Schwimmen - Michael Groß im Interview: "Das sah schon rattenscharf aus"

Stefan Petri
26. Juli 202217:08
Michael Groß mit Sportreporter Harry Valerien vom ZDF:imago images
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Der Albatros! Michael Groß (58) ist mehrfacher Olympiasieger und einer der besten deutschen Schwimmer der Geschichte. In einem Cafe in Frankfurt traf SPOX ihn zum Gespräch über seine größten Erfolge, hautenge Anzüge, Tierkostüme und Jörg Wontorras "Flieg, Albatros, flieg!". Außerdem verriet er, was es bedeutet, wenn ein Schwimmer "das Wasser nicht zu fassen bekommt", warum die Wahl zum Sportler des Jahres ein Desaster wurde - und wie er auf ein "unmoralisches Angebot" von Ion Tiriac reagierte.

Bereits 2015 hat SPOX eine Legenden-Serie abseits von König Fußball veröffentlicht. Zu diesem Anlass wurden ausführliche Interviews mit Andreas Thiel (Handball), Michael Groß (Schwimmen), Frank Busemann (Leichtathletik), Walter Röhrl (Motorsport) und Henry Maske (Boxen) geführt. Wir blicken zurück.

Herr Groß, Sie haben einmal gesagt, dass Sie die meisten Ihrer Ziele nicht erreicht hätten. Sie waren Weltrekord-Halter, mehrfacher Olympiasieger, Sportler des Jahres ... Welche Ziele denn?

Michael Groß: Viele. Zum Beispiel hat man das Ziel, Trainingsbestzeiten zu schwimmen oder gewisse Leistungen zu erreichen. Viele Dinge, die eben nicht in der Zeitung stehen oder keine öffentliche Anerkennung finden, habe ich nicht erreicht. Nur weil man dreimal Olympiasieger wird, ist die Welt ja nicht heile. Und umgekehrt: Nur Olympia als Ziel zu haben, wäre auch ziemlich schade. Dann hätte ich ja nur sechs Tage in meinem sportlichen Leben irgendetwas erreichen können. Auch im normalen Job hat man immer wieder Ziele. Das gibt keinen Orden, niemand schreibt darüber - aber sie bringen große Zufriedenheit. Und manche erreicht man eben nicht. In der Regel weniger als die Hälfte. Wer alle Ziele erreicht, der hat die falschen Ziele.

Sie hatten als Kind ein ganz bestimmtes Ziel: Sie wollten Pilot werden, waren aber acht Zentimeter zu groß für die Ausbildung. Denken Sie daran manchmal wehmütig zurück?

Groß: Nein. Im Leben muss man Dinge, die man nicht ändern kann, auch einfach abhaken. Ich kann meine 2,01 Meter nun einmal nicht ändern - und das Limit für Verkehrspiloten sind 1,93 Meter. Bei mir war es eigentlich fast immer so, dass ich solche Dinge zur Kenntnis nehme, mich vielleicht kurz ärgere, aber dann ist es vorbei. Sonst mache ich mir das Leben einfach unnötig schwer. Ich konzentriere mich lieber auf Dinge, die ich auch beeinflussen kann.

Der Name ist Programm: SPOX-Redakteur Stefan Petri (l.) wird von Michael Groß überragt

Beeinflussen konnten Sie Ihre Leistungen im Becken. Dabei gab es zu Beginn einen ganz profanen Grund dafür, dass Sie zum Schwimmen kamen.

Groß: Das war gesundheitlich bedingt. Ich bin sehr schnell gewachsen, also hat sich meine Mutter erkundigt, was man da am besten machen kann. Schwimmen ist der beste Sport für Gelenke und Muskelaufbau, also habe ich das in der Schule gemacht. Über meinen Lehrer bin ich dann mit neun Jahren in einen Verein in Offenbach gekommen und habe dort ganz klein angefangen. Mit zehn kam ich in eine Trainingsgruppe - und so habe ich eben meinen Weg gefunden.

Titel und Erfolge von Michael Groß

WettbewerbGoldSilberBronze
Olympische Spiele321
Weltmeisterschaften553
Europameisterschaften1331

Warum entschieden Sie sich für Freistil und Delfin? Warum nicht Rücken oder Brust?

Groß: Das hat sich so ergeben. Wenn man jung ist, testet man verschiedene Disziplinen aus und schwimmt erstmal alles. Ich war aber auch ein guter Lagenschwimmer, habe über 400 Meter Lagen den Deutschen Rekord gehalten. Es war also nicht so, dass ich völlig unfähig war. Rücken schwimmt zur Entspannung sowieso fast jeder. Wobei Brustschwimmer eher klein sind, weil man dabei zum Teil auch gegen das Wasser arbeitet. Brust ist ja eigentlich eine widersinnige Disziplin, weil man die Beine und Arme unter Wasser nach vorne führt, also quasi einen künstlichen Widerstand erzeugt.

Sie haben Ihre Größe bereits angesprochen. Ist es ein Vorteil im Becken, wenn man richtig hochaufgeschossen ist?

Groß: Nein - die waren ja alle so groß. Beim Turnen sind alle klein, beim Schwimmen sind alle groß. Mittlerweile wieder ein bisschen kleiner wegen Veränderungen der Schwimmtechnik, aber sie sind immer noch nicht klein. Es gibt keinen Zwei-Meter-Turner - das geht einfach nicht. Und es gibt es auch keine 1,60-Schwimmer.

Hilfreich sind aber große Hände und Füße, richtig? Michael Phelps hat Schuhgröße 47,5, bei Ian Thorpe war es sogar Größe 52.

Groß: Es kommt eher auf die Hebel an. Ein Teil davon sind natürlich immer die Hände und Füße, aber bei mir sind die relativ klein im Verhältnis zur Körpergröße. Die Gesamthebel sind entscheidend.

Dafür, dass Sie mit dem Sport verhältnismäßig spät angefangen haben, ging es dann ziemlich schnell in die Weltspitze, oder?

Groß: Es war gewissermaßen ein Zweier-Rhythmus: Mit zwölf Deutsche Jugendmeisterschaften, mit 14 in die Jugendnationalmannschaft, und mit 16 war ich schon bei der Olympiamannschaft. Das war also relativ schnell, wobei das nicht ungewöhnlich ist im Schwimmen. Eigentlich sagt man: Mit 18 muss man vorn dabei sein. Bei den Mädchen sogar noch früher.

Warum ist es eigentlich so, dass die Teenager mit 14, 15 fast aus dem Nichts kommen und bei den Frauen sogar schon Weltrekorde schwimmen?

Groß: Es gibt zwei Gründe. Zum einen spielt die Pubertät eine große Rolle, auch das Gewicht. Franziska van Almsick ist das beste Beispiel: Vor der Pubertät mit 14 war es für sie wesentlich einfacher als dann nach der Pubertät mit 18 oder mit 22, weil sich der Körper einfach verändert. Ein vorpubertärer Körper ist fürs Schwimmen besser geeignet. Das hört sich natürlich irgendwie komisch an, ist aber so, weil man einfach ein spezifisch leichteres Körpergewicht hat.

Und der zweite Grund?

Groß: Der ist vielleicht sogar noch wichtiger: Schwimmen ist eine sehr technische Sportart, eine sehr komplexe Koordinationssportart - und das lernen sie in jungen Jahren wesentlich besser. Versuchen Sie mal, einem 40-Jährigen Schwimmen beizubringen, das geht fast gar nicht. Die Technik ist letztlich mit 16 definiert. Danach macht man noch Feinarbeiten. Das Körperliche kommt beim Schwimmen natürlich auch dazu, ist aber nicht das allein Entscheidende.

Da ist der Sport, im Vergleich etwa zur Leichtathletik, auch noch nicht am Ende seiner Entwicklungsphase?

Groß: Nein, schon allein aufgrund der Tatsache, dass wir Menschen Landtiere sind. Ich war schon mit Delfinen schwimmen - wir sind ja so erbärmlich gegenüber den Meeresbewohnern. Da ist noch einiges rauszuholen.

Sie selbst sind in diesem Alter zwar noch nicht Weltrekord geschwommen, hätten 1980 aber schon bei Ihren ersten Olympischen Spielen starten können. Wenn der Westen Moskau nicht boykottiert hätte.

Groß: Ja, ich war ja auch qualifiziert und bin mit 16 schneller geschwommen als der Olympiasieger. Wir waren zur gleichen Zeit vier Wochen als Olympiaersatz in China, als offizielle Staatsgäste. Das kann man sich ja heute gar nicht mehr vorstellen: Damals in den 70ern und Anfang der 80er Jahre konnte man durch den Kalten Krieg bestimmte Regionen der Welt überhaupt nicht erreichen. Was heute selbstverständlich ist, hat uns damals der Sport ermöglicht.

Wann war klar, dass Sie Profi werden?

Groß: War ich ja nicht.

Also gut: Dass Sie Ihr Leben auf den Schwimmsport ausrichten.

Groß: Hab ich auch nie. Ich habe Abitur und Olympia parallel gemacht und über meine gesamte Karriere kein Schuljahr oder Semester versäumt.

Das klingt heute schwer vorstellbar.

Groß: Das ist das größte Problem: Der Sport hat sich in den letzten drei Jahrzehnten weiterentwickelt, aber die meisten Olympiasportler müssen ihn von der Einstellung und auch vom Zugang her als Hobby sehen. Sie müssen sich um einen normalen Beruf kümmern, weil nur die wenigsten mit dem Sport während der Karriere Geld verdienen können, geschweige denn ein Polster anlegen. Durch die Professionalisierung in vielen Ländern ist der Wettbewerbsdruck aber wesentlich größer geworden. Sie können das also gar nicht mehr kombinieren. Das ist zurzeit eine große Herausforderung und der Grund dafür, dass der deutsche Spitzensport weltweit immer weniger Erfolge feiert. Das sieht man an den olympischen Medaillenspiegeln.

Wie viele Stunden haben Sie denn als Teenager täglich investiert?

Groß: Drei, vielleicht dreieinhalb Stunden. Davon zwei bis zweieinhalb im Wasser.

Also hätten Sie mit Ihrem Trainingspensum von damals heute keine Chance?

Groß: Doch, aber: Ich könnte das Pensum heute so kaum machen, selbst wenn ich wollte. Damals war ich relativ flexibel, ich hatte 13 Jahre bis zum Abi und nie nachmittags Schule. Und ich hatte ein Studium, das längst nicht so verschult war wie heute der Bachelor.

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Drei Stunden täglich, das klingt für die absolute Weltspitze vergleichsweise überschaubar. Geholfen hat Ihnen, dass Sie im Training für die damalige Zeit neue Wege eingeschlagen haben.

Groß: Nachdem in den 70ern sehr viel im Wasser trainiert worden ist und man über extreme Wasserarbeit kam, hat man in den 80ern gemerkt, dass man das so nicht mehr unendlich steigern kann. Also kam ergänzend Landtraining dazu: Krafttraining, zum ersten Mal auch richtig Gymnastik und Gesamtkoordinationstraining, Grundkonditionierung über Waldläufe. Dank dieser Evolution konnten wir die Technik von Mark Spitz auch mit längeren Hebeln umsetzen. Spitz war mit 1,83 ja relativ klein, wie alle Schwimmer in den 70ern. Zum Ende des Jahrzehnts wurden sie dann größer.

Und heute?

Groß: Da wird das Gleiche passieren. Derzeit sind die Schwimmer im Durchschnitt wieder kleiner als wir früher, haben sich aber technisch weiterentwickelt. Das sieht man als Laie gar nicht: Sie haben eine Technik, die wesentlich kraftraubender ist als unsere früher - aber eben auch schneller. Die nächste Generation wird wieder größer werden und dann die Technik, die Michael Phelps mit 1,93 schwimmen kann, mit über zwei Metern schwimmen. Das sind immerhin rund zehn Zentimeter Unterschied an Hebeln.

Gleichzeitig haben die Sprinter auf den kurzen Strecken im Vergleich zu ihrer Zeit ordentlich an Muskelmasse zugelegt, oder?

Groß: Gut, das war natürlich auch durch die modernen Anzüge bedingt, die mittlerweile verboten sind. Paul Biedermann hat ja ganz klar gesagt: Nachdem die Anzüge weg waren, musste er erst einmal abspecken.

Wieso denn das?

Groß: Weil es durch diese Anzüge einen Auftriebseffekt gab. Dadurch wurde das Körpergewicht, und damit die Muskelmasse, nicht mehr so zum Problem. Wir mussten abwägen: Je mehr Gewicht und Muskelmasse du hast, desto mehr musst du im Wasser rumschleppen. Das ist auch heute wieder so. Deswegen haben Paul Biedermann und viele andere dann abgenommen, nachdem die Anzüge verboten wurden.

Wurde zu Ihrer Zeit schon am Material experimentiert?

Groß: Überhaupt nicht: Badehose und fertig. Die bestanden aus Skinfit-Material, mit einer Passform, die sich eher der Haut anschmiegt. Es gab also nicht mehr diese "Säcke", aber das war letztlich nur eine Weiterentwicklung und ist heute absoluter Standard. Das war vor allem für die Mädchen wichtig - wobei das auch lustig war, weil das Material am Anfang wirklich extrem hauteng war. Die bekamen von der Optik echt Probleme, denn das sah zum Teil schon ziemlich rattenscharf aus. (lacht) Man musste dann etwas tun, weil klar war: So geht es nicht. Sind ja keine Pin-Up-Models.

Wenn wir schon bei den Frauen sind: Bei den Olympischen Spielen 2004 haben Franziska van Almsick und Antje Buschschulte gesagt, dass sie das Wasser "nicht richtig zu fassen bekommen haben". Der Satz ging damals durch die Presse. Was bedeutet das, das Wasser "nicht fassen können"?

Groß: Gemeint ist in diesem Fall die Form. Das muss man sich als Laie so vorstellen: Die Tagesform kann eine halbe Sekunde auf einer Bahn, also auf 50 Meter, ausmachen. Eine halbe Sekunde sind Welten. Als Schwimmer muss man jeden Tag das Wassergefühl schulen. Auch in der Weltklasse: jeden Tag, zehn bis 15 Prozent des Trainingsumfangs. Wenn sie drei, vier Tage aus dem Wasser raus sind, dann verlieren sie das Wassergefühl, was eben eine halbe Sekunde Unterschied macht. Und dieses Gefühl ist entscheidend, weil Schwimmen eben sehr stark feinmotorisch ist. Kleine Winkelbewegungen, etwa eine um zehn Grad andere Handgelenkshaltung, bringen einen gigantischen Unterschied. Das sagt man als Schwimmer eben so geläufig: "Ich konnte das Wasser nicht fassen, habe kein Wassergefühl entwickelt." Das ist der entscheidende Unterschied zwischen "Ich bin in Deutschland gut" und "Ich bin in der Welt gut", hat mit dem Wasser an sich aber nichts zu tun. Was einen Unterschied machen kann, ist zum Beispiel die Beckentiefe.

Ist Ihnen das bei großen Rennen auch passiert?

Groß: Meine Stärke war das "Tapern", also das Zuspitzen der Form. Die Erholungsphasen vor den Wettkämpfen so zu takten, dass man dann körperlich fit ist und über die körperliche Fitness auch das Wassergefühl entwickelt. Wenn man mich ein paar Tage vor Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften im Wasser gesehen hat, war das unterirdisch. Da war ich total platt, obwohl ich wenig gemacht hatte, und hatte kein Wassergefühl.

Und das führt nicht zur Panik?

Groß: Ich musste ruhig bleiben und mir sagen: Das ist genauso getaktet. Sie fühlen in dieser Phase jeden Tag rein: Bin ich so unterwegs, wie ich mir das vorgestellt habe? Sie schwimmen Trainingstests und gucken, was funktioniert. Über ein oder zwei Nächte kommt das dann plötzlich und sie schwimmen eineinhalb bis zwei Sekunden schneller auf 50 Meter. Mit dem gleichen Aufwand. Das Feintuning im Schwimmen spielt eine enorme Rolle.

Und nach dem Tapern stehen die Wettkämpfe an. Ihre erste Sternstunde war die WM 1982. Sie sind in Ecuador zweimal Weltmeister geworden, da waren Sie gerade 18.

Groß: Es war eine traumhafte Reise. Wir waren vorher in Florida zum Trainingslager und sind kurzfristig runtergeflogen, weil die hygienischen Verhältnisse einfach abenteuerlich waren. Nach den Wettkämpfen sind wir auch noch ein paar Tage durch die Anden gereist, Frauen und Männer in voller Mannschaftsstärke. Das ist das Schöne am Schwimmen, dass es im Vergleich zu vielen anderen eine gemischte Sportart ist.

Nur das Team?

Groß: Nein, es gab auch eine Handvoll Journalisten, die immer mitgefahren sind: Jörg Wontorra als ARD-Journalist für Hörfunk und Fernsehen, Harry Valerien fürs ZDF, und vielleicht ein oder zwei Agenturleute.

Mit Zugängen, die man sich heute kaum noch vorstellen kann - Abenteuerurlaub inklusive.

Groß: Genau. Valerien war immer ein bisschen zurückhaltender - er ist in Ecuador zum Beispiel nicht mit der Indianerbahn mitgefahren. Er war damals der Grandseigneur der TV-Sportjournalisten, der auch immer ganz genau wusste, welche Informationen er einsetzen kann und welche nicht.

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Nach den zwei Titeln in Guayaquil sind Sie 1982 auch zum ersten Mal Deutschlands Sportler des Jahres geworden - waren aber nicht bei der Preisverleihung.

Groß: Ja, am Tag darauf standen die deutschen Mannschaftsmeisterschaften an. Das war der wichtigste Wettkampf im Winter - und man trainiert ja nicht die ganze Zeit, um dann Party zu machen. Also bin ich nicht hin.

Wie kam das an?

Groß: Heute passiert das ja häufiger, dass man sagt: Ehrung schön und gut, aber der Sport ist wichtiger. Damals war das aber ein No-Go und ein riesiger Fauxpas. Ich habe dann den Fehler gemacht, ins Fernsehstudio nach Köln zu fahren, weil ich es allen recht machen wollte. Eine Katastrophe: Ich kam aus dem Abschlusstraining von Aachen nach Köln, saß locker-flockig da und hab ein paar Sprüche fallen lassen - während in Berlin alle im Smoking versammelt waren. Das war natürlich das absolute Desaster.

Was würde der Kommunikationsberater Michael Groß heute dem damals 18-Jährigen raten?

Groß: Nicht ins Fernsehstudio fahren, sondern die einfach feiern lassen. Wobei: Heute könnte man ja auch kurzfristig an- und abreisen. Damals kam man aus Berlin nicht mehr weg.

Für Ihren ersten Weltrekord ein Jahr später haben Sie sich zur Belohnung einen Porsche gekauft. War die Prämie so hoch?

Groß: Nein, im Gegenteil. Für einen Olympiasieg gab es 15.000 Mark - für einen Weltrekord jedoch überhaupt nichts. Aber warum erst mit 50 die eigenen Träume erfüllen? Also habe ich meine Ersparnisse zusammengekratzt und mir einen gebrauchten 911er gekauft. Die waren ja damals auch nicht so teuer wie heute.

Im gleichen Jahr haben Sie sich den Spitznamen "Albatros" eingehandelt. Da kursieren unterschiedliche Geschichten - klären Sie uns auf.

Groß: Es war ein Reporter der L'Equipe. Nach meinem ersten Weltrekord hat der den Namen erfunden. Und wie bei Journalisten nicht unüblich, wurde dann voneinander abgeschrieben. Bis es schließlich 1984 von Jörg Wontorra aufgegriffen und zum "geflügelten Wort" gemacht wurde.

Das waren die 200 Meter Schmetterling bei den Spielen 1984 in Los Angeles, als Sie auf der letzten Bahn noch abgefangen wurden. "Flieg, Albatros, flieg!" rief er als Fernsehkommentator.

Groß: Wobei er das aus der Not gemacht hat, hat er mir später erzählt. Das war so nicht geplant, sondern dem Augenblick geschuldet. Und zwar deswegen, weil ihm seine Notizen heruntergefallen waren. Er saß also am blanken Tisch und musste aus der Hüfte kommentieren. Ich selbst habe das erst Wochen später mitbekommen, als ich wieder in Deutschland war.

Ein paar Tage zuvor hatten Sie Ihren ersten Olympiatitel geholt. Über 200 Freistil wurde die Konkurrenz förmlich deklassiert. War das ein romantischer Moment? "Dafür habe ich geschuftet, dafür hat sich die ganze Arbeit gelohnt!"

Groß: (überlegt kurz) Nein. Bei dem Rennen ging es zunächst einmal darum, Bestzeit zu schwimmen. Für mich als Weltrekordhalter wäre das also neuer Weltrekord gewesen. Aber eben nur dann, wenn die anderen nicht schneller sind - man hat ja keinen Einfluss auf den Gegner. In L.A. saßen 20.000 Menschen auf der Tribüne, mein größter Konkurrent Mike Heath kam aus den USA. Da weiß man nie, was in einem solchen Finale passiert. Deswegen war für mich der erste Punkt, auf die Anzeigetafel zu schauen, und zu sagen: super, Bestzeit! Der Rest war dann erstmal wurscht. Was für mich fast noch wichtiger war als der Titel: Mit Thomas Fahrner ist der zweite deutsche Schwimmer Dritter geworden - und zwar auf den letzten 50 Metern von sieben auf drei, mit einer schnelleren Zeit als ich.

Man sieht Sie dann auch sofort zusammen jubeln.

Groß: Das war natürlich super. Und psychologisch sehr wichtig, nicht nur für die Schwimmer, sondern für die gesamte Olympiamannschaft. Es war ja der erste Tag der Spiele.

Einen Tag später gab es dann Ihre berühmten "100 Minuten". Zuerst Gold und Weltrekord über 100 Meter Schmetterling, wenig später Silber über die 4x200 Meter Freistil. Viel hat ja nicht gefehlt, oder?

Groß: Vier Hundertstel.

Sie haben das Rennen einmal als größten Misserfolg Ihrer Karriere bezeichnet. Ist das der ultimative "Hätte, wäre, wenn"-Moment?

Groß: Ja, klar. Aber Sie müssen sich vorstellen: Wir waren Weltrekordhalter mit 7:20 Minuten. Wir sind ins Rennen gegangen und wussten: Um hier zu gewinnen, muss man 7:17 oder 7:18 schwimmen. Dann sind wir 7:15,73 geschwommen - und die Amerikaner 7:15,69. Wir sind super geschwommen, die Amerikaner hatten einfach das Quäntchen mehr Glück. Natürlich blöd, wenn das bei Olympia passiert. Aber ich bin in diesem Rennen beispielsweise auch wesentlich schneller geschwommen als bei meinem Einzel-Weltrekord. Insofern: Die Leistung passte und war besser, als wir es uns acht Minuten zuvor hatten vorstellen können.

Wie kann es sein, dass die Weltrekorde gerade bei Olympia so regelmäßig purzeln? Wird vorher "gepokert"? Oder wächst man einfach nur über sich hinaus?

Groß: Zunächst einmal ist Schwimmen eben ein Sport, den man, wie schon erwähnt, relativ gut timen kann. Wenn jemand sagt: "Ich bin bei Olympia außer Form", muss ich sagen: Dann hast du dein Handwerk nicht beherrscht. Zu Olympia muss man eigentlich in Form sein können, das ist im Schwimmsport einfach Teil des Geschäfts. Schwimmen ist schließlich eine Trainingssportart. Beim Fußball macht man 50 Spiele im Jahr, da gibt es irgendwann Dellen in der Form - im schlimmsten Fall bei einer WM. Aber im Schwimmen können Sie wochen- oder monatelang trainieren und genau auf Olympische Spiele hintimen. Das Zweite: Es gibt einfach nicht so viele Anlässe.

Neben den Wettkämpfen haben Sie nach der Schule unter anderem Germanistik studiert. Ist man unter den Schwimmern nicht der totale Nerd, wenn man mit Schiller und Goethe ankommt?

Groß: Nein, wir hatten viele, die in den Trainingslagern mit Büchern herumgelaufen sind. BWL-er, Ärzte, auch ein Politologe. Das ist bis heute so: Gerade bei den Sommersportarten sind viele Studenten dabei. Man nimmt das natürlich unterschiedlich ernst, je nach Uni und Studiengang. Aber Thomas Fahrner z.B. hat danach in Harvard einen MBA gemacht, und einer meiner früheren Staffelkollegen hat Vistaprint gegründet.

Die Schwimmer waren damals bekannt für witzige Aktionen: Zum Beispiel sind Sie einmal in griechischen Togen zu den Startblöcken marschiert.

Groß: Das war Tradition bei uns. Es fing mit unserem Rückenschwimmer an, der 1983 bei der EM in Rom sagte: "Leute, letztes Rennen! Wir müssen irgendwas Lustiges machen!" Da haben wir uns einfach Klamotten der Mädels geschnappt. Das hat sich dann so entwickelt. 1988 haben wir es in Seoul etwa geschafft, über die deutsche Schule dort original Krachlederne zu besorgen und sind dann so einmarschiert. Mein finaler Einsatz war bei der WM 1991 in Perth. Da ist beim letzten Rennen einer von uns als Känguru einmarschiert, einer als Wombat, einer als Koala ... Das hat sich in den 90ern fortgesetzt, aber ob das heute noch gemacht wird, weiß ich nicht.

In zünftiger Tracht: die deutsche Staffel (v.l.n.r.: Michael Groß, Björn Zikarsky, Alexander Mayer, Frank Hoffmeister)getty

Nach der WM 1991 haben Sie Ihre Karriere beendet, mit 26. Dabei stimmte die Leistung noch. Barcelona '92 hat Sie nicht gereizt?

Groß: Nein, denn es geht nicht darum, alles erreicht zu haben. Sondern darum, alles erlebt zu haben. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Im Sport ist es wie überall im Leben wichtig, sich nicht daran zu orientieren, was man erreicht hat, sondern daran, was noch als Erfahrung lauert. Wenn man dann alles erlebt hat, sollte man etwas ändern. Nach Olympia '84 habe ich mir zum Beispiel vorgenommen, die längeren Strecken zu versuchen. Also die 400 Kraul, wo ich ja auch einen Weltrekord geschwommen bin, oder auch die 400 Lagen mit deutschem Rekord. Später dann die kurzen Strecken, 100 Kraul und 100 Delfin. Aber 1991 war letztlich der Punkt erreicht, an dem ich sagte: Ich habe alles erlebt. Ich war ja auch Barcelona vor Ort, nur eben ganz normal akkreditiert als Zeitungsjournalist.

Mittlerweile sind Sie Unternehmensberater und haben auch Bücher geschrieben. Etwa zum Thema Coaching, oder auch: "Siegen kann jeder." Sind das Dinge, die Sie als Sportler gelernt haben?

Groß: Wenn es nur um den Sport gehen würde, dann hätte ich keine Bücher geschrieben. Das wäre etwas platt, denn: Der Sport ist sehr einfach. Ein Wettkampf mit Regeln, und am Ende gewinnt der, der schneller ist oder ein Tor mehr schießt. Das wirkliche Leben ist wesentlich komplexer und nicht so schwarz-weiß. Die Idee bekam ich auch durch meinen Job, und weil ich das hier in Frankfurt auch unterrichte. Es steckt also ein bisschen mehr drin als nur Sportler-Erfahrung.

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Gab es zu Ihrer Zeit Mentaltraining im Schwimmen?

Groß: Nicht systematisch. Letztlich ist es im Sport so, dass die guten Trainer eben mehr sind als nur "Trainer". Deswegen trifft es das englische Wort "Coach" auch wesentlich besser. Wenn Sie in England oder den USA "Trainer" sagen, denkt man, Sie meinen den Masseur. Ein Pep Guardiola sagt seinen Spielern nicht, wie sie kicken sollen, sondern er holt das Beste aus ihnen raus. Insbesondere wenn man älter wird, braucht man das: Menschen, die einem neue Wege aufzeigen, Zuversicht geben und die Möglichkeit, sich selbst auch zu überraschen.

Sie hätten schon 1984 einen anderen Weg einschlagen können. Nach den Spielen von L.A. stand nämlich Ion Tiriac vor ihrer Tür, der damalige Manager von Boris Becker. Er wollte Sie von sämtlichen Geldsorgen befreien.

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Groß: Richtig. Ion Tiriac war ja immer sehr direkt, um nicht zu sagen schroff. Aber auch der beste Manager, den sich Becker in der damaligen Zeit hätte vorstellen können. Schon damals hatte er diese ganz spezielle Aura. Er sagte im Originalton: "Ich kann dafür sorgen, dass du nie mehr in deinem Leben arbeiten musst. Ich habe nur eine Bedingung: 100 Prozent Sport."

Wie haben Sie geantwortet?

Groß: Ich sagte: "Nein, 100 Prozent Sport will ich nicht." Bei der Bundeswehr wäre das noch einigermaßen gegangen, aber danach wollte ich ja studieren. Trotzdem: Es war ein super Gespräch, weil er ganz klar gesagt hat: Das ist dein Potenzial, wenn du es so und so machst. Das ist der Weg A. Aber ich habe eine ganz normale bürgerliche Laufbahn eingeschlagen. Weg B, wenn man so will.