Vor nunmehr fast 26 Jahren krönte sich Jan Ullrich zum ersten deutschen Sieger der Tour de France und wurde in seiner Heimat zum Volksheld. SPOX blickt zurück auf den entscheidenden Antritt in den Pyrenäen, der den Grundstein zum Erfolg legte, und ein sensationelles Zeitfahren. Und fragt sich, wie man mit der Doping-Vergangenheit Ullrichs heute umgehen sollte.
Dieser Artikel wurde erstmals im Juni 2017 veröffentlicht.
Bis zur Krönung war es nur eine Frage der Zeit.
Am 15. Juli 1997 ist der 23 Jahre alte Rotschopf mit den Sommersprossen längst nicht mehr nur eingefleischten Radrennsport-Fans ein Begriff. Geboren in Rostock, DDR-Jugendmeister, Amateur-Weltmeister 1993, Profi in der magentafarbenen Kluft des Team Telekom seit 1995. Ein Jahr später verhilft er seinem dänischen Kapitän Bjarne Riis dazu, die Ära von Tour-Dominator Miguel Indurain zu beenden, wird selbst Zweiter und stellt sein außergewöhnliches Potenzial unter Beweis. Ein zukünftiger Tour-Sieger, raunt man in den Teamwägen von Festina, Banesto, Cofidis und Co. andächtig.
Aber an diesem 15. Juli ist Jan Ullrich immer noch Riis' Edelhelfer, obgleich er vor der zehnten Etappe, der zweiten Bergetappe der 84. Tour de France, bereits eineinhalb Minuten Vorsprung auf ihn herausgefahren hat und gerade mal 13 Sekunden auf das Maillot Jaune fehlen. Edelhelfer heißt: Tempo kontrollieren, Löcher stopfen, Riis vor Angriffen von Mitfavoriten wie Richard Virenque oder Marco Pantani schützen bzw. wieder heranfahren. Reagieren, nicht agieren.
Doch dann kommt der große Knall. Der Moment, in dem "Ulle" die Krone ergreift - und aus Deutschland eine Radsport-Nation macht.
Zumindest eine Zeit lang.
getty"Jan Ullrich, auf eine Frage gibt es nur zwei mögliche Antworten: Haben Sie jemals gedopt - Ja oder Nein?" - "Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten."(Bild am Sonntag, 2009)
Über sieben Stunden sitzen sie im Sattel, 242 Kilometer und fünf Anstiege hat die Spitzengruppe auf dem Weg zum Zielort Arcalis bereits in den Beinen. Gute zehn erbarmungslose Kilometer Anstieg warten noch - und Ullrich will nicht länger warten. Komfortabel führt er die verbliebenen Favoriten an, während die Halbglatze des erschöpften Riis mittlerweile krebsrot leuchtet. Ein ums andere Mal blickt der deutsche Domestik zurück ans Ende der Gruppe: Riis wird nicht mehr lange folgen können.
So ganz genau lässt sich Jahre später nicht mehr entschlüsseln, welche Worte inmitten der johlenden und tobenden Menge fallen. Dreht sich doch jedes verfügbare Quäntchen an Willenskraft nur darum, den störrischen Pedalen weitere Meter abzuringen. "Wenn du dich stark genug fühlst, fahr los", will Riis seinem Nachfolger grünes Licht gegeben haben. Telekom-Sportchef Walter Godefroot forciert aus dem Fenster seines fahrenden Wagens mit folgenden Worten die Wachablösung: "Der König ist tot. Schauen Sie sich nicht um und geben Sie alles."
Also lässt Ullrich seinen gefallenen Monarchen zurück. In einer Linkskurve beschleunigt er, bringt sofort einige Meter zwischen sich und die Verfolger. Und legt den Grundstein für den ersten deutschen Tour-de-France-Erfolg überhaupt.
"Solche [Doping-]Fragen verletzen mich. Denn ich habe nur dieses Geheimnis: Training und ordentlicher Lebenswandel!" (Jan Ullrich, 1999)
"Mir wurde einiges an Talent in die Wiege gelegt. Viele sprechen sogar von Jahrhundert-Talent", wird Ullrich viele Jahre später von sich sagen. An diesem Dienstag in den Pyrenäen lässt er es nicht nur aufblitzen. Sein Stern geht nicht auf, nein. Er strahlt lichterloh. Meter um Meter nimmt er den besten Kletterern der Welt ab, Pantani und Virenque schlenkern geduckt hinterher, hinter dieser unbarmherzigen deutschen Maschine, die fast nie aus dem Sattel geht. Sie sind Fahrer aus einer anderen Gewichtsklasse - im wahrsten Sinne des Wortes.
Wo am Berg normalerweise jedes Kilogramm Muskelmasse zum Nachteil mutiert, wo Sprinter und Klassiker-Spezialisten früh abreißen und selbst Zeitfahrer gegenüber den ausgemergelten Bergziegen an ihre Grenzen kommen, bringt Ullrich seine 71 Kilogramm nicht nur perfekt auf die Straße, sondern auch in den Anstieg.
Er ist die Art von "Rouleur", der hohe Geschwindigkeiten nicht nur in der Ebene lange halten kann, sondern eben auch in der Steigung - und so die Wiegetritt-Tempowechsel-Konkurrenz zermürbt.
Während der Pirat Pantani aus dem Sattel gehend an ein wild ausschlagendes Uhrenpendel erinnert, wirken die ergonomischen Umdrehungen Ullrichs an diesem Nachmittag wie im Windkanal entwickelt. Kein Ziehen am Sattel, kein ständiges Verändern der Körperhaltung, stattdessen pure Kontrolle und Zerstörungskraft: "Die Leute sagen, ich wäre den Berg ganz leicht hochgefahren. Das stimmt."
66 Sekunden nimmt der Mann im Jersey des Deutschen Meisters den Herren Pantani und Virenque ab, Riis verliert fast dreieinhalb Minuten. Wenige Minuten später streift sich Ullrich zum ersten Mal das Gelbe Trikot des Gesamtführenden über - er wird es bis Paris nicht mehr ablegen. Und die Heimat ist endgültig im Tour-Fieber.
Ullrichs Meisterstück sollte erst noch folgen.
"Ich habe nichts genommen, was die anderen nicht auch genommen haben. Betrug fängt für mich dann an, wenn ich mir einen Vorteil verschaffe. Dem war nicht so. Ich wollte für Chancengleichheit sorgen." (Jan Ullrich, Focus 2013)
Drei Tage später hat die Tour-Direktion ein Einzelzeitfahren angesetzt, 55,5 Kilometer nach St. Etienne. Eine Bergwertung der 2. Kategorie inklusive - sowohl pure Zeitfahrer als auch reine Kletterer können der 12. Etappe also mit gemischten Gefühlen entgegenblicken. Vorsichtshalber erhöhen die Organisatoren die Zeitabstände zwischen den Starts der Spitzenfahrer auf drei Minuten. Zu viel Holz für Topfavorit Ullrich, der bereits das abschließende Zeitfahren der Tour 1996 gewonnen hat und um 16:10 Uhr auf den Kurs geht? Nein. Zu wenig.
Der Mann in Gelb gewinnt nicht einfach nur seine zweite Etappe. Er demoralisiert die Konkurrenz, pulverisiert die Hoffnungen der Verfolger, ihn in den Alpen noch einmal angreifen zu können. Von Beginn fährt er Vollgas, erstürmt den Berg und hat nach 26,5 Kilometern 1:44 Minuten Vorsprung auf den Zweitplatzierten Marco Pantani. Oder anders gesagt: eine Ewigkeit. Für einen Ullrich in dieser Form ist die Strecke wie gemacht.
"Es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn man seinen Körper so trimmen kann, dass man entweder gar nicht oder nur von ganz wenigen geschlagen werden kann." (Jan Ullrich, Welt am Sonntag 2002)
Es folgt die ultimative Demütigung für den Zweitplatzierten Virenque: Wenige Kilometer vor dem Ziel hat ihn sein Verfolger eingeholt, sofort schraubt sich Ullrich vorbei und ist auf und davon. Wer die Aufnahmen von damals Revue passieren lässt, staunt darüber, wie viel größer und kräftiger der Deutsche auf seiner Rennmaschine wirkt. "Er frisst sich regelrecht an seinen Gegner hin", staunt Rudi Altig am Eurosport-Mikrofon.
Ullrich hat die bessere Technik, er hat die größere Power. Er hat das Jahrhunderttalent. Und am Abend seinen Vorsprung im Gesamtklassement auf 5:42 Minuten ausgebaut. Vive le roi.
Ein König, dem das Volk zujubelt. "König Ullrich", so Le Parisien, ist ein volksnaher Souverän, mit rotem Haarschopf und Sommersprossen, mit Stupsnase und blitzendem Ohrring. Einer, der nicht viel redet, eher der nette Junge von nebenan. Die ARD berichtet mit täglichen Sondersendungen nach der Tagesschau, die Alpenetappen mutieren zu Pilgerstätten.
Dass man Ullrich auch leiden sieht, macht ihn nur noch sympathischer. Zweimal gerät er 1997 noch in Bedrängnis: Auf der zweiten Alpenetappe muss Riis ihn auf der Abfahrt vom Col du Glandon wieder ans Hinterrad der enteilten Festina-Fahrer um Virenque heranführen. Vier Tage später plagt er sich mit einer Erkältung durch die Vogesen, muss abreißen lassen. Es ist der Moment, in dem ihm Teamkollege Udo Bölts die berühmten vier Worte zuruft, die Jahre später auch den Titel seiner Autobiographie bilden werden: "Quäl dich, du Sau!"
Ulle quält sich.
"Wozu soll es gut sein, weiter zu lügen? Ich habe die Reisen von Jan nach Madrid zu Fuentes organisiert." (Rudy Pevenage, Sportlicher Leiter Team Telekom, L'Equipe 2010)
Nach und nach erfährt die Öffentlichkeit, dass sich Ullrich so gerne eigentlich nicht quält: Im Gegensatz zu vielen Konkurrenten ist er von Natur aus kein mit dem Rennrad verwachsener Asket mit speichenförmigen Oberarmen, sondern ein Genussmensch: Rotwein, hier und da ein Stück Torte, das eine oder andere Kilo zu viel aus dem Winter mitgebracht. Ein Mensch wie du und ich eben.
Als die neue "Nummer eins" der Radsportwelt am 27. Juli mit einem Glas Champagner in der Hand auf die Champs-Elysees einbiegt, hat sie unglaubliche 9:09 Minuten Vorsprung auf die Konkurrenz. Schon lange hatte kein Fahrer mehr so dominiert wie Ullrich. "Sonnenkönig Ullrich", titelt die Bild, "ganz Paris lag ihm zu Füßen".
Nicht nur Paris. Als das Team Telekom einen Tag später in Bonn eintrifft, warten schon mehrere tausend Fans vor der Firmenzentrale, auch Außenminister Klaus Kinkel ist da. Autokorso zum historischen Rathaus, Eintrag ins Goldene Buch der Stadt. Als Ullrich, stilecht im Gelben Trikot, auf den Balkon tritt, jubeln 20.000 Fans. Ein Meer aus magenta.
Man hätte es vorher kaum für möglich gehalten, aber aus dem Radfahrer Jan Ullrich ist ein Volksheld geworden. Ein Boom folgt, der an Boris Becker zwölf Jahre zuvor erinnert, an Michael Schumacher. Sensationelle Einschaltquoten, Rennräder auf den Straßen, natürlich wird er zum Sportler des Jahres gekürt. Und natürlich gehen alle davon aus, dass die Tour 1997 nur der Anfang gewesen ist. Für Ullrich sei "weit und breit kein ernsthafter Herausforderer zu erblicken", schreibt die Zeit am 1. August.
"Ich denke, ich habe beigetragen, einen riesigen Boom auszulösen. Außerdem gab es in über 100 Jahren Tour de France noch keinen anderen deutschen Sieger. Daher denke ich, dass das schon mit einem Wimbledon-Sieg gleichzusetzen ist." (Jan Ullrich, Kleine Zeitung 2015)
Das Jahrhunderttalent Ullrich wird die Tour nie wieder gewinnen. Fast ein Jahrzehnt lang leidet die Öffentlichkeit mit ihm, zuerst gegen Pantani, dann gegen Armstrong, gegen Übergewicht, Verletzungen. Dazu kommt ein Autounfall unter Alkoholeinfluss, Ecstasy. Team Telekom, dann Team Coast, Bianchi, dann zurück zur Telekom ins T-Mobile-Team. Fünfmal wird er Zweiter der Tour - und die Menschen lieben den tragisch scheiternden, auch an sich selbst scheiternden Ullrich fast so sehr wie den siegreichen.
Bis auch ihn das Thema Doping einholt. Erst 2013 gibt Ullrich offen zu, mit unerlaubten Mitteln nachgeholfen zu haben, dabei liegen die Fakten schon jahrelang auf dem Tisch. Der Held der Nation hat gedopt - ein Skandal, der fast schon keiner mehr ist. Wie Pantani. Wie Virenque. Wie Armstrong. Wie so viele andere. Betrogen, das habe er niemanden, betont Ullrich bis heute. Ob er das den (wenigen?) Fahrern, die damals auf ehrliche Art und Weise gegen ihn antraten, ins Gesicht sagen würde?
"Wer immer noch nicht eins und eins zusammenzählen kann, was im Radsport los war, dem kann ich auch nicht helfen." (Jan Ullrich, Bild am Sonntag 2009)
25 Jahre ist Ullrichs Triumph mittlerweile her, und wer die Euphoriewelle damals miterlebt hat, vielleicht sogar ein Teil ihrer war, wird mit einer gewissen Sehnsucht zurückblicken. Helden der Landstraßen und Serpentinen, deren übermenschliche Leistungen man damals noch kindlich-naiv genießen konnte. Begeisterung, die heute längst durch Zynismus erstickt wurde. Jan Ullrich hat dem Radsport nicht die Unschuld geraubt. Aber er hat sich schuldig gemacht, war Teil eines Systems, das durch das Krebsgeschwür Doping längst vollständig infiziert war. Wie viele Tests man auch durchführt: Es wird nie mehr so sein wie damals.
Kann man Ulles Antritt hinauf nach Arcalis heute noch feiern? Darf man? "El Piratas" Teufelsritte auf den Spitzkehren nach Alpe d'Huez? Lance Armstrongs Schauspiel 2000 in den Pyrenäen? Um es mit Ullrich selbst zu sagen: nicht so einfach zu beantworten.
Aber Mann, war das schön, als man sich diese Frage noch gar nicht zu stellen brauchte.