Als Kind träumt Schäfer von einer Karriere als Fußballprofi, ehe sein Leben im Alter von nur zwölf Jahren eine dramatische Wendung nimmt. Schäfers rechtes Bein ist nach der Diagnose Knochenkrebs nicht zu retten.
Im SPOX-Interview erklärt der 22-Jährige, warum er sein heutiges Leben nicht mehr eintauschen wollen würde und was es ihm bedeutet, ein Vorbild für junge Athleten zu sein.
Herr Schäfer, Sie haben im Sommer Ihren Weitsprung-Weltrekord auf 6,99 Meter ausgebaut. Was schießt Ihnen als Erstes in den Kopf, wenn Sie an den Sprung denken?
Leon Schäfer: Mir geht vor allem Freude durch den Kopf. Eine riesige Freude, dass ich es geschafft habe, noch einmal knapp 20 Zentimeter auf meinen vorherigen Weltrekord draufzulegen. Ich bin aber auch gleichzeitig dadurch noch hungriger geworden. Ich will auf jeden Fall noch mehr. Die 7-Meter-Marke muss fallen. Der Sprung hat mir gezeigt, was möglich ist, wenn ich richtig Gas gebe.
Wie weit kann es denn noch gehen?
Schäfer: Das ist eine gute Frage und wirklich schwer zu sagen. Im nächsten Schritt will ich die 7 Meter knacken und danach schaue ich gemeinsam mit meinem Coach, wie wir vielleicht noch mehr an der Technik feilen können. Aber wie weit es gehen kann? Ich weiß es nicht. Das macht es aber auch so spannend. Ich werde es soweit ausreizen wie nur irgendwie möglich.
Es ist jetzt fast zehn Jahre her, dass Ihr Leben mit der Diagnose Knochenkrebs eine dramatische Wendung genommen hat. Heute sind Sie Weltrekordler und ein Star der paralympischen Szene. Wie surreal fühlt sich das für Sie an?
Schäfer: Ich habe immer wieder diese Momente, an denen ich daran zurückdenke, wie ich meine Reise in mein völlig neues Leben begonnen habe. Es ist schon sehr krass, was in den vergangenen knapp zehn Jahren alles passiert ist. Es ist unglaublich, wie die Zeit fliegt. Ich erinnere mich noch so gut an meine ersten Wettkämpfe. Ich gebe zu, dass ich etwas stolz bin auf das, was ich bis jetzt erreicht habe und auf den Weg, den ich gegangen bin. Ich bin aber vor allem auch extrem gespannt, was alles noch kommt. Wenn ich mit meinen Leistungen und meiner persönlichen Story andere Menschen motivieren oder inspirieren kann, bedeutet mir das unheimlich viel.
Leon Schäfer: "Sorry, aber wir müssen das Bein abnehmen"
Wenn wir einen Sprung zurück an den Moment der Diagnose machen. Sie waren zwölf Jahre alt. Wie haben Sie diesen Moment in Erinnerung?
Schäfer: Ich weiß alles noch ganz genau. Meine Mutter ist nach Hause gekommen und hatte quasi die Diagnose im Gepäck. Sie musste mir dann sagen, dass ich Knochenkrebs habe und die Chemotherapie demnächst losgehen würde. Es hört sich komisch an, aber ich habe es relativ locker genommen. Ich wusste einfach überhaupt gar nicht, was auf mich zukommen würde. Ich wusste nur, dass ich erstmal eine Sport-Pause einlegen muss, aber dass es zu einer Amputation kommen würde, wusste ich nicht. Ich habe mich der Sache gestellt und direkt meiner Mutter gesagt: Okay, dann lassen wir mir jetzt eine Glatze schneiden, damit es nachher nicht so schlimm ist, wenn bei der Chemotherapie die Haare ausfallen. Ich war da relativ pragmatisch.
Mit 12 Jahren ist ein Gedanke an Krebs ja auch weit weg.
Schäfer: Ich hatte nicht eine Sekunde an Krebs gedacht. Ich hatte ein ziemliches Ei am Schienbein, aber ich dachte, dass ich einfach eine Beule davongetragen habe, als beim Eislaufen einer ausgerutscht und mit den Kufen mein Schienbein erwischt hatte. Ich habe auch ganz normal weitergelebt, weiter Fußball gespielt und auch meiner Mutter erstmal nichts erzählt. Ich hatte nur Probleme, wenn ich mit dem Schienbein irgendwo dagegen gekommen bin. Wir sind relativ spät zum Arzt und zunächst wurden dann auch Kalkablagerungen diagnostiziert, was eben nicht ganz gestimmt hat. Erst bei der Biopsie wurde der Knochenkrebs festgestellt, dann ging alles relativ schnell.
Haben Sie Angst bekommen?
Schäfer: Ich weiß nicht, ob ich es Angst nennen würde. Ich würde es eher so beschreiben, dass ich unglaublich gespannt war, was auf mich zukommen würde. Ich hatte einfach gar keine Ahnung. Die Ärzte haben mir dann erklärt, wie es mit der Chemotherapie ablaufen würde und wie die Zyklen aussehen. Für meine Psyche war es gut, dass ich nach vier Tagen im Krankenhaus immer drei Tage nach Hause gehen konnte. Das hat mir gutgetan. Es war natürlich nicht einfach, aber ich muss auch sagen, dass mich meine Familie in dieser Zeit sensationell unterstützt hat und ich diese Phase so gut durchstehen konnte.
Wann war klar, dass das Bein nicht zu retten ist?
Schäfer: Ich habe erst nach einigen Wochen erfahren müssen, dass der Krebs so weit fortgeschritten war, dass ich mein Bein nicht behalten würde können. Ich bin in die Uni-Klinik nach Münster gekommen, weil wir uns für eine Endoprothese entschieden hatten. Dort wird der kranke Knochen entfernt und du bekommst eine Metallstange eingesetzt. Das hat sich für uns viel besser angehört als eine direkte Amputation. Das Problem war aber, dass mein Fuß die Metallstange nicht angenommen hat und abgestorben ist. Ich hatte fünf weitere Operationen, bei denen alles Mögliche versucht wurde, um es doch noch zu schaffen, aber nach der sechsten OP ist der Arzt zu mir ans Bett gekommen und sagte mir: "Sorry, aber wir müssen das Bein abnehmen." Es hat einfach nicht funktioniert.
Leon Schäfer: "Ich würde nicht mehr tauschen wollen"
Ein Albtraum?
Schäfer: Ja. Das war nochmal ein sehr schlimmer Moment für mich, ich habe sofort bitterlich geweint. Verrückt an der Geschichte ist, dass ich später in der Reha ein paar Jungs mit einer Endoprothese getroffen und gesehen habe, dass Sport völlig unmöglich gewesen wäre. Die Einschränkungen wären enorm gewesen. Gerade wenn du noch wächst, musst du immer wieder nachoperiert werden, um die Metallstange länger zu ziehen. Sport wäre so für mich völlig weggefallen. Deshalb bin ich im Nachhinein ziemlich froh, dass es alles so gekommen ist. Es sollte so sein, es war Schicksal.
Wie lange haben Sie gebraucht, um sich nach der Amputation aus dem Loch zu befreien und wieder Lust am Leben zu bekommen?
Schäfer: Der Moment, als ich nach der OP aufgewacht bin, die Decke weggezogen habe und mein Bein nicht mehr da war, war brutal hart. Diesen Moment werde ich auch sicher nie vergessen. Aber ich habe es relativ schnell geschafft, die Situation für mich so anzunehmen und mir gesagt: Die Ärzte haben alles versucht, es sollte nicht sein, so ist es jetzt. Ich bin direkt im Krankenhaus mit den Krücken rumgerannt und im Rollstuhl herumgepaced. (lacht)
Dennoch war Ihr großer Traum von einer Fußballer-Karriere dahin. Julian Brandt kommt aus Ihrer Gegend und ist heute Nationalspieler. Was macht es mit Ihnen, wenn Sie darüber nachdenken?
Schäfer: Ich hatte diese Momente, an denen ich mich dabei erwischt habe, wie ich daran denke, dass das auch mein Weg hätte sein können. Gerade wenn ich ein Fußballspiel angeschaut habe. Fußball war alles für mich, Ronaldinho war damals mein großer Held. Ich wollte so sein wie er. Aber diese Momente waren wirklich selten. Ich habe diese Gedanken sofort weggeschoben. Niemand kann sagen, wie es gelaufen wäre. Vielleicht hätte ich ja gar nicht die große Fußballerkarriere gemacht, vielleicht hätte ich mich verletzt, wer weiß das schon. Ich trauere diesem Fußball-Traum nicht mehr hinterher. Im Gegenteil. Ich bin komplett zufrieden mit meiner Situation und würde auch nicht mehr tauschen wollen.