KOMMENTARDie Wortwahl ist drastisch, der Subtext von Hass und Missgunst zersetzt. Cavaliers-Besitzer Dan Gilbert veröffentlichte nach LeBron James' Entscheidung, Cleveland zu verlassen und sich Miami anzuschließen, einen offenen Brief. Oder besser: eine offene Abrechnung mit dem vermeintlichen Verräter.
"ICH GARANTIERE PERSÖNLICH, DASS DIE CAVALIERS EINE CHAMPIONSHIP GEWINNEN WERDEN, BEVOR DER SELBSTERNANNTE 'KÖNIG' EINE GEWINNEN WIRD", schrieb Gilbert in Versalien, um seiner Abscheu Nachdruck zu verleihen.
Zugegeben, vor allem die Selbstinszenierung von James mag übertrieben und eitel gewesen sein - dennoch ist sein Weggang aus Cleveland für jeden - von Gilbert und den Trikot-verbrennenden Cavs-Fans abgesehen - nachvollziehbar.
Erneuter Umbruch in Cleveland
Sieben Jahre versuchte Cleveland, eine Mannschaft um James zusammenzustellen, die eines Champions würdig ist. Herauskam aber lediglich eine Final-Teilnahme 2007, die mit einer 0-4-Abfuhr gegen San Antonio endete.
Zumal nach der Entlassung von Coach Mike Brown und General Manager Danny Ferry sowie dem Weggang von Shaquille O'Neal ein erneuter Umbruch bevorsteht, der Zweifel daran lässt, ob die Cavs selbst mit James konkurrenzfähig wären.
Dass James woanders eine bessere Chance auf den Titel sieht, ist demnach verständlich. Unverständlich jedoch, warum er sich unter all den Optionen ausgerechnet für Miami entschieden hat.
Auf den ersten Blick klingt die Perspektive verlockend. Zusammen mit Dwyane Wade und Chris Bosh bildet er das vielleicht spektakulärste Trio, das die NBA je gesehen hat. In der vergangenen Saison erzielten sie zusammen 77,2 Punkte, den New Jersey Nets gelangen beispielsweise als komplette Mannschaft nur 92,3 Zähler. Die Heat als Wiedergeburt des Dream Teams.
Blog von mySPOX-User herkualex: Der geringste Widerstand
Heat-Kader eine Großbaustelle
Das Problem: Ein Team besteht nicht nur aus drei Superstars, vielmehr waren in allen Championship-Mannschaften der letzten Jahre auch Rollenspieler ein integraler Bestandteil. Aber wo sind bei Miami die Derek Fishers, P.J. Browns, James Poseys oder Robert Horrys?
Der Kader gleicht einer Großbaustelle - und es fehlt der finanzielle Spielraum, um dringend benötigte Ergänzungen zu verpflichten. Nachdem Michael Beasley quasi nach Minnesota verschenkt wurde, um Kosten zu sparen, steht derzeit nur noch der mittelmäßige Spielmacher Mario Chalmers unter Vertrag. Chicago, New Jersey, die L.A. Clippers, selbst New York, sie alle verfüngen über einen besseren Grundstock.
Um die restlichen neun Kaderplätze zu füllen - ein NBA-Team muss mindestens 13 Spieler im Roster haben -, kann Miami den meisten Kandidaten jedoch nur Minimal-Verträge anbieten und muss darauf hoffen, dass die Aussicht, mit James, Wade und Bosh auf dem Parkett zu stehen, überzeugend genug ist. Der eine oder andere Veteran wird sich wohl überreden lassen - aber Miami braucht mehr als Erfahrung, um all die Bedürfnisse zu befriedigen.
Es fehlt ein defensivstarker und bulliger Center, der Boshs Nachlässigkeiten in der Verteidigung kompensiert. Es fehlt ein zuverlässiger Distanzschütze, der den Raum breitmacht, damit James und Wade zum Korb ziehen können. Und es fehlt ein Point Guard, der ein Gefühl für die nötige Balance zwischen Eigeninitiative und uneigennütziger Passing-First-Attitüde mitbringt.
James und Wade passen nicht
Sollte Miami tatsächlich die personellen Baustellen schließen, bleibt aber nach wie vor die zentrale Frage unbeantwortet: Wie passen die beiden Alpha-Basketballer James und Wade zusammen? Sie sind zwar keine reinen Egozocker, jedoch definieren sie sich darüber, den Ball zu dominieren und massig Würfe zu nehmen. Vereinfacht formuliert ist Wade die zehn Zentimeter kleinere Version von James - weswegen beide wohl nicht mehr so ausgiebig scoren können wie in der Vergangenheit.
Eine Facette, die nicht nur statistische, sondern auch geschäftliche Auswirkungen für James haben wird. Dass James die Provinz-Metropole Cleveland hinter sich ließ, hat auch mit seinem Plan zu tun, sich ähnlich wie Michael Jordan als globale Marke zu positionieren. Deswegen hat er seine Homepage gerelauncht, sich vor einigen Tagen einen Twitter-Account eingerichtet und "ESPN" ein TV-Special vorgeschlagen.
Aber was passiert, wenn James statt 30 nur noch 22, 23 Zähler im Schnitt liefert? Was passiert, wenn Heat-Liebling Wade mehr Punkte erzielt und den letzten Wurf nehmen darf? Würde James die gleiche faszinierende Aura versprühen wie Jordan?
Die Antwort lautet wohl: niemals.