Dieser Artikel erschien erstmals im Juni 2012
17. Juni 1956. Letzter Tag der olympischen Reiterspiele von Stockholm. Ein letztes Hindernis. Auf geht's, Halla! Ein letzter Sprung. NULL FEHLER! Gold für Hans Günter Winkler mit seiner Halla! Star-Reporter Hans-Heinrich Isenbart ist völlig außer sich. Er hat gerade einen der größten Momente in der deutschen Olympia-Geschichte kommentiert.
Flashback: Wir befinden uns Anfang der 50er Jahre. "Spanne die verrückte Ziege vor einen Pflug, wir können sie nicht gebrauchen." Es ist ein Satz aus dem Mund von Gustav Rau, der damals für die besten Sportpferde in deutschen Landen zuständig ist.
Die verrückte Ziege ist Halla. Niemand würde sie zu diesem Zeitpunkt als Wunderstute deklarieren. Bei weitem nicht.
Ihre Eltern sind ein wenig erfolgreicher Traberhengst namens "Oberst" und eine genauso unbekannte französische Beutestute namens "Helena". Nein, Halla fällt nicht unter die Kategorie Wunderstute. Sie fällt unter den Begriff untauglich.
HGW muss warten
Hans Günter Winkler, kurz HGW, lernt sie Ende der 40er Jahre als Rennpferd kennen, merkt aber schnell, dass ihr dafür schlicht der Speed fehlt.
Also wird Halla zum Vielseitigkeitspferd umgeschult - mit so ordentlichem Erfolg, dass sich Winkler mit ihr für die Olympischen Spiele 1952 in Helsinki qualifiziert.
Da er aber als angeblicher Profi-Reiter, weil er bei den amerikanischen Besatzungstruppen im Reitstall gearbeitet hatte, nicht zum Start zugelassen wird, wird Halla an einen anderen Reiter weitergegeben. Hier könnte die Geschichte jetzt schon zu Ende sein, ist sie aber nicht, weil kein Reiter mit der störrischen Halla zurechtkommt.
Winkler und Halla: Wie füreinander geschaffen
Nur durch eine glückliche Fügung landet sie wieder bei Winkler, als ihn Hallas Besitzer Gustav Vierling auf der Straße anspricht und ihm anbietet, die Stute zu reiten. Und plötzlich hat er Halla zurück. Auch gar nicht mal aus Liebesgründen, sondern eher aus pragmatischen Gesichtspunkten.
"Ich war unbekannt und war auf jedes Pferd angewiesen, das man mir anbot", beschreibt es Winkler einmal. Um das große Geld geht es damals nicht. Es geht um ganz andere Dinge, wie HGW in einem "WDR"-Interview bekennt: "Es ging um Essen, ganz simpel. Sponsoren gab es ja gar nicht. Einer hat mal einen Sack Hafer gegeben, oder man wurde eingeladen. Zum Essen."
Man kann es sich heutzutage kaum mehr vorstellen. Aber Winkler geht es rein um den Sport. Um Halla. So entsteht eine Pferd-Reiter-Paarung, die wie füreinander geschaffen ist. Ein hochsensibles Pferd mit eigenem Willen und ein feinfühliger Reiter, der die Ruhe und Geduld hat, alle Zickereien verstehen zu lernen.
Der berühmteste Ritt aller Zeiten
"Es war eine reine Geduldsfrage mit Halla. Sie war ein übersensibles Tier, mochte keine Hunde, Hühner, Katzen - doch Menschen, die mochte sie. Wie eine kapriziöse Frau wollte Halla nicht körperlich angefasst werden. Ein schwieriges Unterfangen bei einem Reitpferd", erklärt Winkler später lachend in einem Gespräch mit Welt online.
Er kapiert schnell, dass die kleinen Marotten zu einem Großteil aus Langeweile resultieren und Halla einfach gefordert werden will. Den großen Durchbruch feiern Winkler und Halla 1954 mit dem Gewinn des WM-Titels in Madrid, ein Jahr später gibt es bei der Heim-WM erneut Gold. Zum Mythos werden sie dann an diesem 17. Juni 1956.
Am letzten Tag der olympischen Reiterspiele in Stockholm erlebt die Welt den berühmtesten Ritt aller Zeiten. Es ist ein Ritt, der wie kein anderer zeigt, wie intelligent Pferde sind und wie treu sie ihrem Reiter zur Seite stehen. Was war genau los? Nun ja, im ersten Umlauf entwickelt sich ein unfassbares Drama.
EIN AUFSCHREI an Hindernis 13...
Der 29-jährige Winkler nimmt mit seiner Diva die ersten zwölf Hindernisse fehlerfrei, doch dann kommt Hindernis Nummer 13. Ein 1,60 Meter hoher Gartenkoppelzaun. EIN AUFSCHREI!
Winkler spürt einen stechenden Schmerz in seiner linken Leiste, es ist, als ob ihm jemand ein Messer in den Bauch gerammt hätte. Er sackt zusammen. Ist beinahe ohnmächtig vor Schmerzen. HGW bleibt gerade noch so im Sattel, Halla macht am letzten Hindernis einen Fehler, trägt ihren Reiter aber über die Ziellinie.
Winkler hat sich einen Muskel in der Leiste gerissen. Auf dem Papier haben sowohl er im Einzel als auch die deutsche Mannschaft Goldchancen, da insgesamt kein Reiter fehlerfrei bleibt. Aber was bringt es? Winkler müsste ins Krankenhaus. Eigentlich. Aber dann wäre für die Equipe alles vorbei.
Ein Streichergebnis gibt es 1956 nicht. Winkler erklärt die Situation selbst am besten: "Es war ein Scheidepunkt in meiner ganzen Laufbahn: Entweder Held sein und das Unmögliche möglich machen, oder die größte Pfeife sein, die Deutschland die Goldmedaille kostet. Um mich herum starrten mich die Leute argwöhnisch an, doch ein Zurück gab es nicht. Unser Tierarzt Willi Büsing verpasste mir zweimal Schmerzmittel, das zweite zeigte eine solche Wirkung, dass ich benommen war und die Hindernisse nicht mehr hätte sehen können. Also trichterte man mir ein Kännchen schwarzen Kaffee ein, ich kam zu mir - der Rest ist Geschichte."
Der Moment, als Halla zur Wunderstute wird
Winkler ist so benommen, dass nicht nur starker Kaffee her muss, er muss sogar geschüttelt werden, damit er nicht einschläft. Als er zum zweiten Umlauf antritt, ist er nicht mehr als ein Statist. Er ist in der Lage, Halla an die Hindernisse heranzuleiten, aber die üblichen Hilfen per Schenkeldruck kann er ihr nicht geben.
Winkler hängt nur irgendwie so über seinem Pferd - dass er sich im Sattel hält, ist alleine schon ein Wunder. Mitunter schreit er vor Schmerzen laut auf. Es ist der Moment, als Halla zur Wunderstute wird. Sie spürt, wie schlecht es ihrem Reiter geht, und erledigt die ganze Sache höchst konzentriert im Alleingang.
Als einziger Reiter bleibt Winkler fehlerfrei. Gold im Einzel. Gold in der Mannschaft. Es ist der absolute Wahnsinn.
Todesnachricht in der Tagesschau
"Wir drohten uns, wir vertrugen uns, wir waren Partner, wir vertrauten uns. Pferde haben normalerweise keine menschliche Intelligenz - sie hatte sie irgendwie. Natürlich brauchte sie einen Kapitän im Sattel. Doch bei diesem Wunder von Stockholm hatte der Kapitän das Kommando an sie, die erste Offizierin, übergeben", so Winkler gegenüber "Welt online". Für ihn war seine Halla eine "Mischung aus Genie und irrer Ziege".
"Sie hatte eine Schraube locker wie ich", sagt Winkler. 1960 wird Halla nur noch zur Zucht eingesetzt, nach drei olympischen Goldmedaillen und insgesamt 128 Siegen. Halla ist aber weiter ein Star, sie bekommt Fan-Post - adressiert an "Halla, Deutschland." In der Dominikanischen Republik wird sogar eine Sonderbriefmarke von HGW und Halla gedruckt.
In Warendorf gibt es eine Halla-Skulptur. Als Halla im Alter von 34 Jahren stirbt, kommt die Nachricht in der Tagesschau. Übrigens: Die Reiterliche Vereinigung hat verfügt, dass nie mehr ein Turnierpferd unter dem Namen Halla starten darf. Denn diese Halla bleibt für immer einmalig.