Auch auf legalem Wege war der Normanne ein ausgebuffter Vollprofi. So bediente er sich immer wieder Bluffs oder Tricks, um im Hochgebirge seinen im Zeitfahren heraus gefahrenen Vorsprung gegen Kletterer wie Federico Bahamontes zu behaupten. 1963 etwa täuschte er einen Defekt vor und wechselte auf ein deutlich leichteres Bergfahrrad. Er gewann die Alpen-Etappe von Chamonix und die Tour.
Ein anderes, ungleich populäreres Beispiel seiner taktischen Raffinesse, das längst Teil der Tour-Folklore ist, war sein legendärer Zweikampf mit dem ewigen Zweiten Raymond Poulidor, ebenfalls 1963. Auf der 19. Etappe hatte Anquetil nur 56 Sekunden Vorsprung vor seinem Landsmann. Der Matador war mit seinen Kräften am Ende, überspielte das aber gekonnt mit markigen Sprüchen und Ellbogeneinsatz, der ein legendäres Foto schuf. Poulidor attackierte viel zu spät und fuhr nur 42 Sekunden heraus - Anquetil trug in Paris wieder einmal das Maillot Jaune, Poulidor wurde wieder einmal Zweiter.
Die Massen bevorzugten den Verlierer
Überhaupt war es der Zweikampf mit Poulidor, der beide Sportler für immer prägte. Poupou, wie die Franzosen Anquetils Rivalen liebevoll nannten, wurde bei der Tour drei Mal Zweiter, und fünf Mal Dritter - ein Sieg war ihm nie vergönnt. Diese Tragik war es, die ihn zum Liebling der Massen werden ließ, während Anquetil mit Pfiffen bedacht und ausgebuht wurde - und das in seinem eigenen Land. "Der intelligente Anquetil fuhr mit dem Kopf, Poulidor rannte mit seinem blindlings gegen die Wand - und hatte dabei den Beifall aller. Anquetil bezahlte seine Erfolge, die mehr berechnet, kalkuliert waren denn wirklich herausgefahren, mit den minutenlangen Pfeifkonzerten des Publikums, während Poulidor, der geschlagene Knecht aus der Provinz, von den Massen umjubelt wird", hieß es 1975 in der Zeit.
Es war die Einfachheit und Menschlichkeit Poulidors, die ihn so beliebt machten. Er sagte, er wolle nach der Karriere Bäcker werden und kämpfte sich mit verkniffenem Gesicht die Berge hinauf, während Anquetil Werbeverträge abschloss, vor den Rennen schon mal Austern und Champagner zu sich nahm oder mit leicht bekleideten Damen im Hinterzimmer verschwand und wie ein Roboter im Autopiloten-Modus fuhr, ohne Emotionen, selbst in der Stunde des Sieges. Während man Poulidor die Liebe zum Radfahren anmerkte, sah sein Widersacher den Sport als Geschäft, das ihn seinem Kindheitstraum vom Reichtum näher brachte.
Der Präsident unterstützte den Pragmatismus
"Ich fahre die Tour schließlich nicht aus Sportbegeisterung", sagte er einmal und zeigte seinen Willen nach Gewinnmaximierung. So kassierte er beim legendären Zeitfahr-Grand-Prix von Lugano das doppelte Honorar des Veranstalters, damit er nicht gewann. Man wollte Spannung und Anquetil hatte den Kampf gegen die Uhr bereits die letzten sechs Male gewonnen. Zwei Konkurrenten bestachen ihn ebenfalls, damit sie bessere Siegchancen haben würden. Anquetil gewann das Rennen, kassierte auch noch das Siegerhonorar und fuhr mit fünffachem Gehalt nach Hause.
Eben so, wie er die Tour minutiös durchplante und wie ein Architekt die Pläne dann in die Realität umsetzte, so plante er auch seine Termine so, dass er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld verdiente. So zog er Werbedeals schon einmal vor und fuhr nur Rennen, die sich auch finanziell lohnten. Dabei kam ihm ein prominenter Fan zugute: Präsident Charles de Gaulle.
Mehrfach stellte er Anquetil Polizeieskorte und ein Flugzeug zur Verfügung, damit er das nächste Rennen rechtzeitig erreichte. So flog er 1958 in einem Flieger des damals noch als General tätigen de Gaulle von der Rundfahrt Dauphiné de Libéré direkt zum Klassiker Bordeaux-Paris.
Bigamie auf dem 700-Hektar-Gut
1970 beendete er mit 36 Jahren seine Karriere, nachdem die UCI ihn erstmals des Dopings überführen konnte und ihm seinen Stundenrekord von 1967 aberkannte. Er lebte auf einem 700 Hektar großen Gut und feierte als generöser Gastgeber Partys, auf denen sich neben der Sportelite auch Granden aus Politik, Wirtschaft und Fernsehen, wo er später jahrelang arbeitete, zu Drinks und Geschäften trafen. Privat lebte der ehemalige Playboy in einer Form, die seinem Ruf, vor allem bei vielen Konservativen, erhebliche Kratzer zufügte. Seine Tochter Sophie Anquetil veröffentlichte 2004 die Biografie "Pour l'amour de Jacques" (Aus Liebe zu Jacques), in der sie enthüllte, dass er mit Ehefrau Jeanine, die er einst seinem Leibarzt ausgespannt hatte, und deren Tochter, seiner Stieftochter Annie, in Bigamie lebte.
Mit Annie zeugte er Sophie, die berichtete, er habe "die Nacht oft mit der einen begonnen und der anderen beendet." Auch mit der Frau seines Stiefsohns, seiner De-facto-Schwiegertochter, zeugte er kurz vor seinem Tod 1987 noch ein Kind. "Er war ein aufgeklärter und charismatischer Despot, der seine Familie als seinen uneingeschränkten Privatbesitz betrachtete", versuchte Sophie das Medienecho in Frankreich abzuschwächen und fügte das in Familien am Wichtigste hinzu: "Mein Vater liebte uns alle gleich innig. Es fühlte sich so an als hätte ich zwei Mütter."
Was bleibt?
1987 starb Jacques Anquetil mit nur 53 Jahren nach kurzer und schwerer Krankheit an Magenkrebs, den nicht wenige auf seinen exorbitanten Doping-Konsum zurückführten. Was bleibt also heute vom Playboy, Weltklasse-Sportler und Zeitfahrkönig? Es bleibt ein zu Lebzeiten kühl-distanzierter Mann, der über 200 Siege feierte. Ein Mann, der in puncto Taktik und auch Doping ein Pionier whttps://www.spox.com/de/sport/page-2/index.htmlhttps://www.spox.com/de/sport/page-2/index.htmlar. Ein Mann, der heute moderne Thematiken wie Bigamie und systematischen Betrug völlig selbstverständlich lebte und ein Mann, der in Frankreich trotz allem einer der Größten ist und bleibt, und den Männer wie Godard würdigten.
"Er ist der Größte", ist sich auch sein ehemaliger Teamkollege, der Deutsche Rudi Altig sicher und einer, der, wenn die Medien nicht zusahen, durchaus Humor hatte. So soll er seinem großen Rivalen und guten Freund Poupidor auf dem Sterbebett zugeflüstert haben: "Mein armer Raymond, ich werde als Erster die Reise ins Jenseits antreten. Du wirst wieder einmal Zweiter sein!" Pragmatisch, gewieft, legendär - oder in anderen Worten: "Vor ihm hat man sich nicht vorstellen können, dass es einen Anquetil geben könnte." So steht es auf seinem steinernen Grabstein - und bannt so die wohl treffendste Charakterisierung eines der größten Sportler aller Zeiten für die Ewigkeit.
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