Kaum hatte die Kugel seine Fingerspitzen verlassen, da wusste Ryan Crouser schon, wohin die Reise gehen würde. Wild brüllend sprang der Koloss durch den Ring und wirkte, als wolle er den Kampfrichter auffressen. Nach seinem Fabel-Weltrekord von 23,37 m sparte sich der unersättliche US-Stoßer aber den Nachtisch - die 31 Jahre alte Bestmarke seines Landsmannes Randy Barnes ausgelöscht zu haben, genügte dem Olympiasieger vorerst.
"Ich wollte diesen Weltrekord schon so lange. Jetzt fällt eine Riesenlast von mir", sagte der 28 Jahre Crouser, nachdem er die noch drei Jahre ältere Bestmarke Barnes' (23,12) am Freitag bei den Olympia-Ausscheidungen in Eugene/Oregon um einen irrwitzigen Viertelmeter überboten hatte.
Jener Rekord des notorischen Anabolika-Betrügers Barnes galt als einer jener "ewigen" Werte aus dunklen Leichtathletik-Tagen. Doch Crouser, dieses Mittelgebirge von Mensch (2,01 m/145 kg), hatte sich stets in Reichweite gesehen. "23,13 m" habe er mit Filzstift auf seinen Badezimmerspiegel gemalt, "damit ich mein Ziel immer im Blick habe".
Vor den Trials ahnte Crouser dann, dass seine Zeit gekommen sei. "Ich wusste, dass Stärke und Kraft da sind. Jetzt musste ich sie nur in die Kugel packen", sagte er. Das gelang ihm im vierten Versuch, als er sein 7,256 kg schweres Arbeitsgerät über - um die Weite zu veranschaulichen - die Länge eines Tennisplatzes pfefferte.
Was unglaublich klingt, wird bei weiterer Einordnung kaum nachvollziehbarer. Zumal Crousers Weltrekordler-Ahnenreihe aus im besten Fall umstrittenen und im Normalfall als Gauner enttarnten Kunstkraftpaketen besteht.
Crouser: "Erstmal einen schönen Doppel-Doppel-Hamburger"
Landsmann Barnes wurde zweimal wegen Dopings gesperrt, dessen Vorgänger Ulf Timmermann - Crousers Vorbild, den er in endlosen Youtube-Sitzungen studierte - als Musterschüler des DDR-Systems schwer belastet, beharrte aber auf seiner Unschuld. Über dessen Vorgänger Alessandro Andrei (Italien) wiederum tauchte ebenfalls reichlich diskreditierendes Material auf. Und Timmermanns DDR-Genosse Udo Beyer, von 1978 bis 1983 ununterbrochen Weltrekordler, gestand umfassend Doping.
Hinzu kommt: Vor Crousers Mondlandung hatte 25 Jahre lang im Freien kein Leichtathlet einen Weltrekord in den vier Wurfdisziplinen aufgestellt: Jene im Hammer- (Jurij Sedych/Sowjetunion) und Diskuswurf (Jürgen Schult/DDR) - beide von 1986 - scheinen völlig außer Reichweite, am Speerrekord des Tschechen Jan Zelezny (1996) knabbert immerhin derzeit Johannes Vetter.
Wenn dann ein Crouser die grotesken Giganten der Vorzeit übertrumpft, zumal nach einer Pandemie, in der zumindest nicht fanatisch auf Doping kontrolliert wurde, sind dann Zweifel berechtigt?
Nun, es sprechen auch viele sportliche Argumente für den gewaltigen Amerikaner. Er hat die Drehstoß-Technik perfektioniert, ist trotz seiner Maße ein Bewegungswunder und hat sich seit 2016 auf allerhöchstem Niveau stetig weiterentwickelt - im Januar brach er mit 22,82 m bereits Timmermanns Hallen-Weltrekord.
Crouser jedenfalls wollte nach dem vollbrachten Wunderwerk in Eugene analytisch nicht in die Tiefe gehen. "Ich hätte jetzt gerne erstmal einen schönen Doppel-Doppel-Hamburger", sagte der dann doch wieder Unersättliche. Und musste über neue Ziele nachdenken - hoffentlich war der Filzstift abwaschbar.