Vor der Saison galten die Chicago Bulls als Titelkandidat - nach Rose neuerlichem Saison-Aus fehlt nun jedoch die Perspektive. Findet ein Umdenken statt? Schielt man vielleicht sogar auf die Lottery?
Manchmal sind es die kleinen Dinge, die ein Konstrukt in seiner Gesamtheit ins Wanken bringen, die ein ganzes System vollständig und unvorhersehbar verändern. In der Wissenschaft spricht man dann vom Schmetterlingseffekt. Doch auch im Sport genügen häufig Kleinigkeiten, um zwischen Sieg und Niederlage, zwischen Titelträumen und annähernder Perspektivlosigkeit zu entscheiden. Im Falle der Chicago Bulls machte ein winziger Riss aus einem potentiellen Contender ein Team, dessen Zukunft nun mehr denn je auf dem Prüfstand steht.
Jener Moment, in dem Derrick Rose' Innenmeniskus im rechten Knie seinem Back-Door Cut gegen die Blazers nicht standhielt, setzte eine Kausalkette in Gang, an deren Ende nicht nur das Saisonaus des MVPs von 2011 feststand. Die Ereignisse von Portland beendeten zudem alle Titelhoffnungen der Bulls. Noch gravierender ist aber, dass sie den Weg der gesamten Franchise in Frage stellen.
Dabei war Chicago vor Saisonbeginn noch zu den ganz heißen Kandidaten gezählt worden, wenn es darum ging, wer die Miami Heat am Threepeat hindern könne. Dass die Bulls ohne Rose aus diesem Kreis ausscheiden, ist klar. Dennoch hat Chicago bereits in der Vergangenheit bewiesen, dass es auch ohne seinen Superstar durchaus erfolgreichen Basketball spielen kann. Nur liegen die Dinge diesmal ein wenig anders.
Erst Titelkandidat, dann Leere
"Im Sommer 2012 haben wir ein Team zusammengestellt, das auch ohne Derrick Rose spielen konnte", erklärt General Manager Gar Forman im Interview mit "Bulls.com". Das Team 2013 ist dagegen um den Point Guard herum aufgebaut. Durch den Ausfall haben die Bulls nun keinen richtigen Point Guard von Format mehr im Kader. Kirk Hinrich pendelte bereits in der Vergangenheit zwischen der Eins und der Zwei hin und her, Marquis Teague genießt bei Coach Tom Thibodeau kein gesteigertes Vertrauen und nur die allerwenigsten hätten auf der Liste ihrer Traum-Playmaker den Namen Mike James unter den Top 30.
Als Free-Agent-Alternative stünden derzeit unter anderem Rodrigue Beaubois, Jamaal Tinsley oder Keyon Dooling bereit. Grenzenlose Qualität sieht sicherlich anders aus.
Damit hinterlässt Rose nicht nur ein Vakuum als Franchise Player, sondern gleich auch noch eines auf der wichtigsten Position. So machte das Team in den ersten beiden Spielen nach der Hiobsbotschaft dann auch einen ähnlichen Eindruck wie 2012, als man im Nachhall des Kreuzbandrisses des Superstars in der ersten Playoff-Runde an den mindertalentierten Philadelphia 76ers scheiterte.
Erneut wurde Team und Franchise mit nur einer unglücklichen Bewegung der Boden unter den Füßen weggezogen. Erneut sind Titel-Phantasien ohne eigenes Zutun zerplatzt. Einfach so. Ohne Grund. Gesteigerter Frust ist da nur zu verständlich. So lassen sich auch die überschaubaren Auftritte gegen die Clippers und Jazz erklären.
Auch mit Rose Probleme in der Offense
Allerdings legte gerade die Pleite in Salt Lake City mal wieder den Finger in die seit Jahren klaffende Offense-Wunde. 39, in Worten: Neunundreißig Prozent schossen die Bulls aus dem Feld und kamen am Ende auf lediglich 83 Punkte. Nach Verlängerung. Beim schwächsten Team der Liga. So stark Chicago auch verteidigt, vorne bestehen konstant Probleme. Ob nun mit oder ohne Rose.
Denn auch diesmal hat es das Front Office zu Saisonbeginn nicht geschafft, seinem Superstar einen zweiten Shot Creator an die Seite zu stellen. Schlimmer noch: Mit Mike Dunleavy steht nur ein wirklich verlässlicher Dreierschütze im Kader. Auch ein Grund, weshalb lediglich fünf Teams schwächer von jenseits des Perimeters treffen als der einstige Serienmeister (32,5 Prozent).
Spacing ist jedoch gerade bei einem Derrick Rose das Zauberwort. Schließlich benötigt der Point Guard für seine Drives zum Korb wenigstens einige Zentimeter Platz. Vielleicht wäre es deshalb an der Zeit, ein Team, das zusammengestellt wurde, um die erste Championship nach Michael Jordan in die Windy City zu holen, aber jedes Jahr mit einigen Schwächen an den Start ging, zu verändern. Vielleicht ist tatsächlich die Zeit für einen Umbruch gekommen.
Tanken als Option?
Sogar das Unwort der Saison 2013/14 könnte in der Theorie zum Thema werden. Denn wenn schon andere Teams mit Blick auf den stark besetzten Draft 2014 nicht wirklich daran interessiert sind, möglichst viele Spiele zu gewinnen, weshalb sollten dann nicht auch die Bulls tanken, nachdem sie erneut so sehr vom Pech verfolgt sind. Zumal mit Jabari Parker der nächste Hometown Hero auf seinen Einzug in die NBA wartet.
Aber Moment: Sind die Bulls nicht zu gut, um die Saison jetzt abzuschenken? Hat Coach Thibodeau nicht betont, dass man weiter "kämpfen und sich schinden" werde? Sicherlich. Doch könnte das Front Office zum Schluss kommen, dass man eine Saison, in der das große Ziel aufgrund äußerer Einflüsse erneut nicht erreicht werden kann, auch gut zu gebrauchen ist, um sich für das kommende Jahr neu zu ordnen.
Natürlich muss das nicht bedeuten, dass man gleich seine ganze Identität aufgibt und einfach abschenkt, anstatt, wie unter Thibodeau schon immer praktiziert, einfach weiterzukämpfen. Es könnte aber durchaus bedeuten, dass der Fokus deutlich auf die nächste Spielzeit rückt. "Wir ziehen momentan alles in Betracht, um ein Championship-Team zu werden", sagt Forman und öffnet Spekulationen damit Tür und Tor.
Salary Cap bindet die Hände
Zu sehr sollte man sich an selbigen nicht beteiligen. Fakt ist jedoch, dass Chicago derzeit deutlich über dem Salary Cap liegt und somit, Stand jetzt, kein allzu heißes Eisen im Free-Agent-Feuer des Sommers haben wird. Das einzige verbliebene Mittel zur Beseitigung der Schwachstellen bleibt also ein Trade, womit man irgendwie zwangsläufig bei Luol Deng landet.
Zwar täte es sicherlich weh, den Forward, der seit Jahren zu den konstantesten Bulls zählt, gehen zu lassen. Auf der anderen Seite eröffnet er durch seine Kombination aus gewisser Klasse und auslaufendem Vertrag wahrscheinlich die meisten Möglichkeiten. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Chicago Jimmy Butler wohl unbedingt halten möchte.
Arron Afflalo als Option?
Letzterer könnte bei einem möglichen Abgang Dengs zurück auf die Drei rutschen und so Platz machen für einen Shooting Guard, der in der Lage ist, einen Teil der Scoringlast zu übernehmen. Ein solcher spielt derzeit bei den Orlando Magic, zählt zu den vielleicht heißesten Spielern der ersten Saisonwochen und wurde bereits in der Vergangenheit mit den Bulls in Verbindung gebracht. Sein Name: Arron Afflalo.
In Florida legt der Zweier derzeit die besten Zahlen seiner gesamten Karriere auf (21,6 Punkte, 46 Prozent FG, 50,7 Prozent 3FG, 4,7 Assists) und ist ganz nebenbei ein durchaus brauchbarer Flügelverteidiger. Zwar ist Afflalo ebenfalls kein ausgewiesener Shot Creator, seine Scoring- und Shooting-Qualitäten stünden der Bulls-Offense dennoch gut zu Gesicht. Zumal er derzeit nur etwa halb so viel verdient wie Deng.
Ein Trade Afflalo für Deng ist schon allein deshalb nicht möglich. Konzentrieren sich die Magic aber erneut auf den Draft, um ihr Team für 2014 um Victor Oladipo, Nikola Vucevic, Tobias Harris und ein weiteres großes Talent aufzubauen, bestünde die Möglichkeit, dass sie Jameer Nelson obendrauf geben. Chicago wäre damit für diese Saison auch noch mit einem soliden Point Guard ausgestattet, Orlando bekäme einen defensivstarken Veteranen, den man angesichts der Talentfülle sogar von einer Vertragsverlängerung überzeugen könnte.
Forman: Rose zurück zu alter Stärke
Natürlich sind derartige Gedankenspiele sehr theoretisch behaftet und bedürfen dazu der Erfüllung einiger Faktoren. Dennoch stellen sie eine Möglichkeit dar, das Team jetzt und in Zukunft ein wenig flexibler zu gestalten. Denn in Chicago geht man weiter davon aus, dass Rose trotz seiner zweiten schweren Knieverletzung zurück zu alter Stärke findet. "Derrick sollte wieder völlig gesund werden und seine Karriere auf höchstem Level fortsetzen", sagt Forman.
Ein komplett neues Team wird der Point Guard nach seinem Comeback wohl nicht vorfinden. Dennoch sollten man sich Gedanken machen, ob nicht der eine oder andere unangenehme Move nötig ist, um das ganz große Ziel doch noch mit dem derzeitigen Kern zu erreichen.
Hoffen auf Mirotic
Vielleicht fällt Carlos Boozer deshalb trotz seiner bislang ansprechenden Leistungen in dieser Saison im Sommer tatsächlich der Amnesty-Klausel zum Opfer. Vielleicht holen die Bulls dann tatsächlich Nikola Mirotic, der bei Real Madrid erneut in der Euroleague glänzt, nach Chicago. Die Rechte am Vierer hat man sich beim Draft 2011 schon mal gesichert. Und ganz vielleicht gehen die Bulls mit einem hoffentlich fitten Derrick Rose kommende Saison dann noch besser vorbereitet und offensiv ausbalancierter auf Titeljagd.
Ziehen die Bulls die richtigen Schlüsse und kommt ihr Superstar tatsächlich stark zurück, hätte der kleine Riss von Portland vielleicht sogar einige positive Auswirkungen. Das Problem: Was am Ende wirklich passieren wird, bleibt auf allen Ebenen unvorhersehbar.