Olympic Moments: Tonya Harding und das Eisenstangen-Attentat auf Nancy Kerrigan

Liane Killmann
27. Februar 201817:02
Rivalinnen auf dem Eis: Nancy Kerrigan (r.) und Tonya Harding 1994 in Hamarimago
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In den Olympic Moments blickt SPOX auf die legendärsten Momente der Olympischen Spiele zurück. In Teil acht: Das Eisenstangen-Attentat, das 1994 vor den Spielen in Lillehammer die Sportwelt entsetzte - und die Eiskunstläuferinnen Nancy Kerrigan und Tonya Harding für immer miteinander verbinden sollte.

Americas Sweetheart auf der einen, die eifersüchtige Rivalin auf der anderen Seite: Vor den Olympischen Spielen in Lillehammer 1994 ereignet sich im US-Team der Eiskunstläuferinnen eine Kriminalgeschichte, die sich Hollywoods Dramaturgen nicht besser hätten ausdenken können - und der im Film "I, Tonya" 2017 tatsächlich verfilmt wurde.

Nach Kristi Yamaguchis Rücktritt mit dem Olympiasieg 1992 gelten Nancy Kerrigan und Tonya Harding als deren Kronprinzessinnen, machten die US-Girls doch bereits das WM-Podest in München 1991 unter sich aus: Yamaguchi vor Harding und Kerrigan.

Harding hat zweifellos das größere sportliche Talent. Schon mit zwölf Jahren steht sie den dreifachen Lutz. Mit knapp 17 Jahren ist sie weltweit die erste Läuferin, der in einem internationalen Wettkampf, der Skate America 1987, der dreifache Axel gelingt - zwei Jahre, bevor Midori Ito mit dem Dreieinhalbfachen bei der WM 1989 Weltruhm erlangt.

Trotz all ihrer Sprunggewalt fehlt Harding bei ihren Darbietungen das gewisse Etwas. Immer ein wenig zu athletisch, zu blass, roh und schlicht. Es fehlen die Emotionen. Und so verliert sie nach ihrer WM-Silbermedaille 1991 zunehmend den Anschluss an ihre große Konkurrentin.

Nancy Kerrigan überzeugt Preisrichter und Fans mehr mit ihrer Eleganz und Ausdrucksstärke als mit technischen Elementen oder Nervenstärke. Kerrigan weiß zu berühren, strahlt Klasse aus. Nach WM-Bronze 1991 holt sie im Jahr darauf schon Silber. Harding bleibt nur Rang sechs.

Tonya Harding: Letzte Chance Lillehammer 1994?

Während Kerrigan 1993 US-Meisterin wird, verliert Harding als Vierte gar ihren internationalen Startplatz - und sieht Richtung Lillehammer ihre Felle davonschwimmen. Dabei hat die inzwischen 23-Jährige Olympiagold als ihr Sprungbrett in ein besseres Leben auserkoren.

Aus der Unterschicht Portlands hatte sich Harding in die schillernde Eislaufwelt emporgearbeitet - und wirkte dort zuweilen wie ein Fremdkörper. Die Highschool brach sie ab und setzte ganz auf die Eislaufkarte. Ihre Mutter erarbeitete sich an der Bande schnell einen zweifelhaften Ruf, schrie ihre Tochter an und belegte sie mit übelsten Schimpfworten, wenn es im Training einmal nicht lief.

Zwar stammte auch Kerrigan nicht aus wohlhabenden Verhältnissen - ihre Familie finanzierte das teure Training nur dank zahlreicher Nebenjobs - doch ihre Ausstrahlung verhalf der hübschen, ruhigen Brünetten mit den ersten Erfolgen zu einträglichen Werbeverträgen. Kerrigan war ihrer finanziellen Sorgen schnell ledig, sie konnte ihrer Familie deren Entbehrungen zurückzahlen - und Harding sah in die Röhre. Und zu allem Überfluss hatte sie seit 1991 keinen dreifachen Axel mehr gestanden. Ihre Bitterkeit wuchs.

War sie deshalb bereit, die Olympiavorbereitung ihrer großen Konkurrentin zu sabotieren?

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Das Eisenstangen-Attentat auf Nancy Kerrigan

Fakt ist: Nancy Kerrigan wird am 6. Januar 1994, einen Tag vor dem Start der US-Meisterschaften, in Detroit angegriffen. Die Topfavoritin ist nach einer Trainingssession auf dem Weg aus der Cobo Arena, als ein Unbekannter sie mit einer Eisenstange attackiert.

"Bevor sie etwas sagen konnte, kam ein Kerl angerannt, beugte sich zu ihr, schlug auf ihr Knie ein und rannte davon", erinnert sich ein Augenzeuge. "Nancy fiel hin, schrie und schluchzte."

"Warum, warum ich?" seien ihre ersten Worte gewesen. Kerrigan erleidet eine schwere Prellung oberhalb des rechten Knies und muss die Meisterschaft, die ihr die Olympia-Qualifikation bringen sollte, absagen. Kerrigans Manager und späterer Ehemann Jerry Solomon äußert sich besorgt: "Das ist für Nancy körperlich und seelisch ein herber Schlag. Dieser Angriff könnte ihre mentale Verfassung ernsthaft gefährden, und mentale Stärke ist so wichtig auf dem Eis."

Zwei Tage später ist Tonya Harding zum zweiten Mal nach 1991 US-Meisterin und als eine von zwei Läuferinnen für die Spiele in Lillehammer qualifiziert. Statt jedoch das zweite Olympiaticket direkt an die Zweitplatzierte Michelle Kwan zu vergeben, lässt der Verband die Tür für Nancy Kerrigan offen.

Hardings Ehemann überführt - was wusste Tonya?

Diese äußert sich am Kürtag erstmals öffentlich zu dem hinterhältigen Angriff. "Ich bin okay. Aber ich bin äußerst wütend, dass jemand zu so etwas fähig ist." Das Ausmaß der Verschwörung ahnt die 24-Jährige da noch gar nicht.

Die Geschichte schlägt nur acht Monate nach dem Messerattentat auf Monica Seles in den Medien große Wellen. Die Ermittlungen sind in vollem Gang: Der Angreifer soll Kerrigans Training gefilmt haben, bevor er zuschlug. Er trug offenbar eine Akkreditierung, identifiziert wird er dennoch erst acht Tage nach dem Vorfall.

Die Polizei nimmt am 14. Januar drei Männer fest, fünf Tage danach wird auch Hardings Ex-Ehemann in Gewahrsam genommen: Jeff Gillooly soll mit Hardings Bodyguard Shawn Eckardt einem Bekannten den Auftrag erteilt haben, Kerrigan zu attackieren. Dieser Strohmann überredet schließlich seinen Neffen, Shane Stant, den Angriff in die Tat umzusetzen. Was Gillooly nicht ahnte: Die drei Mittäter ließen ein Aufnahmegerät mitlaufen, als sie mit Gillooly den Plan ausheckten, Kerrigan das Bein zu brechen. Hardings Ehemann ist schnell überführt. Was aber wusste Tonya?

"Eishexe" Harding darf bei Olympia in Lillehammer antreten

In einem mehr als zehnstündigen Verhör durch das FBI streitet die Athletin zunächst jede Mitwisserschaft ab, nur um am 27. Januar schließlich zuzugeben, dass sie nach dem Attentat von dem Plan erfahren und ihn gedeckt habe. Ehemann Jeff behauptet bei seiner Haftprüfung, Tonya habe den Plan vor dem Angriff gekannt und gebilligt.

Kerrigan ist derweil zurück auf dem Eis, nur elf Tage nach dem Anschlag. Das nationale olympische Komitee nominiert sie für Lillehammer - und möchte Harding nach den bekannt gewordenen Vorwürfen schnellstens aus dem Kader werfen. Die erst 13-jährige, hochtalentierte Michelle Kwan, die später fünfmal Weltmeisterin werden wird, steht als Ersatz bereit.

Doch Harding fightet. Sie reicht angesichts des schwebenden Verfahrens eine-20-Millionen-Dollar-Klage ein - und das USOC gibt zum Start der Spiele am 12. Februar schließlich nach. Tonya Harding, medial inzwischen nur noch als "Eishexe" tituliert, darf bei Olympia antreten.

Kerrigan schlägt Harding: "Beauty Crushes the Beast"

Das erste Training im Olympic Amphitheatre zu Hamar am 17. Februar findet vor 400 Medienvertretern statt. Kerrigan und ihre mutmaßliche Peinigerin gemeinsam auf dem Eis, dieses Kriminaldrama stellt alles in den Schatten. Sogar Kati Witts olympisches Comeback als erste Profiläuferin der Geschichte nach sechs Jahren ohne Wettkampf.

Die Befürchtungen des Kerrigan-Managers erweisen sich im Laufe der Spiele als hinfällig: Kerrigan hinterlässt einen starken Eindruck, Harding dagegen ist das Nervenbündel. Nach dem Kurzprogramm führt Kerrigan vor Oksana Baiul, der 16-jährigen Weltmeisterin aus der Ukraine. Tonya Harding wird im Zwischenklassement nur Zehnte.

Die Medien überbieten sich in ihren Schlagzeilen: "Beauty Crushes the Beast" (Dagbladet) oder "Few Tears, No Blood as Snow White Beats Poison Dwarf" (The Irish Times) sind nur zwei der zahllosen Beispiele.

Das hollywoodreife Happyend ist in greifbarer Nähe, doch in der höher bewerteten Kürentscheidung wird Kerrigan mit 5:4 Preisrichterstimmen und nur 0,2 Punkten zurück auf Rang zwei gesetzt. Oksana Baiul wird trotz ihres Zusammenpralls mit Tanja Szewczenko beim Einlaufen eine der jüngsten Eiskunstlauf-Olympiasiegerinnen aller Zeiten.

Dennoch: Nur sechs Wochen nach dem Eisenstangenattentat, sechs Wochen voller Hoffen, Bangen, Nervenkrieg, gewinnt Nancy Kerrigan die olympische Silbermedaille. Das amerikanische Eislaufmärchen ist (fast) perfekt. US-Fans und Eiskunstlauf-Experten sind sich noch heute weitgehend einig: Kerrigan hätte für ihre reifere Kür den Olympiasieg verdient gehabt.

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Harding bricht bei der Olympia-Kür eine Kufe

Und Harding? Sie bricht ihre Kür nach nur 45 Sekunden unter Tränen ab, Grund ist eine gebrochene Kufe. Die US-Amerikanerin darf den Regeln entsprechend noch einmal beginnen, landet aber noch hinter der 14-jährigen Debütantin Szewczenko und Rückkehrerin Katarina Witt nur auf Rang acht. Ihren Traum vom Olympia-Gold hat sie um Welten verpasst - und der Albtraum rund um das Attentat ist noch nicht vorbei.

Mitte März 1994 wird Hardings Verwicklung in die Tat vor Gericht verhandelt. Sie bekennt sich im Rahmen einer Vereinbarung in diesem Strafprozess schuldig. Nur um einer Haftstrafe zu entgehen, wie sie noch heute betont.

Harding wird schließlich wegen Behinderung der Ermittlungen zu drei Jahren Haft auf Bewährung, zur Zahlung von 160.000 US-Dollar und 500 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt und darf nicht an der WM 1994 teilnehmen. Im Juni verliert sie ihren US-Meistertitel und wird auf Lebenszeit für Eislaufwettbewerbe gesperrt, auch als Trainerin.

Von Gillooly lässt sie sich zwar scheiden, doch ihren Platz im Leben sucht sie anschließend vergebens. Eine Filmrolle als Freundin eines Kriminellen, ein Auftritt mit einer Band, bei dem sie von der Bühne gebuht wird, Profiboxen, Autorennen, Catchen - die Liste ihrer skurrilen Versuche, Geld aufzutreiben, ist lang.

Auch mit dem Gesetz kommt Harding immer wieder in Konflikt, auch durch mehrfaches Fahren unter Alkohol und Anzeigen wegen häuslicher Gewalt.

Kerrigan bleibt nach Olympia-Silber Americas Darling

Kerrigan hingegen ist und bleibt nach der Silbermedaille Americas Darling. Das Attentat hat sie zu einer der populärsten Frauen des Landes gemacht. Nach der erfolgreichsten Olympia-Übertragung aller Zeiten weltweit kennt sie jedes Kind. Sie landet auf dem Titel des Time Magazines, moderiert Saturday Night Live - und beendet ihre Eislaufkarriere.

Nach der Hochzeit mit Ex-Manager Solomon und der Geburt des ersten von drei Kindern zieht sie sich 1996 weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Nur einmal, 1998, spricht sie öffentlich über die Vorkommnisse im Januar 1994 - für das gemeinsame Interview kassieren Kerrigan und Harding ordentlich ab. Es trennen sie noch immer Welten, und sie sind doch für immer verbunden.

Wie verbittert Harding, inzwischen zum dritten Mal verheiratet und Mutter eines Sohnes, noch immer ist, offenbart die ESPN-Dokumentation "Der Preis des Goldes". "Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht an Vieles nach den Olympischen Spielen, denn ich habe alles verloren", sagt die 43-jährige Harding in diesem bemerkenswert offenen Interview. "Das war das Schlimmste, was mir passieren konnte. Was soll ich nun mit meinem Leben anstellen?"

Ihre ehemalige Rivalin Kerrigan sei eine "Heulsuse, die kein Gold gewann" und "bloß die Klappe halten" solle. "Sie ist eine Prinzessin, so sieht sie jeder. Sie ist eine Prinzessin und ich bin ein Haufen Scheiße."