Wie heißt es so schön: Wer die Geschichte vergisst, läuft Gefahr, sie zu wiederholen. Also starten wir mit einem Rückblick: Am 27. Juni 2013 einigten sich die Brooklyn Nets mit den Boston Celtics auf den Trade von Paul Pierce und Kevin Garnett. Der Preis (unter anderem drei Erstrundenpicks) war enorm hoch, aber dafür wollte man die fehlenden Bausteine für einen Championship-Run gefunden haben. "Heute haben die Basketball-Götter den Nets zugelächelt", kommentierte Besitzer Mikhail Prokhorov den Deal.
Unglaublich, was sich in nur einem Jahr alles ändern kann.Der Mix aus hochpreisigen alternden Veteranen und Rookie-Coach Jason Kidd legte - geplagt von Verletzungen, einbrechenden Leistungen und verschütteten Getränken - einen Stotterstart hin. In der zweiten Saisonhälfte wurde es zwar besser, aber am Ende stand ein relativ sang- und klangloses Aus in der zweiten Playoffrunde gegen die Miami Heat zu Buche.
In den Büchern ebenfalls zu finden: Eine Luxury-Tax-Rechnung von sage und schreibe 90,57 Millionen Dollar. Nicht zu vergessen die Payroll über fast 103 Millionen. Ein Zyniker wurde sagen, man habe also immerhin einen Rekord geknackt. Dennoch: Die Mission Meisterschaft war grandios gescheitert.
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Allen Schwierigkeiten zum Trotz hätte man den Kurs mit Kidd wohl beibehalten, den Kader so gut wie irgend möglich sukzessive verstärkt und vor allem auf die Rückkehr von All-Star-Center Brook Lopez gebaut - dass sich im Osten so ziemlich jedes halbwegs kompetente Team Hoffnungen auf einen Playoff-Vorstoß machen kann, muss an dieser Stelle nicht extra erwähnt werden.
Aber am 28. Juni 2014 desertierte Kidd, legte sich mit dem Front Office an und wechselte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu den Milwaukee Bucks. Plötzlich standen die Nets, die vor genau einem Jahr noch vom Titel geträumt hatten, ohne Coach, ohne Cap Space und ohne Draftpicks da. Was nun?
Hollins als Retter in der Not
Die Meinungen über Kidds Amtszeit sind gespalten. Einerseits war der Rookie-Übungsleiter zumindest zu Beginn des Jahres mehr als überfordert, leistete sich den einen oder anderen Fauxpas, demontierte Lawrence Frank und konnte die guten Leistungen gegen die Heat aus der Regular Season (4-0) nicht bestätigen. Andererseits muss man ihm in der zweiten Saisonhälfte eine klare Steigerung bescheinigen: Der zweimalige Coach des Monats im Osten experimentierte mutig mit seinen Aufstellungen und hatte die Unterstützung von Pierce und Garnett.
Was man auch immer von Kidd hält - er bekommt bei den Bucks nun erneut die Chance, sich zu profilieren -, die Verpflichtung von Lionel Hollins könnte sich als Glück im Unglück erweisen. Der 60-Jährige blickt auf zehn aktive Jahre in der NBA zurück, seit 1985 ist er als Coach tätig. Mit den Memphis Grizzlies erreichte der frühere Point Guard 2013 die Conference Finals, wurde wenig später aufgrund von Differenzen mit dem Management aber nicht gehalten. Eigentlich ein kleines Wunder, dass ein solcher Coach zur Verfügung stand.
So ähnlich sieht es Hollins selbst. "Ich glaube nicht, dass mir diese wunderbare Möglichkeit gegeben wurde, nur um hierherzukommen und zu scheitern", erklärte er auf der Homepage der Nets. "Ich glaube fest daran, dass wir unsere Ziele erreichen können." Und die hellen Lichter in New York? "Es wird Spaß machen", zeigt er sich selbstbewusst. "Alle sagen 'Spaß machen wird es nur, wenn du gewinnst!' Nun ja, ich gehe davon aus, dass wir gewinnen werden. Wir alle gehen davon aus."
In Memphis strickte Hollins um die Big Men Zach Randolph und Marc Gasol ein Team, dass vor allem durch knallhartes Spiel unter dem Korb überzeugte. Sollte Brook Lopez unverletzt durch die neue Saison kommen, könnte Hollins dieses Rezept zusammen mit dem aufgeblühten Plumlee vielleicht erneut anwenden. Damit es in der Offense klickt, wurde obendrein Assistant Coach Tony Brown von den Dallas Mavericks abgeworben.
Cap Space: Gut geflickt ist halb gewonnen
Es hilft alles nichts: Die vermaledeite Gehaltsobergrenze in Kombination mit der Luxury Tax zwingt selbst einen Milliardär wie Prokhorov dazu, die Dollars nicht mehr mit beiden Händen auszugeben - zumal der Titel fürs Erste unerreichbar scheint. 141 Millionen Dollar sollen die Nets in der vergangenen Saison an Verlust eingefahren haben, und schon jetzt ist klar: Billig wird auch die kommende Saison nicht.
Das könnte ein Grund dafür sein, warum die Nets nicht um die Dienste von Veteran Paul Pierce mitboten. Der 37-Jährige, der in der letzten Saison überzeugt hatte, bekommt von den Washington Wizards elf Millionen Dollar für zwei Jahren. Eigentlich zu verschmerzen - eigentlich. Denn laut Mike Mazzeo von "ESPN.com" hätte ein Vertrag über sechs Millionen Dollar die Nets aufgrund der Luxussteuer gleich 26,5 Millionen gekostet.
Und auch ohne ihn steht die Payroll der Nets gerade bei, ähem, nicht gerade schlanken 93,5 Millionen Dollar. Das macht noch einmal fast 35 Millionen Luxury Tax. GM Billy King muss sich also ganz genau überlegen, wie er seine Ressourcen verwendet. Großartige Free Agents waren von vornherein ausgeschlossen. Und man muss sagen: Es hätte schlimmer kommen können.
Kreativität ist gefragt
Per Trade mit den Cleveland Cavaliers und den Boston Celtics holte man Backup-Guard Jarrett Jack und Talent Sergey Karasev, dafür wurde Marcus Thornton abgegeben. Flügelspieler Alan Anderson verlängerte für zwei Jahre und 2,6 Millionen Dollar, Andrei Kirilenko bleibt ein weiteres Jahr und kostet vernünftige 3,3 Millionen Dollar. Soweit, so gut.
Die Wild Card ist sicherlich Bojan Bogdanovic. Der 25 Jahre alte kroatische Forward kommt für die Midlevel-Exception von Fenerbahce und überzeugte in der Euroleague mit fast 15 Punkten im Schnitt. Bogdanovic ist ein ausgezeichneter Schütze und soll gerade von außen die Lücken von Pierce und Thornton schließen. "Ich muss mich umstellen, besonders weil es so viele Spiele sind", erklärte der Zwei-Meter-Mann, "aber ich bin bereit und ich glaube, ich werde dem Team sofort helfen können."
Mit den Rookies Markel Brown (Guard) und Cory Jefferson (Forward) sicherte man sich zudem billige Athletik. 15 Spieler sind derzeit im Kader, ob Jason Collins und der im vergangenen Jahr teilweise suspendierte Andray Blatche zurückkehren, ist mehr als fraglich. Aber auch so sollte sich eine eine solide Rotation bilden lassen, die im Osten um die Postseason mitspielt.
Soweit die Füße tragen
Wie gut die Nets wirklich sein werden, hängt neben einer schnellen Eingewöhnungszeit von Hollins jedoch vor allem von vier besonders fragilen Extremitäten ab - denn ohne Brook Lopez und einen zumindest ansatzweise gesunden Deron Williams ist die Saison zum Scheitern verdammt.
Wer sich noch an die Tage erinnern kann, als "Wer ist besser? Williams oder CP3?" hitzige Diskussionen zur Folge hatte, muss angesichts der gesundheitlichen Probleme des dreifachen All-Stars nur traurig den Kopf schütteln. 14,3 Punkte waren es in der letzten Saison im Schnitt, im Mai begab er sich zum wiederholten Mal unters Messer, um seiner Knöchelprobleme Herr zu werden.
Lopez hatte sich seinerseits am 3. März am linken Knöchel operieren lassen. Zu diesem Zeitpunkt war seine Saison schon lange beendet - ein Fußbruch wurde am 4. Januar chirurgisch repariert. Offiziell ist das Front Office optimistisch, aber wie schnell der 25-Jährige, der in 17 Spielen im Schnitt 20 Punkte und 6 Rebounds verzeichnete, wieder bei 100 Prozent sein wird, bleibt abzuwarten.
Wenn - und es ist ein enormes wenn - sowohl Williams als auch Lopez gesund bleiben und jeweils rund 70 Saisonspiele bestreiten können, bietet sich den Fans in Schwarz und Weiß durchaus Grund zur Hoffnung: Jack ist ein mehr als fähiger Backup, auf den Flügeln ist man mit Anderson, Kirilenko, Joe Johnson und den Importen Mirza Teletovic und Bogdanovic auch tief aufgestellt.
Macht KG weiter?
Ein Fragezeichen steht hinter Kevin Garnett. Bei ihm wartet das Team immer noch auf die Bestätigung, dass er sich mit seinen 38 Jahren ein letztes Mal der Schinderei einer NBA-Saison aussetzen wird. Sollte sein Niedergang aus dem letzten Jahr nicht stoppen, würde "The Big Ticket" im Falle eines Karriereendes nicht einmal fehlen. Andererseits hat er genau zwölf Millionen Gründe, ein weiteres Jahr dranzuhängen.
Ersatz ist parat: Mason Plumlee spielte sich mit einer couragierten ersten Saison (66 Prozent Trefferquote aus dem Feld) ins All-Rookie-Team und wurde sogar zum Team USA eingeladen, wo er sich gegen DeMarcus Cousins, Kenneth Faried und Andre Drummond behaupten muss. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll er sogar gute Chancen haben, unter seinem ehemaligen Duke-Coach Mike Krzyzewski den Cut zu überstehen. Danach wird es auf den Big-Men-Positionen zugegebenermaßen dünn, aber Hollins könnte entweder auf ein kleines Lineup setzen, oder einen weiteren billigen Backup verpflichten.
Einrichten in der Mittelmäßigkeit
Es bleibt das Fazit: Die Nets wurden nach den hochtrabenden Zielen zu Beginn der Saison 2013/2014 schmerzhaft auf den Boden der Realität zurückgezerrt. Vom Titel spricht niemand mehr, Prokhorov bleibt weitestgehend unsichtbar. Das Chaos um Kidd erinnerte zudem an vermeintlich vergangene Tage, als die Franchise zu den Lachnummern der Liga gehörte - ein Status, von dem sie ironischerweise ausgerechnet der Spieler Jason Kidd befreit hatte.
Eine jahrelange, auf Draft Picks ausgerichtete Strategie a la Philadelphia ist ohnehin ausgeschlossen: Zum einen würde der russische Besitzer niemals zustimmen - und zum anderen ist ein Großteil der Picks ja weg. Es bleibt im besten Falle gutes Mittelmaß. In der NBA ja eigentlich das Fegefeuer-Schicksal schlechthin. Aber wenn die Erwartungen der New Yorker Fans "gesundschrumpfen", könnte es dennoch eine erfolgreiche Saison werden: Schlechter als in der vergangenen Saison ist man schließlich wohl auch nicht.
Ach ja, ein Kopf rollte im Juli übrigens doch. Über die Klinge springen musste - der BrooklyKnight. Das schauerliche Maskottchen, dessen silberne Gesichtsmaske mal an Freddy Krueger, mal an einen Decepticon erinnerte, wurde mitsamt seinem schwarzen Jumpsuit und dem gleichfarbigen Minivan im Juli erst einmal auf Eis gelegt. Rückkehr unwahrscheinlich. Zumindest in dieser Hinsicht kann es also nur besser werden.