Noah Lyles hüpfte wie wild auf und ab, er brüllte seine Freude und Erleichterung heraus - dann riss er sich seine Startnummer mit seinem Namen darauf von der Brust und hielt sie in alle Kameras. "Seht her, ich habe es allen gezeigt", sollte das wohl heißen.
Und tatsächlich: Lyles zeigte im Stade de France eine spektakuläre Sprintshow, schnappte sich dank eines starken Schlussspurts in einer historischen Tausendstel-Entscheidung das ersehnte Gold.
"Genau das wollte ich, diesen harten harten Kampf gegen unfassbar starke Gegner", sagte Lyles: "Ich bin der Wolf unter den Wölfen." Nach dem Zieldurchlauf war sich Lyles nicht sicher, dass er gewonnen hatte. "Ich bin zu Kishane gegangen und habe gesagt: 'Ich will ehrlich sein, Bruder, ich glaube, du hast gewonnen'. Ich war darauf vorbereitet, dass sein Name auftauchen würde, und als ich dann meinen Namen sah, dachte ich: 'Meine Güte, das ist ja unglaublich. Ich bin unglaublich.'"
Mission erfüllt: Mit seinem Traumlauf hat Lyles sein Versprechen eingelöst und Olympia-Gold über die 100 m nach 20 Jahren zurück in die USA geholt. Der Weltmeister rannte im spektakulären Finale von Paris mit 9,79 Sekunden Bestleistung und war damit nicht zu halten.
Hinter Lyles sicherte sich Kishane Thompson (9,79/Jamaika) Silber, es war die knappste Entscheidung in der Olympia-Geschichte. Lyles setzte sich in dem Fotofinish-Thriller nur mit fünf Tausendstelsekunden durch. Bronze holte im Stade de France Fred Kerley (9,81/USA).
Usain Bolt und Marcell Jacobs dominieren den Sprint
Ein DJ hatte den Fans vor dem Rennen eingeheizt, durch eine Lichtershow wurde die Spannung noch einmal hochgetrieben - und Lyles genoss es einfach nur. Der schwache Start brachte ihn nicht aus dem Konzept, er stachelte ihn eher an. Als es vollbracht war, fiel er seiner Mutter auf der Tribüne um den Hals.
Lyles hatte sich im Vorfeld maximal unter Druck gesetzt, nur er, der dreifache Weltmeister von Budapest, könne Gold über die prestigeträchtigste aller Strecken mit nach Hause nehmen. "Je mehr Augen auf mich gerichtet sind, desto besser bin ich", sagte der 27-Jährige - und dann hielt er tatsächlich Wort.
Mit seinem unwiderstehlichen Goldlauf und in den US-Farben lackierten Fingernägeln versöhnte Lyles auch wieder die Heimat, schließlich mussten die USA seit 2004 auf einen Olympiasieger über die 100 m warten. Damals in Athen hatte Justin Gatlin triumphiert, danach begann die Ära des Jamaikaners Usain Bolt, in Tokio düpierte Überraschungssieger Marcell Jacobs (Italien) die US-Boys. Nun lieferte Lyles, was die Fans sehen wollten - und jubelte über seine erste Goldmedaille bei Olympischen Spielen.
Damit schloss Lyles auch persönlich seinen Frieden mit Olympia, bei den Pandemie-Spielen von Tokio litt er unter der sterilen Atmosphäre, er vermisste die Fans, seine Depressionen, die ihn seit seiner Jugend verfolgen, brachen wieder aus. Über die 200 m reichte es für ihn so nur zu Bronze. "Das ist nicht genug", schwor sich Lyles danach. Nun die eindrucksvolle Wiedergutmachung.
Noah Lyles hat noch drei Chancen auf Gold
In Paris peilt Lyles noch drei Mal Gold an, über die 200 m und mit den Staffeln über 4x100 und 4x400 m. Sein Ziel? Eine Legende werden, die Lücke von Usain Bolt schließen. Und Lyles könnte es tatsächlich schaffen, der Mann aus Florida bringt alles mit: Charisma, Charme, die Lust zur Show, flotte Sprüche - und eine bewegende Geschichte.
In der Highschool wurde Lyles oft gehänselt, er hatte eine Lernstörung, die Eltern ließen sich früh scheiden, seine Mutter Keisha zog ihn und den ebenfalls sprintenden Bruder alleine groß, nicht immer war genug Essen und Geld da. "Einmal wurde uns der Strom abgestellt", sagte Lyles. Hinzu kamen seine Depressionen.
Doch Lyles biss sich durch, Weltverbands-Präsident Sebastian Coe nennt ihn einen "absoluten Rockstar". Und nun ist Lyles auch endlich Olympiasieger.