Wenn man die Saison 2013/14 der Cleveland Cavaliers in einem Wort hätte beschreiben müssen, wären einem wohl viele Worte in den Sinn gekommen: Enttäuschend. Bitter. Womöglich sogar katastrophal. Ein positives Adjektiv wäre dabei allerdings wohl nur den Wenigsten über die Lippen gekommen.
Trotz zahlreichen Versuchen, das Ruder noch herumzureißen, wurden die Playoffs, das erklärte Saisonziel der Cavs, deutlich verpasst. Anthony Bennett, der First Pick des Drafts, entpuppte sich als Desaster. Selbst die Verpflichtungen von Spencer Hawes und Luol Deng brachten keine Besserung. Cleveland erlebte ein weiteres verlorenes Jahr und stand erneut vor einem Scherbenhaufen.
"Ich bin bislang kein Leader gewesen"
Auch an Kyrie Irving ging die Kritik nicht spurlos vorbei. Der Starting Point Guard der Cavaliers spielte nicht nur seine statistisch schwächste Saison, sondern konnte seinem Team auch im dritten Jahr als Hoffnungsträger keine Erfolge bescheren und kein Siegergen implizieren.
"Ich bin bislang kein Leader gewesen, kein bisschen. Ich war bisher einfach nur rein Kind, das versucht hat, diese Rolle auszufüllen", zeigte sich Irving am Ende der Spielzeit überraschend selbstkritisch. "Als 19-Jähriger in die Liga zu kommen und sofort die gesamte Verantwortung auf deinen Schultern zu haben, da gibt es viele Auf und Abs."
Mit James kehren die Erwartungen zurück
Somit empfing auch Irving die Nachricht der Rückkehr von LeBron James nach Cleveland mit Freuden. Nach Jahren der Trostlosigkeit, Saisons voller Niederlagen und hohen, aber größtenteils enttäuschenden Draft-Picks sollte nicht nur der verlorene Sohn nach Ohio zurückkehren, sondern mit ihm auch die Siege, die Playoffs und diesmal auch gleich noch die Meisterschaft.
Die Rollenverteilung bei den Cavaliers war dabei von Anfang an unumstritten. Während die Miami Heat trotz multipler MVP-Titel von James bei dessen Ankunft "auf ewig die Franchise von Dwyane Wade" bleiben sollten, waren die Cavs von Anfang an LeBrons Team. Sein Projekt. Seine Unternehmung.
Irving in der Schülerrolle
All dies fiel dem King aber nicht nur aufgrund seiner Vergangenheit in den Schoß. Auch wenn dem Wort von LeBron James in Cleveland wahrscheinlich mehr Gehör geschenkt werden würde als dem von Präsident Barack Obama, trug Irving selbst ebenfalls einen großen Teil zur Hierarchie der neuen Big Three bei.
"Es ist großartig, Hilfe zu bekommen. Herausragende Hilfe durch LeBron. Die Chance neben ihm zu spielen und von ihm zu lernen wird, eine wichtige Erfahrung für mich sein", erklärte Irving der "Washington Post" schon im August.
"Ich habe LeBron zugeschaut, seit ich ein Kind war. Ihn also zurückkommen zu sehen, ist ein tolles Gefühl." Irving allein hatte nicht für Erfolg sorgen können. Nun kam ihm der King zu Hilfe. James war der Star, Irving der Schüler.
Die Metamorphose gelingt
Trotz des guten Verhältnisses der beiden zueinander und der zusätzlichen Verpflichtung von Power Forward Kevin Love blickten viele Augenpaare kritisch nach Cleveland. Wer sollte die Offensive führen? Wer wird abseits des Balls spielen müssen? Und: Wer sollte überhaupt verteidigen?
Nach knapp zwei Monaten offenbaren die Cavaliers zwar immer noch zahlreiche Schwachstellen und belegen mit dem fünften Platz im Osten eine eher enttäuschende Platzierung, die Abstimmung zwischen James und Irving funktioniert dafür allerdings wesentlich besser, als es ihnen ihre Kritiker zugetraut hätten.
Vor allem dem Point Guard ist seine Metamorphose vom balldominanten Aufbauspieler mit Score-First-Mentalität zu einem effektiven Off-the-Ball-Player überraschend gut und schnell gelungen.
Verändertes Offensivspiel
Der Plan von Head Coach David Blatt ist klar: Irving soll mehr einfache Abschlüsse bekommen, weniger für sich selbst kreieren müssen und für ordentlich Spacing in der Offensive der Cavs sorgen. Während im letzten Jahr noch 48 Prozent von Irvings Abschlüssen aus dem Feld Pull-Up-Jumper waren, ist dieser Wert in seinem ersten Jahr an der Seite von James auf 37,7 Prozent gefallen.
Der vierfache MVP übernimmt große Teile des Spielaufbaus und zieht somit die meiste Aufmerksamkeit der Defensive auf sich. So ergibt sich zwangsläufig mehr Freiraum am Perimeter für Irving. Seine Dreipunktewürfe per Catch-and-Shoot machen in dieser Spielzeit 15,6 Prozent seiner Abschlüsse aus (12,8 Prozent 2013-2014) und finden in beeindruckenden 42,4 Prozent der Fälle den Weg durchs Netz (31,6 Prozent 2013-2014).
Mehr Scorer als Playmaker
Auf den ersten Blick sind Irvings Assist-Zahlen die Kehrseite dieser Medaille. Obwohl der 23-Jährige so viele Minuten wie noch nie zuvor in seiner Karriere auf dem Feld steht, stellen seine 5,3 Vorlagen pro Spiel ein Career-Low dar und sind auch im ligaweiten Vergleich mit den konkurrierenden Starting Point Guards nur ein unterdurchschnittlicher Wert.
Die Offensive der Cavs wird dadurch allerdings allenfalls marginal beeinflusst. Blatt hat einen der besten Playmaker der Liga in seinem Team und sieht den Ball im Spielaufbau daher am liebsten in dessen Händen. In den Händen von James. Für Irving bedeutet das zwar weniger Touches, weniger Pässe und somit auch weniger Vorlagen, allerdings gleichzeitig auch weniger Verantwortung und damit verbunden auch weniger Turnover.
Mit nur 1,9 Ballverlusten pro Spiel rangiert Irving unter den besten Starting Point Guards der NBA. Und auch seine Assist-to-Turnover-Ratio liegt mit einem Wert von 2,83 in den Top 10 - vor PGs wie John Wall, Jeff Teague oder Damian Lillard.
"Er spielt einfach nur großartig"
Die Defense der Cavaliers ist derweil allerdings genau das, was viele von ihr erwartet hatten: problematisch. Auf 100 Angriffe gerechnet lassen die Cavs mehr als 105 Punkte zu und rangieren damit im unteren Drittel der Liga. Kein Team mit ähnlichen Ansprüchen verteidigt schlechter.
Dennoch bleiben Spieler und Verantwortliche optimistisch. Vor allem ihr Point Guard wird immer wieder gelobt - auch für seine Defense. "Unsere Verteidigung startet mit dem Kopf der Schlange. Und das ist Kyrie", erklärte zum Beispiel James. "Er hat viel von der WM im Sommer mitgenommen. Coach K hat von uns starke Defense und Pressing gefordert. Das hat er übernommen. Wenn er gut verteidigt, macht das unser Team noch besser." "Ich bin mit Kyries Leistungen sehr zufrieden", stimmte Blatt seinem Superstar zu, "er spielt großartig. Einfach nur großartig."
Irving behält seinen Status
In einen ähnlichen Lobgesang stimmte auch der amerikanische Basketballverband ein. In der vergangenen Woche ehrte dieser Irving zum US-Basketballer des Jahres - noch vor WM-Goldmedaillengewinnern wie James Harden oder Anthony Davis.
Offizielles All-Star-Voting: Stimmt jetzt ab
Trotz seiner mittlerweile untergeordneten Rolle bei den Cavaliers bleibt Irving eines der Aushängeschilder der NBA und des Team USA. Im Februar wird er erneut im All-Star-Game spielen. Eventuell sogar als Starter. Irving wird als Superstar angesehen - auch wenn er genau das vielleicht gar nicht sein will.