingungen profitieren zu können, unterstrich somit die Erwartungen. Hinzu kommen weitere Titel sowie ein zweiter Platz beim Kandidatenturnier 2014. Die Ehrung zum "Verdienten Meister des Sports" Russlands war die Folge eines Weges in die Welt-Elite.

Zwar wich der 26-Jährige, der 2004 mit der Ukraine Olympiasieger wurde, nicht von seinem eher unspektakulären Spielstil ab, verbesserte sich allerdings dennoch stetig. Lediglich sein überschaubares Eröffnungsrepertoire scheint dem großen Streich noch immer im Weg zu stehen. Im Oktober 2015 sicherte sich Karjakin in Baku überzeugend den Weltpokal und somit die Teilnahme am diesjährigen Kandidatenturnier.

Peter Svidler (2757): Seinen eigentlichen Durchbruch hatte Svidler, als er im Alter von 18 Jahren bei der russischen Meisterschaft eindrucksvoll seine Gegenspieler aus dem Weg räumte und sich den Titel sicherte. Im gleichen Jahr wurde der Russe zum Großmeister. In der Folge gewann er den Titel als bester Spieler des Landes noch sechs weitere Mal, zuletzt im Jahr 2013 - und das bei der härtesten Landesmeisterschaft, die es gibt.

Auch der geteilte zweite Platz mit Anand beim WM-Turnier 2005 dürfte viele seiner Fans im Gedächtnis geblieben sein. Lediglich Veselin Topalov war besser. Hilfreich ist dem 38-Jährigen, der als ausgefuchster Spieler und Defensivexperte gilt und bislang an drei Weltmeisterschaften teilnahm, dabei die Fähigkeit, sich auf Knopfdruck fokussieren zu können.

Dies bewies er unter anderem beim Kandidatenturnier 2013, für das er sich mit einem Erfolg beim Weltcup in Khanty-Mansiysk qualifizieren und bei dem er nach einem Sieg über Carlsen den dritten Platz im Endklassement belegen konnte. Er gilt zudem als harter Arbeiter.

Fabiano Caruana (2794): Eigentlich wuchs Caruana, der in Miami geboren wurde, in den Vereinigten Staaten auf. Dort wurde er in New York im Alter von fünf Jahren von Trainerlegende Bruce Pandolfini entdeckt. Dennoch tritt der 23-Jährige aufgrund seiner Wurzeln inzwischen für Italien an. Auch der Umzug nach Europa als Zwölfjähriger, der seinem Spiel zugutekommen sollte, spielte eine Rolle. Sein früher sehr aggressives Spiel wandelte sich und wurde universeller.

Es dauerte trotzdem noch zwei Jahre, ehe dem jüngsten italienischen Großmeister aller Zeiten, der bei einem Turnier in Budapest im Alter von 14 Jahren, elf Monaten und 20 Tagen die letzte Norm erfüllte, 2012 der Durchbruch gelang. Die Erfolge des harten Arbeiters können sich aber sehen lassen. Beleg gefällig? Seine beste Elo-Leistung bei einem einzelnen Turnier erzielte er in St. Louis 2013 mit 3103 und überbot somit die Bestmarke Carlsens (3002), die dieser 2010 erreichte.

Ferner sorgte ein Elo-Rating von 2844 Punkten, das dritthöchste, das es jemals gab, für Aufsehen. Er gilt als Spieler mit hervorragenden Rechenfähigkeiten und überzeugt dabei mit einer unglaublichen Konstanz. Aktuell liegt er auf Rang drei der Welt, sein Ziel ist jedoch der Titel als bester Spieler des Planeten. Außerdem darf er sich damit brüsten, dass niemand in den letzten Jahren so häufig gegen Carlsen gewonnen hat wie er selbst. Er ist so etwas wie der Albtraum des Champions. Seit 2015 geht er für die USA an den Start.

Hikaru Nakamura (2790): Der Großmeister, der als Sohn eines Japaners und einer Amerikanerin im Alter von zwei Jahren mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder aus Japan in die Staaten zog und heute für selbige antritt, fand mit sieben Jahren zum Schach. Sein Stiefvater Sunil Weeramantry, ein Schachexperte und -spieler, brachte ihm die Grundlagen bei. Mit 15 Jahren stieg Nakamura zum Großmeister auf. Ein Jahr später folgte der erste von drei Siegen bei den US-Meisterschaften.

Trotz der frühen Erfolge dauerte es allerdings eine Weile, ehe sich der inzwischen 28-Jährige in der Weltspitze etablierte. Oftmals schien eine fehlende Grundausbildung seinen taktischen Fähigkeiten im Weg zu stehen. Ein Ausrufezeichen setzte er etwa 2011 in Wijk aan Zee, als er vor Carlsen, Anand, Levon Aronian und Vladimir Kramnik siegte.

Inzwischen sind die Kritiker deshalb verstummt. Sein aggressiver und zuweilen äußerst kompromissloser Spielstil, der ihm den Spitznamen H Bomb einbrachte, und seine sehr lebendige Mimik, die teils wilde Grimassen zum Vorschein bringt, sorgt bei Organisatoren und Fans gleichermaßen für gute Laune. Er hat mit Caruana den Ruf als Amerikas größte Hoffnung, den WM-Titel nach dem legendären Bobby Fischer wieder in die USA zu holen. Er gilt zudem als einer der besten Blitzschach-Spieler und arbeitet auch als Analyst und Kommentator.

Veselin Topalov (2780): Eigentlich ist der Bulgare, der im März 1975 geboren wurde, schon lange ein Teil der Welt-Elite, profitierte aber stark vom Rücktritt Kasparovs. Vor allem sein aggressives und auf Offensive ausgelegtes Spiel erfreute sich bei den Fans seit jeher großer Beliebtheit. Ein ernsthafter Titelkandidat war der inzwischen 40-Jährige dennoch nicht. Erst als er die 30-Jahre-Marke knackte und mit einem Sieg Kasparov in den Ruhestand schickte, war ihm mit dem Triumph bei der 2005er Weltmeisterschaft in Argentinien der Durchbruch vergönnt. Obendrauf gab es Platz eins in der offiziellen Weltrangliste.

Dennoch haftete ein Makel an seinem Erfolg. Titelverteidiger Kramnik nahm in Argentinien nicht am Turnier teil und galt somit noch bei einem Großteil der Fans als eigentlicher Weltmeister. Es folgte ein Jahr später ein Duell beider Großmeister, das in die Geschichte des Sports eingehen sollte - und das aus vielerlei Gründen. Topalovs Manager, Silvio Danailov, beschuldigte Kramnik, bei Toilettenbesuchen die Möglichkeit des Betrügens zu haben. Eine Anschuldigung, die auch die Organisatoren teilten. Aus Protest trat dieser zur fünften Runde nicht an, kehrte aber nach einigen Diskussionen wieder an das Schachbrett zurück.

Kramniks Sieg im Tiebreak warf Topalov nicht nur mental zurück, sein Ansehen hatte aufgrund der Aussagen in der Schachwelt gelitten. Nach einer Niederlage in der letzten WM-Partie gegen Anand im Jahr 2010 zog sich Topalov zurück, um seine damalige Verlobte zu heiraten und sich auf andere Dinge in seinem Leben zu fokussieren. Beim Kandidatenturnier will es der Bulgare nun allerdings nochmals wissen.

Anish Giri (2793): Der Großmeister, der 1994 in Sankt Petersburg geboren wurde, ist ein wahres Multitalent. Der Sohn eines nepalesischen Hydrologen und einer Russin spricht nicht nur vier Sprachen fließend, sondern zeigte bereits in jungen Jahren, was er am Brett zu leisten im Stande ist. Den Weg zum Schach fand er bereits im Alter von sieben Jahren. Zunächst fehlte es jedoch an geeigneten Gegenspielern, weshalb seine ersten Entwicklungssprünge aus dem Studium diverser Fachliteratur und dem Spielen im Internet resultierten.

Nach einem Abstecher nach Japan sowie einer kurzen Rückkehr nach Russland zog die Familie aufgrund der Arbeit seines Vaters, der eine Anstellung beim Forschungsinstitut Delft angenommen hatte, im Jahr 2008 in die Niederlande. Durch die Unterstützung des niederländischen Verbandes entwickelte sich Giri schnell weiter und erspielte sich mit 14 Jahren den Titel des Großmeisters, ein Jahr später gewann er die niederländische Meisterschaft und half zudem Anand sich auf den WM-Kampf im Jahr 2010 vorzubereiten.

Sein erstes Superturnier gewann er 2012 in Reggio Emilia und verwies dabei unter anderem Nakamura auf die Plätze. Selbst als Kommentator sorgt der 21-Jährige, der seit 2015 mit Sopiko Guramischwili verheiratet ist und Fußball sowie Tischtennis spielt, für Begeisterung.

Levon Aronian (2786): In der Welt der Wunderkinder und Schnellstarter wirkt Aronian, der sich neben dem Schachsport für Jazz sowie diverse Filmgenres begeistert, beinahe wie ein Außenseiter. Erst im Jahr 2005 mit 23 Jahren sorgte er mit dem Gewinn des Weltcups für Aufsehen, auch mit zwei Siegen bei Superturnieren überzeugte er. SPOX

In seiner Heimat Armenien hat er nicht zuletzt aufgrund dreier Goldmedaillen bei den Schacholympiaden 2006, 2008 und 2012 einen hervorragenden Stand, der sogar mit einem gewissen Heldenstatus einhergeht. Hinzu kommt ein Triumph bei der Team-WM im Jahr 2011. Vor allem die Arbeit an den eigenen Eröffnungen half dem als äußerst humorvoll geltenden Aronian, in der Welt-Elite seinen Platz zu finden. Inzwischen trauen dem gar nicht so ehrgeizigen Mann, der sich in unübersichtlichen Stellungen augenscheinlich wohl fühlt, nicht wenige gar den Sturz des Weltmeisters Carlsen zu.

Vor allem seine unglaubliche Vorstellungskraft und die daraus resultierenden genialen Entscheidungen machen Aronian gefährlich. Weltmeistertitel im Blitz- sowie Schnellschach und weitere Siege bei Superturnieren untermauern dies. Beim Kandidatenturnier 2013 reichte es allerdings nur zu einem ernüchternden vierten Platz, 2014 war sogar nur Rang sechs drin. Probleme bei den Eröffnungen gleicht er mit einem sehr starken Endspiel aus.

So läuft das Turnier: Acht der besten Spieler der Welt werden im historischen Gebäude des Central Telegraph in Moskau ein doppeltes Rundenturnier bestreiten, um den Herausforderer des aktuellen Schachweltmeisters zu ermitteln. Das System ist denkbar einfach.

Im Zeitfenster von zweieinhalb Wochen spielen die Kandidaten jeweils zwei Partien mit beiden Farben mit klassischer Bedenkzeit gegeneinander, was das Turnier zu einem 14-ründigen Event werden lässt. Die Bedenkzeit beträgt insgesamt 100 Minuten für 40 Züge sowie 50 Minuten für die folgenden 20 Züge. Für den Rest der Partie beträgt die Zeit mit einem Inkrement von 15 Sekunden ab Zug eins 15 Minuten.

Sollten zwei Spieler nach dem Absolvieren aller Partien gleich viele Siege auf dem Konto haben, so zählt zunächst der direkte Vergleich der punktgleichen Akteure. Sollte sich hierbei kein Sieger ergeben, so wird die Anzahl der gewonnen Partien herangezogen. Als viertes Kriterium fungiert die Feinwertung nach Sonneborn-Berger. Sollte es noch immer keine Entscheidung geben, findet als letzte Möglichkeit ein Stichkampf mit Schnellpartien statt.

Der Gewinner wird ab dem 11. November und damit drei Tage nach der Wahl des neuen US-Präsidenten in New York gegen den amtierenden Weltmeister antreten. Hierbei handelt es sich um Magnus Carlsen aus Norwegen. Das Preisgeld wird mindestens eine Million Euro betragen, es ist das zweite Mal seit 1995, das im Big Apple ein WM-Kampf ausgetragen wird.

Die Qualifikation auf einen Blick: Anand erhielt seinen Platz in Moskau als Vizeweltmeister, Karjakin als Sieger des FIDE-Weltpokals in Baku und Peter Svidler als Finalist des selbigen. Caruana qualifizierte sich über die Punkte, die der 23-Jährige beim FIDE Grand Prix 2014/2015 einfahren konnte. Gleiches gilt für Nakamura. Topalov sowie Giri erspielten sich die entsprechende Elo-Wertung im Jahr 2015. Der achte im Bunde, Aronian, erhielt vom Komitee eine Einladung und stach dabei unter anderem Kramnik aus.

Wer gilt als Favorit? Im Vorfeld einen Favoriten auszumachen, fällt in diesem Jahr scheinbar besonders schwer. Auch Weltmeister Carlsen will sich nicht festlegen. "Ich denke, das wird das offenste Kandidatenturnier, das es jemals gab. Einen Favoriten auszuwählen wäre unmöglich und ich denke, es wird vermutlich sehr knapp und entscheidet sich erst in der letzten Runde", sagte der Norweger chess24.com.