"Im Sport gibt es nichts Schwierigeres, als einen Baseball zu schlagen." Dieses Zitat wird Ted Williams zugeschrieben, einer Ikone der Boston Red Sox. Darüber könnte man sicherlich streiten, aber es lässt sich auch zweifellos sagen, dass es extrem schwierig ist, einen bis zu 100 Meilen schnellen, sich unberechenbar bewegenden Baseball im Bruchteil einer Sekunde perfekt einzuschätzen und ins Spiel zu bringen. Vielleicht sogar unmöglich.
Aber wenn es dann doch gelingt - und wenn es sogar ein Homerun wird -, ist es ein faszinierendes Erlebnis. Der Ball explodiert förmlich vom Schläger weg, eine ungeheure Kraft beschleunigt das Spielgerät auf bis zu 190 Stundenkilometer. 150 Meter und mehr legt es in wenigen Augenblicken zurück - und ein glücklicher Zuschauer auf den Rängen darf ein Souvenir nach Hause nehmen. "Chicks dig the long ball" - "die Damen mögen den Homerun", hieß es einst in einem Werbespot von Nike (den Männern geht es übrigens nicht anders).
Was dem Basketball der Dunk Contest ist, ist dem Baseball das Homerun Derby: Bei möglichst perfekten Bedingungen dürfen die Besten ihrer Zunft zeigen, was sie so drauf haben. Und wie auch beim Dunk Contest gilt: Mit den richtigen Zutaten kann es spektakulär werden - ja fast schon legendär.
Wenn in der Nacht auf Dienstag das insgesamt 33. Homerun Derby der MLB-Geschichte ausgetragen wird, dann sind im Marlins Park, dem Stadion der Miami Marlins, eigentlich alle Zutaten für eine perfekte Show beisammen.
Alle Einzelheiten zum Modus und der Überblick über die Regeln findet sich hier, deshalb nur ganz kurz: Insgesamt acht Spieler treten im K.o.-System gegeneinander an: Wer innerhalb von vier Minuten (plus evtl. Bonuszeit) die meisten Homeruns schlägt, kommt eine Runde weiter. Im letzten Jahr sprangen im Petco Park von San Diego insgesamt stolze 203 Homeruns heraus, und Titelverteidiger Giancarlo Stanton, der in drei Durchgängen enorme 61 Long Balls schlug, ist ja auch wieder dabei.
Und die ganze Baseball-Welt freut sich auf das Duell Stantons mit Aaron Judge.
Stanton vs. Judge: Das Duell der Giganten
Klar, in einem Homerun-Derby kann alles passieren: Stanton und die Rookie-Sensation der New York Yankees können erst im Finale aufeinander treffen, und ein heißlaufender Konkurrent oder ein kleiner Durchhänger in den vier Minuten würde dem Duell einen Strich durch die Rechnung machen. Ähnlich wie beim Dunk Contest wird das Homerun Derby nicht immer von den Stars gewonnen.
Aber sollten sich die beiden tatsächlich in ihren ersten beiden Runden durchsetzen, dann würde es zum absoluten Traumfinale kommen: Es gibt keinen Namen in der MLB, der im Homerun Derby größere Begeisterung auslösen würde. Hält das Lineup, was es verspricht, dann könnte es in Miami zum spektakulärsten Derby aller Zeiten kommen - und zwar ohne Übertreibung.
Wer hat die Nase vorn?
Stanton ist mit seinen 1,98 Metern und offiziell 113 Kilogramm ein echtes Kraftpaket. Wenn er fit ist, zittern die Pitcher - nicht umsonst unterschrieb der 27-Jährige vor drei Jahren den teuersten Vertrag aller Zeiten: 325 Millionen Dollar für 13 Jahre. Er ist gut drauf, fünf Homeruns in den letzten fünf Spielen. Und er wird die Zuschauer im Marlins Park als Lokalmatador hinter sich haben.
Angesichts der enormen Statur Stantons verblassen fast alle Feldspieler - doch eine Ausnahme gibt es. Judge, 25, bringt mit seinen 2,01 Metern rund 128 Kilogramm auf die Waage. Gut möglich, dass die MLB derartige Dimensionen in ihrer Geschichte noch niemals gesehen hat. Mit 30 Homeruns in der ersten Saisonhälfte führt Judge die Liga an, vor wenigen Tagen stellte er den Rookie-Rekord von Yankees-Legende Ted DiMaggio ein.
Stanton vs. Judge = Power gegen Heimvorteil
Hat Judge also die Nase vorn? Taucht man etwas tiefer in die Zahl ein, fällt auf: Niemand schlägt den Baseball in diesem Jahr so hart und so weit wie Stanton. Mit dem Statistik-Tool FastCast der Liga lässt sich die Weite der geschlagenen Bälle ermitteln, ebenso wie die Flugkurve oder die "Exit Velocity", also die Geschwindigkeit des Balls, nachdem er auf den Schläger trifft.
Einen Homerun über 495 Fuß hat Judge in diesem Jahr schon geschlagen - 25 Fuß weiter als jeder seiner Kontrahenten am Montagabend. Und den Ball schon auf über 121 Meilen pro Stunde beschleunigt, auch damit steht er allein. Eine hohe Flugkurve braucht es bei derartigen Geschwindigkeiten nicht, Judge hat wohl den größten "Spielraum" bei seinen Bällen, wenn man so will.
Aber ob ein Homerun am Ende "nur" 440 Fuß oder gleich über 500 Fuß weit geflogen ist, spielt am Ende auf der Anzeigetafel keine Rolle mehr. In puncto roher Gewalt hat Judge vielleicht einen minimalen Vorsprung auf Stanton. Aber dieser hat den Heimvorteil auf seiner Seite. "In Miami ist es immer schön, die Stimmung wird elektrisch sein", versprach der "Gastgeber" im Vorfeld, der zudem den 2012 eröffneten Marlins Park wie seine Westentasche kennt: Er hat die acht weitesten Homeruns der Stadion-Geschichte auf dem Konto, darunter ein Blast über 479 Fuß aus dem Jahr 2015.
Und er hat die Erfahrung, weiß wie es ist, im Rampenlicht zu stehen. Vor einem Jahr schien ihn das nicht zu beeindrucken, als er mit 61 Homeruns einen neuen Rekord aufstellte. Die 20 am härtesten geschlagenen Bälle kamen übrigens allesamt von Stanton.
Wer serviert die Bälle beim Homerun Derby?
Moment - wer wirft diese Bälle eigentlich? Jeder Teilnehmer bringt seinen eigenen Pitcher mit, dessen Aufgabe es ist, die Bälle auf dem Silbertablett zu servieren, mit genau der Geschwindigkeit und Platzierung, wie man es am liebsten hat. Das kann ein aktueller Coach des Teams sein, ein früherer Coach, oder sogar der eigene Vater: Dodgers-Rookie Cody Bellinger wird seine Homeruns von Vater Clay aufgelegt bekommen.
Für Stanton soll es Pat Shine richten, ein 44-Jähriger Rechtshänder aus dem Coaching Staff der Marlins, der auch im letzten Jahr schon hinter dem Gitter stand, das die Pitcher vor fehlgeleiteten Bällen schützen soll. Judge setzt - wie Teamkollege Gary Sanchez - auf Danilo Valiente, ein fast schon legendärer Batting Practice Pitcher der Yankees. "Er verfehlt meinen Schlägerkopf einfach nicht", lobte Judge den 51-Jährigen. "Selbst wenn ich im Training mal nicht gut drauf bin, findet er einen Weg, um mir mein Selbstvertrauen wieder zu geben."
Also eigentlich ist alles angerichtet: In Miami sollten perfekte Bedingungen herrschen, die Stars sind dabei, die gefährlichen Außenseiter ebenfalls in Hülle und Fülle vorhanden. Gut möglich, dass die 61 Homers aus dem Vorjahr noch einmal getoppt werden. Was in die Saison 2017 passen würde: Den Rekord für die meisten Homeruns in einem Monat überhaupt wurde im Juni bereits geknackt - und auch die Saisonbestmarke von 5.693 wackelt gehörig: Geht es so weiter, würde sogar die Marke von 6.000 fallen.