Was sich da in den Niederlanden zusammenbraut, könnte einen ersten Vorgeschmack geben auf eine neue Eiszeit, die dem Weltsport bevorsteht. Der Eisschnelllauf könnte im Januar jedenfalls einen Stein ins Rollen bringen. In den Niederlanden, der mit Abstand größten und wichtigsten Nation im weltweiten Eisschnelllauf, ziehen immer mehr Sportler und Trainer einen Boykott der EM in Tscheljabinsk (10. und 11. Januar) in Erwägung.
Noch im Februar hatten die Oranje-Stars bei der russischen Olympia-Show in Sotschi acht Gold-, sieben Silber- und acht Bronzemedaillen abgeräumt - und damit mehr Edelmetall als das komplette deutsche Olympiateam.
Mittlerweile steht wohl kaum ein Land außer der Ukraine Russland in der weltpolitischen Krise unversöhnlicher gegenüber als die Niederlande.
"Politisch stimmt in dem Land viel nicht"
Von den 298 Todesopfern, die der weltweit geächtete Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ukraine gefordert hat, stammten 192 aus den Niederlanden.
"Politisch gesehen stimmt in dem Land natürlich nicht viel", sagt Wüst, "und ich denke auch, dass viele Niederländer jemanden kennen, der von der Flugzeugkatastrophe der MH 17 betroffen ist."
Ohne niederländische Stars wäre die EM am Ural eine Veranstaltung zweiter Klasse. Wüst, Doppel-Olympiasiegerin von Sotschi, hat die letzten beiden EM-Mehrkämpfe für sich entschieden. Bei den Männern ist die Oranje-Dominanz in der Königsdisziplin Mehrkampf noch viel erdrückender. 22 der letzten 26 Europameister sind Niederländer.
Boykotte für Weltverbände ein rotes Tuch
Unumstrittener Superstar unter ihnen ist Sven Kramer, und auch der sechsmalige Europameister lehnt den EM-Austragungsort ab.
"Ich bestimme nicht, wo Wettkämpfe ausgetragen werden. Das macht die ISU. Aber ich finde, dass die ISU das Problem um die EM lösen muss." Der Status quo mache für ihn eine Teilnahme "unglaublich schwierig", sagte Kramer der Tageszeitung "De Telegraaf".
Boykotte gegen das sportpolitisch ungemein mächtige Russland sind für die Weltverbände und auch das IOC ein rotes Tuch. Daran haben auch die jüngsten Enthüllungen über ein staatliche gestütztes Dopingsystem in dem Riesenreich (noch) nichts geändert.
Auch Leenstra sieht Russland-Start kritisch
Jan Dijkema, niederländischer Vizepräsident des Eislauf-Weltverbandes ISU, bediente sich deshalb wenig überraschend ungeachtet der explosiven Stimmung in seiner Heimat eines Totschlagarguments, das Sportfürsten in aller Welt gerne benutzen, um ihre vor allem finanziell wertvollen Großveranstaltungen zu schützen.
"Es ist vernünftig, Sport und Politik auseinanderzuhalten", sagte Dijkema. Er sehe "keinen einzigen Grund, die Europameisterschaft zu verlegen."
Die Kritik in den Niederlanden konnte diese Aussage allerdings nicht eindämmen, im Gegenteil. Auch Team-Olympiasiegerin Marrit Leenstra hatte bereits bekundet, einem Russland-Start kritisch gegenüber zu stehen. Ihr Trainer Jan van Veen hat sich bereits definitiv entschlossen, keinen Fuß auf russischen Boden zu setzen.
"Sport und Politik haben nichts miteinander zu tun? Mit Blick auf Russland habe ich einen anderen Eindruck", sagte der Coach, der auch Titelverteidiger Jan Blockhuijsen und Allround-Weltmeister Koen Verweij betreut.
Freie Wahl für die Sportler
Van Veen stört sich an dem Umgang der möglicherweise verantwortlichen Russen mit der Katastrophe der MH 17 und an der "aggressiven" Rolle Russlands im Ukraine-Konflikt. Für seine Sportler hat er schon andere Betreuer gefunden.
Der niederländische Eissportverband KNSB, der bis zu sechs EM-Startplätze hat, will Sportlern und Trainern die freie Wahl lassen, der EM ferzubleiben oder beizuwohnen.
"Das respektieren wir. Ich bin glücklich mit dem Signal aus der Eisschnelllaufwelt", sagte KNSB-Sportdirektor Arie Koops.
Im kommenden Jahr finden in Russland unter anderem die Weltmeisterschaften der Fechter und der Schwimmer statt.