Eigentlich war alles perfekt vorbereitet. Mit einer 7:1-Bilanz standen die Raptors als bestes Team im Osten da, nun war mit den Chicago Bulls eines der beiden Teams zu Gast, die vor der Saison bereits als feststehende Conference-Finalisten im Osten ausgerufen wurden. Mehr noch: Es war das erste Regular-Season-Spiel der Raptors seit 2002, das im nationalen Fernsehen gezeigt wurde.
Die perfekte Gelegenheit also für den "T-Dot", den Beweis zu erbringen, dass man "for real" ist. Dass man aus dem Spitzenduo Cleveland und Chicago ein Trio machen kann, wenn es um die Krone im Osten geht.
Es sollte anders kommen. Nach einer umkämpften Halbzeit zogen die Gäste im dritten Viertel davon und holten sich den Auswärtssieg, zudem erteilten sie den Raptors eine Lektion. Das Spiel zeigte relativ schonungslos auf, was die aufstrebenden Kanadier noch von den echten Titelfavoriten trennt.
Valanciunas geht gegen Gasol baden
"Das war eine gute Erfahrung für uns", kommentierte Jonas Valanciunas, "wir hatten jetzt eine Serie von fünf Siegen. Dieses Spiel war wie eine kalte Dusche." Der Center selbst war dabei vielleicht derjenige, dem am deutlichsten die Grenzen aufgezeigt wurden.
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Im Zweikampf gegen Pau Gasol wirkte der Litauer hilflos, ließ sich ein ums andere Mal düpieren und wurde von Coach Dwane Casey in der Schlussphase fast komplett draußen gelassen, da er seinem Team mehr schadete als half.
Valanciunas hat alles, um einer der besten Big Men der Liga zu werden: Gute Fußarbeit, starke Physis, die richtige Länge und gute Instinkte. Vor allem defensiv hat er aber noch sehr viel zu lernen, wie das Duell gegen Gasol deutlich zeigte. Auch offensiv gelingt es ihm bisher noch zu selten, sich richtig einzubringen.
Lowry in All-Star-Form
Dennoch gehört er zu dem Trio, das die Raptors-Fans von Playoff-Erfolgen träumen lässt - gemeinsam mit Kyle Lowry und DeMar DeRozan bildet er den Kern des Teams. Die beiden gehörten schon in der vergangenen Saison zu den produktivsten Backcourts der Liga und haben über diesen Sommer noch einen weiteren Schritt nach vorne gemacht.
Lowry ist der unangefochtene Leader des Teams - der Point Guard mit Einstellung und Physis eines Bullterriers hat in Toronto sein Zuhause gefunden und legt bisher Karrierebestwerte bei den Punkten (18,3), der Feldwurfquote (48,5 Prozent) und den Rebounds (4,8) auf.
Er ist vielleicht der meistunterschätzte Spieler der NBA und gehört in jede Diskussion um den besten Point Guard im Osten. Dass er vergangene Saison kein All-Star wurde, scheint den 28-Jährigen nur noch mehr motiviert zu haben.
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Diese Ehre wurde stattdessen seinem Partner zuteil. DeRozan lebte nach dem Trade von Rudy Gay im Dezember auf und wurde zum Topscorer seines Teams (21,4 Punkte pro Spiel). Die besagte ASG-Nominierung sowie ein Trip zur FIBA-WM mit Team USA waren die logische Konsequenz.
DeRozan: Midrange statt Perimeter
Dabei ist DeRozan als Spieler noch lange nicht fertig in seiner Entwicklung - und ein recht ungewöhnlicher Shooting Guard. Von der Dreierlinie strahlt er kaum Gefahr aus (Karriere: 26,6 Prozent 3FG) und versucht es auch nur noch einmal pro Spiel, stattdessen lebt er vor allem vom Midrange Game, wenngleich er in dieser Saison bisher gerade einmal 41,3 Prozent aus dem Feld trifft.Ähnlich wie sein Backcourt-Partner Lowry ist er allerdings gut darin, Fouls zu ziehen. Nur die Sacramento Kings bekommen pro Spiel mehr Freiwürfe zugesprochen als die Raptors, ihre beiden Guards sind der Hauptgrund dafür.
Das Spiel gegen die Bulls zeigte allerdings auch DeRozans Schwächen deutlich auf. Er hat noch Probleme, sich gegen starke, physische Defender durchzusetzen. Jimmy Butler schaffte es, ihn fast komplett aus dem Spiel zu nehmen - DeRozan ließ sich einschüchtern, warf fast nur von außerhalb und erarbeitete sich bloß vier Freiwürfe.
"Versuchen, daraus zu lernen"
Gegen Chicago war daher Lowry letztlich der einzige der vermeintlichen "Big Three", der beim größten Test der Saison effektiv dagegen hielt. Der Point Guard machte im Anschluss keinen Hehl daraus, dass die Bulls als Team eine Stufe weiter sind: "Dieses Physische, die defensive Intensität und die Offense, in der mehrere Jungs das Spiel übernehmen können, das müssen wir erst noch erreichen."
Die Zeichen stehen allerdings gut, dass Toronto diese Ziele in nicht allzu ferner Zukunft erreichen könnte. Zumal ein sehr großer Lernprozess bereits stattgefunden hat - wie auch DeRozan nach seinem schwachen Auftritt zugab: "Solche Spiele passieren, das verstehe ich mittlerweile. Vor zwei Jahren hätte ich noch gedacht, das sei das Ende der Welt, jetzt versuche ich, daraus zu lernen."
Upside und Kontinuität
Lernen ist ein gutes Stichwort - denn die Erfahrung ist so ziemlich die einzige Qualität, die den Raptors noch abgeht. Für viele von ihnen fand im Frühjahr der erste Playoff-Trip ihrer Karriere statt, im Sommer kamen mit Lou Williams und James Johnson auch nur zwei Spieler mit Playoff-Erfahrung hinzu. GM Masai Ujiri setzt auf Kontinuität und die Weiterentwicklung von Youngstern wie DeRozan, Valanciunas oder auch Small Forward Terrence Ross.
Die wahre Herausforderung für die Youngster wartet natürlich in den Playoffs, der Start in die Saison verlief indes sehr vielversprechend. Die Raptors stehen sowohl bei der offensiven als auch bei der defensiven Effizienz in den Top 10 und haben im Durchschnitt 9,6 Punkte mehr gemacht als der Gegner - die drittbeste Differenz der Liga.
Im Gegensatz zu beispielsweise Cleveland hat Toronto den großen Vorteil, dass sich die Spieler bereits fast alle kennen und über ihre Rollen im System Bescheid wissen. Die Raptors verlieren nur selten den Ball (zweitbeste Turnover-Rate) und haben einen der produktivsten "Bench-Mobs" überhaupt.
Drizzy Drake und "#WeTheNorth"
Ein weiterer Pluspunkt, über den die Raptors mittlerweile verfügen, hat nur indirekt mit dem Produkt auf dem Parkett zu tun. Dank tatkräftiger Unterstützung des kanadischen Rappers Drake, der als "Global Ambassador" fungiert, hat der einst eher unscheinbare Klub sich zu einer angesagten Franchise gemausert.
Die Marketing-Kampagne "#WeTheNorth" hat tatsächlich dazu geführt, dass in Toronto mittlerweile mehr über die Raptors gesprochen wird als über die Maple Leafs. Innerhalb weniger Jahre ist es ihnen gelungen, im Eishockey-verrückten Kanada zu einer echten Marke zu werden.
Die Fans haben zudem so lange auf irgendwelche Erfolge warten müssen, dass sie unglaublich dankbar sind für ihr jetziges Team. Toronto hat mit das lauteste Publikum der ganzen NBA und dadurch einen nicht zu verachtenden Heimvorteil.
"Frühes Stadium des Prozesses"
Die Anzeichen mehren sich, dass bei den Raptors endlich mehr richtig als falsch gemacht wird und dass der Erfolg in der Vorsaison kein Zufall war. Von den absoluten Top-Teams sind sie noch ein Stück weit entfernt, geht die Entwicklung allerdings ähnlich rasant weiter, könnte sich das unter Umständen schon dieses Jahr ändern.
Coach Casey will davon verständlicherweise nichts hören, dafür ist es schließlich noch zu früh in der Saison: "Ich denke, wir sind intelligent genug, um uns nicht zu überschätzen. Wir wissen, wer wir sind, aber wir müssen unsere Identität als Defensiv-Team erst noch etablieren. Wir sind noch in einem sehr frühen Stadium dieses Prozesses."
Gemessen daran stellen die Raptors schon jetzt ein verdammt gutes Team, das der Elite schon ziemlich bald gefährlich werden dürfte. Letztes Jahr waren sie zu grün für die erfahreneren Nets, darauf sollte sich diesmal aber niemand verlassen. Im hohen Norden wächst eine Macht heran.