Im Sommer ist China bereits eine Weltmacht, im Winter sieht es dagegen düster aus. Im Interview mit SPOX erklärt der frühere deutsche Rennläufer Michael Brunner, wie er in China ein Casting durchführte und woran das Projekt letztlich scheiterte.
Bevor Michael Brunner in Garmisch eine Skischule leitete, war er früher selbst Ski-Rennläufer. Und gar kein schlechter. Er gehörte in den 1990er-Jahren zum Nationalteam, ehe ihn ein schlimmer Sturz mit folgender Hüftverletzung zum frühen Karriereende zwang.
Was er sich damals hätte nicht erträumen lassen, war ein Ruf aus China. Aber China musste etwas tun. Während das Land bei den Sommerspielen eine absolute Macht ist (38 Goldmedaillen in Tokio), sieht es im Wintersport bislang mau aus. In Pyeongchang sprang nur eine einzige Goldmedaille heraus, im Shorttrack.
Als China 2015 den Zuschlag für die Winterspiele 2022 in Peking bekam, musste sich also etwas tun. Und so kam 2018 dann Brunner ins Spiel. Seine Aufgabe: Finde Chinas next Skifahrer. Das Ziel: Turner oder Leichtathleten so umschulen, dass sie es zu Olympia schaffen.
Herr Brunner, wie sind die Chinesen überhaupt auf Sie gekommen?
Michael Brunner: Da ich chinesische Skilehrer bei mir in der Skischule hatte und da die Chinesen in Europa eine eigene Community pflegen, habe ich einmal ein Gaudirennen für die Chinesen auf der Zugspitze organisiert. Daher kannte man meinen Namen. China hat ja 2015 den Zuschlag für die Winterspiele bekommen und plötzlich gemerkt, dass man gar keine Skifahrer hat. Also haben sie ein Programm aufgelegt, welches das Ziel hatte, Athleten für den Skisport zu suchen, die dann im besten Fall in Peking am Start sein können. Und dann haben sie mich gefragt, ob ich diese Athleten scouten und aussuchen kann.
Was haben Sie sich da im ersten Moment gedacht?
Brunner: (lacht) Ich dachte, das wird eh nichts werden. Aber ich habe mich getäuscht. Es wurde schnell konkreter und ich sollte tatsächlich nach China fliegen, um die Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren auszuwählen. Plötzlich saß ich im Flugzeug und los ging's.
Verrückt, oder?
Brunner: Ja, das war schon verrückt. Aber ich habe mir gedacht: Warum nicht? Kann man ja mal machen. (lacht) Ich habe dann meinen Sohn mitgenommen, der in Deutschland in einem vergleichbaren Jahrgang ganz gut unterwegs war. Mit ihm hatte ich einen guten Referenzpunkt im Gepäck, er konnte auch Übungen vormachen, das war sehr hilfreich.
privat"In beiden Städten wurden mir 200 Kinder und Jugendliche vorgestellt"
Wie sucht man überhaupt Athleten für den Skisport aus? Worauf haben Sie geachtet?
Brunner: Ich habe unterschiedliche Eignungstests entwickelt. Kondition, Schnelligkeit, Beweglichkeit - ich habe alle Facetten abgedeckt. Ich habe auch sehr darauf geachtet, wie schnell sie in der Lage sind, Dinge zu lernen und umzusetzen. Sind sie bereit, sich zu schinden? Ich habe auch schon ein wenig auf die Statur geachtet, wir wissen ja in etwa, wie ein Skifahrer auszusehen hat und welche Fähigkeiten er für den alpinen Rennsport mitbringen muss. Zum Beispiel ist die Beinstellung wichtig. Mit X-Beinen ist die Gefahr eines Kreuzbandrisses zu hoch, diese sind leider durchs Raster gefallen.
Wo waren Sie genau unterwegs?
Brunner: Ich war zum einen in Nanning, das ist nahe der Grenze zu Vietnam. Nanning ist eine absolute Turnerstadt. Da bin ich in die Trainingshalle gekommen und habe sofort nur Kinder gesehen, die wild Flickflacks und Doppelsalti gemacht haben. Ich bin Skilehrer, das hatte ich noch nie gesehen, das war sehr beeindruckend. Und dann war ich noch in Kaschgar, das ist am Rand der Taklamakan-Wüste. In beiden Städten wurden mir 200 Kinder und Jugendliche vorgestellt, jeweils 20 habe ich ausgewählt.
Was hatten diese Kinder und Jugendliche für einen Hintergrund?
Brunner: Sie hatten alle eine sportliche Ausbildung, im athletischen oder auch im artistischen Bereich. Da waren wie angesprochen viele Turner dabei, aber auch Leichtathleten, Bogenschützen, Fechter oder Kung-Fu-Kämpfer. Das waren alles gute Sportler, aber sie gehörten in ihren Spezialsportarten in China eher zur zweiten Klasse, sodass sie offen waren für einen Weg zum Wintersport. Aber sie hatten vorher wirklich überhaupt keine Berührungspunkte zum Skifahren, die hatten auch Namen wie Felix Neureuther oder Marcel Hirscher noch nie gehört.
Brunner: "Das ist hier ein Experiment von null auf 100"
Wie ging es nach der Auswahl für Sie weiter?
Brunner: Nach dem Scouting bin ich nach Peking gereist, um mich mit der Behörde zu unterhalten. Denen hatte es offenbar ganz gut gefallen, wie professionell und strukturiert ich die Auswahl angegangen bin, sodass sie mich gefragt haben, ob ich jetzt auch den Trainer machen könnte. Moment mal, habe ich geantwortet. Das ist hier ein Experiment von null auf 100. Wenn ich das mache, muss ich mir ein ganzes Team zusammenstellen. Dann müssen wir das mit 100-prozentigem Elan und Fokus angehen. Wenn ich so etwas mache, dann hänge ich mich auch voll rein. Ich habe es dann geschafft, ein paar Leute aus der Garmischer Gegend um mich zu scharen, unter anderem Anton Buchwieser, der auch als Konditionstrainer von Laura Dahlmeier Top-Arbeit geleistet hatte. Als das alles geklärt war, habe ich zugesagt.
Hat man Ihnen konkrete Zielvorgaben gemacht?
Brunner: Es wurde ein Vierjahresplan vereinbart mit Zwischenzielen nach jedem Jahr. Das war aber alles in einem realistischen Rahmen. Selbst die Chinesen haben nicht erwartet, dass innerhalb von vier Jahren Weltklasse-Athleten entwickelt werden können. Es ging darum, dass sich am Ende ein paar Athleten für Peking qualifizieren. Dafür ist eine gewisse Anzahl an Fis-Punkten nötig, die Hürde ist aber nicht so hoch. Bei uns musst du ja einmal unter die ersten acht oder zweimal unter die ersten 15 kommen im Weltcup, um dich zu qualifizieren. Hier wäre eine grobe Richtmarke gewesen, so 14 Sekunden hinter der Spitze zu sein. Das wäre machbar gewesen.
Wie ging es dann konkret mit dem Training los?
Brunner: Die ersten Gehversuche haben wir in Peking in einer Skihalle gemacht. Einfach, um die Basis zu legen. Um überhaupt ein Gefühl für Schnee zu bekommen, die ersten Kurven zu fahren, lernen zu bremsen, alle Basics. Vier Wochen später ging es nach Europa, wo man wirklich schnell auch große Fortschritte gesehen hat. Das war Wahnsinn, wie die nach nur ein paar Monaten schon gefahren sind. Wir haben die ersten Zielvorgaben alle sofort ganz locker unterboten. Schwieriger als das Sportliche war da fast, die ganzen Kinder kennenzulernen und auseinanderzuhalten. Ich habe mir einen Spickzettel machen müssen mit Name, Foto und ein paar Infos zu jedem. So konnte ich dann arbeiten. Aber ein bisschen komisch ist es natürlich schon, wenn du für alles einen Dolmetscher benötigst. Wir wissen auch bis heute nicht, ob der überhaupt das weitergegeben hat, was wir ihm gesagt haben. (lacht)
Was waren das für Kinder? Haben Sie Unterschiede zu deutschen Schülern festgestellt?
Brunner: Interessanterweise gar nicht. Wir kennen ja alle die Trainingsmethoden und die Drills in den Sportinternaten, die in China schon bei Kleinkindern beginnen, aber als sie bei uns waren, waren das ganz normale Kids, genauso wie unsere auch. Das waren wirklich ganz liebe Kinder. Sobald Vertrauen da war, waren sie auch mal frech, ganz normal. Was erkennbar war: Sie wussten alle, um was es geht. Sie haben sich jeden Tag von morgens bis abends voll reingehauen, sie hatten einen brutalen Willen und wollten sich wirklich immer verbessern und verbessern. Die Einstellung war top.
Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass die Vorstellungen zwischen Ihnen und den Chinesen doch weiter auseinander liegen?
Brunner: Als ich ihnen versuchte zu erklären, dass manches nicht so einfach geht, wie sie sich das vorstellen. Ich habe zum Beispiel zu erklären versucht, dass die Kinder hier mit drei oder vier Jahren schon mit dem Skifahren anfangen und bis sie 14 sind unglaublich viele Tage auf Skiern gestanden sind. Manche hören mit 14 schon wieder auf, und jetzt fangen wir mit den chinesischen Kindern in dem Alter erst an. Das muss man wissen. Das haben sie aber nicht verstanden.
Was war die Antwort, die Sie bekommen haben?
Brunner: Sie waren ungläubig und haben mir ihre ganz eigene Rechnung präsentiert. Wir haben 365 Tage im Jahr, wenn man davon 300 Tage trainiert, jeden Tag 6 Stunden, hätte man doch alles schnell aufgeholt. Sie wollten eine Karriere im Schnelldurchlauf. Das Problem war auch, dass sie immer von anderen Sportarten, in denen sie sehr erfolgreich sind, aufs Skifahren geschlossen haben, das funktioniert aber so nicht. Das geht ja schon damit los, dass wir gar nicht 300 Tage im Jahr Ski fahren können. Da hat die Natur etwas dagegen. Dazu kommt, dass man ja ganz neue Prozesse anstoßen muss, es braucht beim Skifahren ganz andere Bewegungen als im Turnen. Bis das verinnerlicht ist, dauert es Jahre. Das haben sie nicht verstanden. Genauso wenig, dass man die Kinder nicht immer in den roten Bereich bringen darf.
Was heißt das?
Brunner: Wir hatten auch chinesische Betreuer bei uns mit dabei, die sie mitgeschickt haben, zum Beispiel einen Nationaltrainer aus dem Judo. Einmal waren wir den ganzen Tag beim Skifahren und abends wäre eigentlich nur noch Regeneration angestanden.
privatBrunner über den Clash der Mentalitäten
Was auch sonst ...
Brunner: Für uns scheint das klar, aber der Judo-Nationaltrainer hat dann am Abend ohne unser Wissen noch ein Krafttraining angesetzt. Mit der Folge, dass am nächsten Tag alle Muskelkater hatten und wir nicht trainieren konnten. Ich habe ihm dann zu erklären versucht, dass das kontraproduktiv ist. Aber er meinte, dass die Kinder immer wieder in den roten Bereich hereingebracht werden müssen, damit sie die Stärke entwickeln, sich durchzusetzen. Im Judo kommt es ja ganz oft auf die letzten zehn Sekunden an, darauf wollte er sie irgendwie vorbereiten, das war sein Ansatz.
Und jede Erklärung Ihrerseits hat nicht gefruchtet?
Brunner: Leider nein. Es war unglaublich anstrengend, da immer wieder in die Diskussion zu gehen, da sind einfach völlig unterschiedliche Mentalitäten und Trainingsmethoden aufeinander geprallt. Die Chinesen glauben auch, dass die Chinesen grundsätzlich schneller regenerieren, die Aussage ist wirklich so gefallen. Wir haben aber mit unserem Arzt auch Untersuchungen gemacht und Laktatwerte gemessen, das Ergebnis war gleich wie bei unseren Schülern hier. Es war einfach schwierig mit der Zeit. Zumal es uns nicht nur um das rein Sportliche ging.
Sondern?
Brunner: Es war ja von Anfang an klar, dass nicht alle durchkommen und eines Tages bei Olympia starten können. Wir wollten aber, dass sie nicht nur Skifahren lernen bei uns, sondern dass wir sie auch als Menschen weiterentwickeln. Dass sie eine Sprache lernen, Deutsch oder Englisch, und sie vielleicht, wenn sie zurückkommen nach China als Dolmetscher arbeiten können. Oder dass sie Skilehrer werden können, in China werden ja Skigebiete gebaut. Wir hatten einen gesamtheitlichen Ansatz, der kam aber nicht so gut an. Das war einfach nicht gefragt.
Brunner: "Im Skifahren funktioniert das so nicht"
Und so hat es am Ende keinen Sinn mehr ergeben?
Brunner: So sehr mir die Kinder ans Herz gewachsen sind und so toll die Zeit mit ihnen war, wurde es mir am Ende zu viel. Es war eine unglaublich intensive und anstrengende Zeit, weil ich nahezu alles selbst organisieren musste und der Job weit über den des Trainers hinaus ging. Dazu kam, dass mein Ansprechpartner in China gefühlt alle vier Wochen ein anderer war, es wurde immer undurchschaubarer. Ich musste auch jeden Tag den Trainingsfortschritt festhalten und kommunizieren, genauso wie die Trainingspläne. Nun ist der Skisport aber situativ und auch vom Wetter abhängig, ich kann fünf Tage Slalom-Training planen, aber es kann immer sein, dass es kurzfristig nicht geht und wir umdenken müssen. Auch dieses Verständnis war leider nicht vorhanden. Trotzdem möchte ich die Zeit überhaupt nicht missen, ich habe sehr viel gelernt und sehr viele liebe Kinder und Jugendliche kennengelernt.
Wie blicken Sie auch nach Ihrer Erfahrung auf die Spiele in Peking?
Brunner: Ich muss ehrlich sagen, dass ich es nicht verstanden habe, dass die Spiele zum zweiten Mal in Folge nach Asien vergeben wurden. Das ist schon merkwürdig. Wenn ich alles einbeziehe, China, die Corona-Thematik, keine Zuschauer, dann sind das einfach keine Winterspiele, wie ich sie mir vorstelle. Ich verstehe auch jeden bei uns in der Region, der Angst vor dem Gigantismus des IOC hat und gegen eine Austragung gestimmt hat. Das IOC muss erkennen, dass man die Bevölkerung wieder viel stärker mitnehmen muss und man nicht diktatorisch Verträge auf den Tisch knallen kann. Wenn da ein Wandel einsetzen würde und wenn es um Themen wie Nachhaltigkeit gehen würde, dass die Natur so belassen wird, wie sie ist, dann würden die Menschen auch wieder für Olympia stimmen. Aber so wie es aktuell läuft, kann ich jeden verstehen, der das nicht will.
Glauben Sie, dass China in 20 Jahren auch eine Wintersportmacht sein wird?
Brunner: Grundsätzlich kann alles passieren, wir hätten auch nie gedacht, dass ein Brite den Slalom in Kitzbühel gewinnen kann. Aber im Moment kann ich mir nicht vorstellen, dass wir einen chinesischen Weltklasse-Abfahrer bekommen werden in den nächsten 20 Jahren. Dafür müsste China erst verstehen, dass man mit den knallharten Strukturen und den Methoden zwar in gewissen Sportarten sehr erfolgreich sein kann, aber im Skifahren funktioniert das so nicht. Fürs Skifahren brauchst du mehr als nur Drill, dafür brauchst du auch Gefühl.