Paragraph eins des ungeschriebenen und nicht im Locker Room aushängenden Gesetzes der Oklahoma City Thunder dürfte in etwa folgendermaßen lauten: Geht nichts, geht der Ball zu Kevin Durant, dem MVP, dem besten Scorer der NBA. Gelingt Paragraph eins nicht die Transformation von Theorie zu Praxis, tritt Paragraph zwei in Kraft. Russell Westbrook, übernehmen Sie. Ziehen Sie zum Korb, bringen Sie die gegnerische Defense aus der Balance, scoren Sie, kreieren Sie.
Die Offense der Thunder gilt nicht zwingend als eine der komplexesten der NBA. Muss sie auch nicht. Mit Durant und Westbrook besitzt OKC schließlich den vielleicht tödlichsten One-Two-Punch zwischen Los Angeles und New York. Gemeinsam waren die beiden in den Playoffs 2014 für 55 Prozent aller Thunder-Punkte verantwortlich.
Niemand wird es Coach Scott Brooks übel nehmen, seinen offensiven Fokus auf seine beiden Besten zu legen. Gefahren birgt es dennoch. Wäre es nicht effektiver, um Durant und Westbrook eine Offense wie jene, der Spurs aufzubauen? Eine, die größer ist als ihre Einzelteile, die auch funktioniert, sollten eines oder mehrere Komponenten ausfallen - ob nun verletzungsbedingt oder aufgrund schwacher Leistungen.
"Wieso nicht wie die Spurs?"
Derartige Fragen sind nicht neu in Oklahoma City. "Alle sehen uns an und fragen: ‚Wieso bewegen sie den Ball nicht wie die Spurs?'", weiß auch Nick Collison, erklärt jedoch gleichzeitig, weshalb OKC bewusst einen anderen Ansatz wählt. "So etwas aufzubauen, benötigt allerdings wahnsinnig viel Zeit und wir haben nun mal zwei Jungs, die einfach gegen jeden Gegner scoren können. Klar müssen wir den Ball besser bewegen, aber diese beiden können Plays beenden."
Theoretisch jedenfalls. Denn Plays werden in nächster Zeit weder Durant noch Westbrook laufen. Der eine, Durant, zog sich eine Jones-Fraktur im Fuß zu und wird noch bis in den Dezember hinein fehlen. Der andere, Westbrook, sollte das Team eigentlich durch die MVP-lose Zeit tragen, brach sich gegen die Clippers jedoch die Hand und dürfte ebenfalls erst im Laufe des Weihnachtsmonats wieder zur Verfügung stehen.
Kein Durant, kein Westbrook, keine Offense
OKCs eigentlich so aggressiver Mix aus Drives, Kicks und Durant'schen Scoringexplosionen kommt damit mit einem Mal ganz handzahm daher. Die Thunder müssen mehrere Wochen auf ihre primären Ballhandler verzichten - und ihre Offense deshalb völlig umstellen. Nun stellt sich allerdings die Frage, wie dies effektiv gelingen soll. Großartige Scorer sucht man im Thunder-Roster schließlich vergebens. So sagt "SCHOENE Projection System" beispielsweise voraus, dass OKCs Offense ohne Durant und Westbrook in Sachen Scoring ligaweit einzig von den Sixers unterboten werden dürfte.
Der eine oder andere mag Serge Ibaka daher in der Verantwortung sehen, vom Spanier mehr Scoring erwarten. Inwieweit "Air Congo" die Erwartungen erfüllen kann, sei allerdings dahingestellt. Das Problem: Ibaka funktioniert vorne größtenteils als Teil einer Offense, deren Last andere schultern. Der Big Man ist niemand, der seinen eigenen Wurf dauerhaft effektiv kreieren kann. Noch immer geht ihm ein effektives Lowpost-Spiel ab.
Ibaka braucht Unterstützung
So ging vergangene Saison 80 Prozent von Ibakas erfolgreichen Abschlüssen ein Assist voraus. Ohne Durant und Westbrook fehlen nun jedoch ausgerechnet, die beiden, die einerseits für ihre Teamkollegen kreierten und andererseits durch ihre pure Präsenz Räume schufen. Ein Scoringexplosions Ibakas erscheint da unwahrscheinlich.
Dennoch kann sich die Produktivität mit mehr Touches selbstverständlich steigern. Zumal Ibaka mit Reggie Jackson weiter einen Partner besitzt, mit dem er das Pick-and-Pop, jenen Spielzug, der mit Russell Westbrook bestens funktioniert, laufen kann. Nun muss Jackson dazu erst einmal vollständig von seiner Knöchelverletzung genesen. Ist der Playmaker zurück, dürfte ein Tandem Jackson/Ibaka den Thunder aber wenigstens eine verlässliche Option bieten.
Jacksons Zukunft ungeklärt
Nun ist Jacksons Situation in dieser Saison allerdings eine ganz spezielle. Der Point Guard lehnte das Angebot der Thunder ab und wird als Mitglied des 2011er Drafts nach Ablauf der Frist am 31. Oktober damit kommende Saison Restricted Free Agent. Plötzlich findet sich OKC also in einer ähnlichen Situation wieder, wie sie vor einem Jahr zum Trade von James Harden führte.
Wie Harden möchte Jackson mehr Geld. Ein Ansporn für diese Saison, klar, andererseits bringt eine unklare Zukunft auch Fragen und Unruhe mit sich. "Die Frage ist doch, wie viel sie bereit sind, für Westbrooks Backup zu bezahlen", zitiert "ESPN" beispielsweise einen General Manager.
Es ist eine Frage, die sich vielleicht auch Jackson stellen wird. Sicher ist, dass er nun die Möglichkeit besitzt, zu beweisen, dass er tatsächlich ein Starting Point Guard ist. Ist er fit, dürfte Jackson zum primären Ballhandler werden, Pick-and-Rolls laufen, mit seinen Drives Räume schaffen, selbst abschließen, für sich und andere kreieren.
Dass er dazu in der Lage ist, bewies der Playmaker bereits während Westbrooks verletzungsbedingter Abstinenz in der vergangenen Saison. Vielleicht ist Jackson sogar derjenige im Roster der Thunder, den das Fehlen von Durant und Westbrook rein spielerisch am wenigsten limitieren wird. Immerhin scort Jackson in 71 Prozent der Fälle, ohne zuvor einen Assist erhalten zu haben.
"Gute Teams erholen sich"
Allgemein sind Anpassungen jedoch unabdingbar. Das überrascht niemanden. Doch es kann auch eine Chance sein. "Natürlich ist alles sehr unglücklich gelaufen", sagt Coach Scott Brooks. "Nun müssen wir jedoch einen Weg finden, durch diese Erfahrungen besser zu werden. Gute Teams und Spieler erholen sich von Rückschlägen, das wissen unsere Jungs."
Allerdings ist auch der Coach selbst gefordert - und hat unbewusst sogar dafür gesorgt, dass die Thunder ihre wohl schwerste Phase der vergangenen Jahre nicht völlig unvorbereitet angehen. Da sich Brooks vergangene Saison größtenteils weigerte, das Duo Durant/Westbrook zu trennen, boten die Thunder vier superstarlose Lineups auf, die insgesamt 25 Minuten auf dem Court standen, zwei davon sogar 100 Minuten.
Gut, viel ist das nicht. Zumal sich der Erfolg in Grenzen hielt. Mit besagten Linups legte OKC -20 Punkte auf, ein unterirdischer Wert, auf 48 Minuten hochgerechnet immerhin -3, ebenfalls kein guter, aber immerhin nicht mehr unterirdischer Wert.
Erfahrungswerte ohne Durant UND Westbrook
Grundsätzlich blieben die Thunder ihrem Dogma allerdings treu. Heißt: Es wurde einfacher Basketball gespielt. "Grantlands" Zach Lowe vergleicht OKCs Offense ohne Durant und Westbrook mit Jerry Sloans Flex Offense. Simple Sets mit den Big Men am Ellbow, dazu viele Cuts und Screens abseits des Balls.
Nick Collisons Fähigkeiten beim Blockstellen, Passen und Dribble-Handoff seien dabei zum Tragen gekommen. Auch Jacksons Pick-and-Rolls hätten ihren Beitrag dazu geleistet, dass OKC sich überraschend regelmäßig brauchbare Würfe kreiert habe.
Eine kleine Chance
Grundsätzlich kommen die Thunder also halbwegs klar. Nur mussten sie ihre beiden Besten eben noch nie gleichzeitig über einen längeren Zeitraum ersetzen. Möglich ist das auch nicht. Allerdings haben nun all diejenigen, die sich sonst eher am Rande des Fokus bewegen, die Chance, Erfahrung zu sammeln, Wege zu finden, selbst effektiv aufzutreten und Selbstvertrauen zu tanken. Auf lange Sicht könnten die Thunder also durchaus profitieren, besitzen am Ende unter Umständen sogar mehr Optionen als zuvor.
Perry Jones nutzte Durants Abstinenz beispielsweise zu 32 Punkten gegen die Clippers und 23 Zählern gegen Denver. 19,3 Punkte legte der Forward in den ersten drei Spielen auf. Überzubewerten sind derartige Zahlen natürlich nicht, dennoch deuten sie an, dass im einen oder anderen vielleicht noch unentdecktes Potential schlummert.
Vielleicht dient Jones auch als Beispiel für Jeremy Lamb, auf dessen Durchbruch man in OKC seit dem Harden-Trade sehnlichst wartet. Nun muss sich der Guard allerdings erst einmal von seinen Rückproblemen erholen und fehlt damit ebenso wie Anthony Morrow, der an einer Innenbanddehnung im Knie leidet. Wann der Neuzugang zurückkehrt, ist derzeit noch ungewiss.
Defense statt Offense
Damit sind die Thunder einer weiteren Offensivoption beraubt. Grund genug, ein wenig ans hintere Ende des Feldes zu blicken. "Eine Möglichkeit, dein Team zu verbessern und offensive Verluste zu kompensieren, ist, noch besser zu verteidigen", erklärt General Manager Sam Presti. "Wir müssen an beiden Enden des Feldes gut sein. In Kevins Abwesenheit wird es wichtig sein, eine defensive Identität zu schaffen [...]."
Dass man mit Serge Ibaka einen der besten Rim-Protecoren der gesamten Liga im Kader hat, erleichtert das Vorhaben natürlich. Gemeinsam mit Steven Adams, der im zweiten Jahr die Rolle des Starting Center übernommen hat, bildet der Spanier zudem ein sehr mobiles Big-Man-Duo, das den Weg in die Zone für gegnerische Guards zumindest einmal erschweren wird.
Der Spielplan hilft
Andererseits dürfte sich Durants Fehlen auch defensiv negativ bemerkbar machen. Schließlich ist der MVP zwar nicht als herausragender Verteidiger verschrien, bringt aber einen äußerst unangenehmen Mix aus Länge und Schnelligkeit mit. So verhindert Durant häufig den Drive Richtung Korb, nur um kurz darauf einen möglichen Dreier zu stören. Auch Westbrooks Aktivität und Athletik ist am Perimeter nicht einfach zu ersetzen.
Am Ende sehen die Thunder derzeit definitiv nicht wie ein Titelaspirant aus. Es gilt einfach, den Abstand zu den Playoff-Rängen nicht allzu groß werden zu lassen, bis die beiden Superstars zurückkehren. Unmöglich ist das sicher nicht. Immerhin meint es der Spielplan gut mit OKC. Im gesamten November trifft man lediglich sechs Mal auf Teams, die vergangene Saison die Playoffs erreichten. Die übrigen Spiele sind allesamt gegen Mannschaften, die das Jahr mit einer negativen Bilanz beschlossen.
Nun sind die Thunder, Stand jetzt, ebenfalls eher Lottery- als Playoffteam. Allerdings werden die Comebacks von Durant und Westbrook die Vorzeichen wieder komplett drehen, den Thunder am Ende wohl die Playoffs bringen. Immerhin finden die Paragraphen eins und zwei dann wieder regelmäßig Anwendung.