Vital Heynen ist nicht nur einer der erfolgreichsten Volleyball-Trainer der Welt, er ist vor allem auch einer der interessantesten Trainer im Sport. Warum ist der Belgier so ein Chaot? Warum verbringt er so viel Zeit mit den Spielerfrauen? Und wie erfolgreich war die Höllenwoche? Im SPOX-Interview erzählt der 49-Jährige, der den VfB Friedrichshafen und die polnische Nationalmannschaft trainiert, in typischer Heynen-Manier aus seinem Volleyball-Leben.
Außerdem spricht Heynen über den WM-Titel mit der polnischen Nationalmannschaft, ein zu zufriedenes DVV-Team und sein Moneyball-Konzept.
Vital Heynen: Ich sehe schon, Sie haben viel zu viele Fragen. Drei Fragen sind bei mir eine halbe Stunde.
Ich weiß. Mal schauen, wie weit wir kommen. Wie sehr hat Sie Baseball-Manager Billy Beane mit seinem Moneyball-Prinzip inspiriert in Ihrer Arbeit als Volleyball-Coach?
Heynen: Es ist umgekehrt. Ich habe ihm die Inspiration gegeben. Als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich: 'Hey, er hat mein System übernommen.' (lacht) Ich mache es nicht wie er über Zahlen, aber ich bin auch immer auf der Suche nach Spielern, die von anderen übersehen wurden. Das ist auch die Erklärung dafür, dass ich immer wieder relativ kleine Spieler entdecke, weil sie im Volleyball oft durchs Raster fallen. Ich suche die ganze Zeit nach Spielern und vor allem auch nach Menschen mit Seiten, die bislang von anderen noch nicht gesehen wurden. Ich sage Menschen, weil es mir nicht nur wichtig ist, wie gut er Volleyball spielt, ich muss auch wissen, ob er hart arbeitet, ob er kommunikativ ist und wie er so der Mannschaft als Vorbild helfen kann.
Sie sollen das Chaos lieben. Wie kann man das Chaos lieben? Ich liebe eher die Ordnung.
Heynen: Ja, weil Ihr Deutschen alle die Ordnung liebt. Natürlich liebe ich das Chaos. Heute Morgen bin ich zu Fuß zum Training gelaufen und habe mir dabei das Programm fürs Training überlegt. Aber als wir mit dem Training angefangen haben, ist mir dies und das noch eingefallen und wir haben es noch dreimal verändert. Ich liebe die Abwechslung. Mir hilft das auch als Trainer. Ein Spiel ist auch Chaos. Du kannst nie sagen, wie ein Spiel verläuft. Du musst innerhalb des Spiels reagieren. Ich habe kein Problem mit Ordnung, aber ich bin schlecht darin. Ich habe eine Tasche, darin ist mein Telefon, mein Geld, mein Ausweis und mein Schlüssel. Alles andere kann ich verlieren. Und dann habe ich Leute um mich herum, die für mich für Ordnung sorgen. Heute Morgen hat mich mein Manager noch einmal an den Interview-Termin erinnert. Wenn ich um mich herum auch noch chaotische Menschen hätte, würde es natürlich nicht funktionieren.
Wenn Sie das Chaos lieben, was hassen Sie?
Heynen: Ich bin kein Mensch, der Hass in sich trägt. Ich bin ein naiv positiver Mensch. Wissen Sie was? Ich glaube, dass Sie ein gutes Interview machen werden.
Danke. Sehr nett.
Heynen: Ich glaube immer an das Gute im Menschen. Das macht das Leben einfacher. In hundert Fällen werde ich vielleicht einmal enttäuscht, aber soll ich die anderen 99 dafür bestrafen? So denke ich nicht. Vor ein paar Jahren war Roberto Serniotti Trainer in Berlin, bei unserem größten Gegner. Wir haben uns so oft gesehen und sind mit der Zeit Freunde geworden. Das wäre nicht passiert, wenn ich nicht so positiv an die Sachen herangehen würde.
gettyHeynen: "Manche Spieler haben zum ersten Mal ein Buch gelesen"
Viele erinnern sich noch an Ihre sehr erfolgreiche Zeit als Nationaltrainer der DVV-Männer und vor allem an Ihre ungewöhnlichen Methoden.
Heynen: Die Höllenwoche.
Genau. Was war der Hintergrund, dass Sie Handy und Fernsehen einfach mal verboten und die Spieler zum Schweigen verdonnert haben?
Heynen: Der Hintergrund war, dass ich nach der Bronzemedaille bei der WM gespürt habe, dass die Spieler zu glücklich waren. Wir hatten die erste Medaille nach 50 Jahren geholt und etwas Unvorstellbares geschafft, danach war mir die Zufriedenheit zu groß. Ich wollte die Spieler über das Leben nachdenken lassen. Darüber, was sie wirklich erreichen wollen. Das war die Idee. Hat es so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt habe? Eigentlich nicht so wirklich. Du willst als Trainer ja immer, dass du das Resultat schon einen Monat später siehst, aber manchmal dauert es ein paar Jahre. Aber die Spieler haben es gerne gemacht. Morgens mit Sonnenaufgang aufzustehen, zu trainieren und zwischen 6 und 11 Uhr nicht reden zu dürfen, auch die Trainer mussten ja schweigen, war eine interessante Erfahrung. Am Nachmittag hat sich die Mannschaft zwischen 15 und 17 Uhr ohne Handys auf die Terrasse gesetzt, Kaffee getrunken und miteinander gesprochen. Die Spieler haben es genossen und gesagt, dass wir das immer machen sollten. Ich habe auch für jeden Spieler individuell ein Buch ausgesucht. Manche Spieler haben zum ersten Mal ein Buch gelesen. Viele haben es auch ausgelesen, aber ich kann nur den Anstoß geben. Wie heißt es so schön: Du kannst das Pferd nur bis zum Wasser bringen, wenn es nicht trinken will, dann will es nicht trinken.
Glauben Sie, dass Sie diese Methoden auch im Fußball mit den Superstars der Szene durchziehen könnten?
Heynen: Auf jeden Fall. Ich habe gelernt, dass gerade die besten Spieler und größten Stars am empfänglichsten dafür sind und die Fähigkeit besitzen, sich tiefere Gedanken zu machen. Wir müssen nicht über Fake-Stars sprechen, die meinen, besser zu sein, als sie eigentlich sind, aber die Topleute lieben diese Sachen.
Heynen: "Ich habe die Spielerfrauen zum Essen eingeladen"
Wie würden Sie sich selbst charakterisieren?
Heynen: Ich muss zugeben, dass ich dominant bin. Ich stehe gerne in der ersten Reihe. Ich liebe meine Co-Trainer, aber diese Rolle war gar nichts für mich. Ich bin jemand, der nicht ruhig sitzen kann. Unser Interview ist in gewisser Weise gerade schwierig für mich, weil ich so lange auf diesem Stuhl hier sitzen muss, das ist fast eine Strafe.
Das tut mir leid.
Heynen: Am liebsten mache ich Interviews telefonisch und laufe dabei herum. Und dann bin ich sehr neugierig. Ich habe sehr viele Bücher aus dem Fußball gelesen. Warum aus dem Fußball? Weil da so viel geschrieben wird. Im Volleyball findet man nicht so viel. (lacht) Ancelotti, Guardiola, Mourinho - ich habe alle Bücher gelesen. Als France Football kürzlich die Liste der Top 50 Coaches herausbrachte, musste ich sofort checken, ob ich jemanden verpasst habe. Früher habe ich auch viel aus dem Basketball gelesen, zum Beispiel Phil Jackson, ich bin immer auf der Suche nach Inspiration.
Was ist für Sie wichtiger als Trainer: Das Fachliche oder die Menschenführung?
Heynen: Ich bin wahrscheinlich der Trainer, der das Soziale wichtiger findet als alle anderen. Gestern ist ein Spieler zu mir gekommen und hat mich um Rat in einer finanziellen Frage gebeten. Das geht mir manchmal fast zu weit, einige Fragen beantworte ich auch nicht und schicke die Jungs weiter, aber wenn ich eine Empfehlung abgeben kann, weil ich etwas Positives über diese oder jene Bank gelesen habe, dann mache ich das. Ich will meine Spieler so gut es geht kennen. Als Trainer der belgischen Nationalmannschaft habe ich dem Team mal einen Tag freigegeben und stattdessen die Spielerfrauen zum Essen zu mir eingeladen. Meine Töchter haben gekocht und dann haben wir den ganzen Tag geredet. Das war sehr interessant und hat mir viel mehr gebracht, als einen Tag zu trainieren. Ich habe durch die Frauen so viel über die Spieler gelernt. Und die Frauen haben so viel über mich gelernt. Wenn ein Spieler dann nach Hause kommt und nicht weiß, warum ich böse auf ihn war, dann kann es seine Frau verstehen und ihm erklären, worum es mir ging. Ich kann Ihnen noch ein Beispiel geben.
Gerne.
Heynen: Zuspieler Fabian Drzyzga hatte in Polen den Ruf, ein etwas schwieriger Spieler zu sein. Daraus mache ich mir erstmal nichts. Wenn mir jemand sagen würde, Sie sind ein schlechter Journalist, wäre mir das egal. Ich schaue es mir lieber selbst an. Drzyzga galt auch als verschlossener Typ, also haben wir uns zu dritt getroffen. Seine Frau, er und ich. Sie hat extrem geholfen, dass wir eine ganz tolle Beziehung aufbauen konnten und heute noch viel Kontakt haben.
Im vergangenen Jahr haben Sie mit Polen den WM-Titel geholt. Im Finale mit einem irren 3:0 gegen Brasilien. Wie blicken Sie mit etwas Abstand auf dieses Highlight?
Heynen: Ich hätte niemals davon geträumt, eines Tages Weltmeister zu werden. Ich bin doch nur der dumme Belgier. Belgien ist kein großes Land im Volleyball. Ich habe selbst niemals im Ausland gespielt, ich hatte nicht die großen Kontakte. Einmal im Ausland als Trainer zu arbeiten und vielleicht mal bei den Olympischen Spielen dabei zu sein - das war schon viel für mich. Ich habe Monate gebraucht, bis ich verstanden habe, was wir da geschafft haben. Ich habe bei Wikipedia nachgeschaut, welche Trainer im Volleyball die WM gewonnen haben. Da gibt es nur noch drei oder vier, die am Leben sind. Und da steht jetzt mein Name in einer Liste mit Leuten, für die ich so viel Respekt habe. Ich kriege jetzt schon wieder Gänsehaut, wenn ich darüber spreche. Es ist unglaublich. Selbst wenn ich nie mehr ein Spiel gewinnen sollte in meiner Karriere, habe ich mehr erreicht, als ich je erwarten konnte.
Und jetzt haben Sie das große Ziel Olympia-Gold 2020.
Heynen: Es kommt in der Geschichte nicht oft vor, dass eine Nation gleichzeitig Weltmeister und Olympiasieger war. Die Polen haben es in den 70ern mal geschafft, die USA in den 80ern, das war's. Jetzt haben wir diese riesige Möglichkeit. Nach WM-Bronze mit der deutschen Nationalmannschaft habe ich den Jungs gesagt: Ich will mehr. Aber die Spieler haben es nicht verstanden. In Polen ist das anders. Polen ist ein Volleyball-Land. Im Moment stehe ich mit den Spielern per Telefon in Kontakt. Wenn ich mit meinem wichtigsten Spieler Michal Kubiak spreche, läuft das immer so ab: 'Blabla, blabla, wir haben eine gemeinsame Sache. Was ist unsere gemeinsame Sache? Wir holen Gold. Wir holen Gold. Tschüss.' So sprechen wir miteinander. Ich hatte noch nie Angst, mir hohe Ziele zu setzen. Du kannst am Ende natürlich mit Silber zufrieden sein mit etwas Abstand, aber das Ziel muss immer Gold sein.
Heynen: "Dann ist es immer ein Pole"
Und das war mit Deutschland nicht mehr so möglich?
Heynen: Als ich 2014 gesagt habe, wir holen eine Medaille, haben mich alle für verrückt erklärt. Wir holen selbst bei einer EM keine Medaille, wie soll das bei einer WM möglich sein. Das schaffen wir niemals. Das habe ich gehört. Aber eine Woche vor WM-Start saßen Lukas Kampa und Jochen Schöps auf der Pressekonferenz und haben von einer Medaille gesprochen. Und jeder merkte, dass es glaubwürdig war und sie wirklich davon überzeugt waren. Da ist es mir gelungen, diesen Glauben in die Mannschaft hineinzutragen. Wir waren die beste Mannschaft bei der WM, ich wollte danach Gold angreifen, aber dieser Glaube hat nach der WM gefehlt.
Wie sehen Sie die Stärke des deutschen Volleyballs im Moment?
Heynen: Gut. Sehr gut sogar. Volleyball ist eine kleine Sportart in Deutschland, aber ihr Deutschen habt das gut gemacht mit eurer Akribie. Es wurde ein Masterplan entwickelt, den Vereinen wurde Druck gemacht - und die Liga hat sich dadurch sehr gut entwickelt. Vor zehn Jahren war die deutsche Liga für Spieler nicht gerade attraktiv, das hat sich verändert. Die Liga ist nicht die beste in Europa, aber vielleicht auf Rang drei, vier oder fünf einzuordnen. Der deutsche Volleyball steht gut da. Es könnte natürlich immer besser sein, aber ihr seid und bleibt ein Fußballland, das ist nun mal kulturell so. Wenn ich in Friedrichshafen auf der Straße angehalten und um ein Foto gebeten werde, ist es immer ein Pole. Die kennen mich alle. (lacht) Volleyball ist dort die Nummer eins, nicht die Nummer sechs. Das WM-Finale haben in Polen 17 Millionen Menschen gesehen. 17 von insgesamt 38 Millionen - das ist eine unglaubliche Zahl. Deshalb ist ein Leben in Polen aber auch gar nicht so einfach und ich bin auch immer froh, wenn ich dann wieder in Friedrichshafen bin.
Heynen: "Für einen Chaoten ist das kein Problem"
Lange sind Sie nicht mehr am Bodensee. Nach der Saison ist Schluss. Wie wichtig wäre zum Abschluss der Gewinn der Meisterschaft, den es seit 2015 nicht mehr gegeben hat?
Heynen: Als ich nach Friedrichshafen gekommen bin, hatte der Verein Angst, gar nichts mehr zu gewinnen. Dass es komplett nach unten geht. Das ist nicht passiert. Wir haben dreimal den Pokal gewonnen in den vergangenen drei Jahren. Den Auftrag, jedes Jahr etwas zu gewinnen, habe ich erfüllt. Natürlich wünscht sich jeder den Meistertitel, aber da hatten wir in der vergangenen Saison die beste Möglichkeit, als wir die Liga dominiert haben. Jetzt hatten wir vor dem Playoff-Start sechs Kandidaten auf die Meisterschaft, so ausgeglichen war es sehr lange nicht mehr. Ich würde kein Geld setzen, wer es am Ende macht. Das Wichtigste ist mir, dass ich den Verein in einem sehr guten Zustand verlasse. Es sieht alles sehr gut aus für die Zukunft in Friedrichshafen.
Im Juni werden Sie 50 Jahre alt.
Heynen: Ich wurde vor Kurzem darauf angesprochen, vorher hatte ich das gar nicht auf dem Schirm. Ich werde einen Tag vorher dran denken und dann irgendwas ausmachen. Wenn ich zurückschaue, war mein 40. Geburtstag ein interessanter Moment in meinem Leben. Damals überlegte ich, wie es mit meinem Leben weitergehen soll? Gehe ich arbeiten? Ich hatte ein Wirtschaftsingenieur-Studium absolviert. Will ich ganz auf die Karte Trainer setzen? Was will ich? Dann habe ich aufgeschrieben, dass ich der beste Trainer der Welt werden will. Wie wir vorhin besprochen haben, hatte ich noch nie Angst vor großen Zielen, auch wenn jeder, der das damals gelesen hätte, gedacht hätte, ich sei verrückt.
Und was machen Sie in fünf Jahren?
Heynen: Es würde mich sehr überraschen, wenn ich in fünf Jahren noch als Trainer im Männerbereich arbeiten würde. Vor fünf Jahren war ich der verrückte Belgier, der keine Ergebnisse liefert. Es kann so viel passieren. Nach Olympia 2020 brauche ich eine neue Herausforderung. Die Frauen-Mannschaften in Deutschland wissen, dass mich eine Aufgabe im Frauen-Bereich reizen könnte. Das würde mich gerade vom sozialen Aspekt her interessieren. Man sagt ja, dass es schwieriger ist, eine Frauen-Mannschaft zu führen. Das würde ich gerne herausfinden. Frauen-Trainer? Vielleicht aber auch eine Aufgabe im Fußball oder Tennis, ich weiß es nicht. Wenn mir jemand sagt, das schaffst du nicht, dann ist es die richtige Aufgabe für mich. Ich habe die gute Situation, dass ich nicht irgendwo Trainer sein muss, um meine Brötchen zu verdienen. Es muss mir Spaß machen. Ich muss dafür brennen. Ich hätte in Belgien damals einen Zehnjahresvertrag unterschreiben können, aber das wollte ich nicht. Mit der Folge, dass ich jetzt eben nicht weiß, was nach Tokio sein wird. Es ist alles offen. Aber für einen Chaoten ist das kein Problem.