Er ist vielleicht der Point Guard schlechthin. John Stockton hat die NBA im Trikot der Utah Jazz über fast zwei Jahrzehnte geprägt, Rekorde für die Ewigkeit aufgestellt - und steht doch viel zu oft im Schatten seiner Gegenspieler. Heute feiert der kongeniale Partner von Karl Malone seinen 58. Geburtstag.
Dieser Artikel erschien erstmals am 7. September 2015. In unserem Legenden-Archiv findet Ihr alle weiteren Portraits zu den größten NBA-Spielern aller Zeiten.
1992, das Jahr des Dream Teams. In Barcelona tritt die berühmteste Mannschaft der Geschichte zusammen, um Olympiagold zu gewinnen. Superstars wie Michael Jordan, Magic Johnson, Larry Bird oder Charles Barkley werden gefeiert, nein, verehrt wie Rockstars. Für Fans wie Gegner gleichermaßen sind sie überlebensgroße Gestalten. Basketball-Götter in Menschengestalt.
Gleichzeitig ist ein 1,85 Meter großer, 30 Jahre alter Mann in Barcelonas Fußgängerzone unterwegs. Mit der Videokamera auf der Schulter und der vierköpfigen Familie im Schlepptau wirkt er wie der typische Tourist. "Sind sie Amerikanerin?", fragt er eine vorbeispazierende Frau, die selbiges durch Flagge und T-Shirt mit Dream-Team-Aufdruck nicht gerade verheimlicht.
Am Abend zuvor habe sie Barkley getroffen, berichtet sie stolz, und zeigt ihr Shirt. Erst als der kleine David Stockton gleich mehrfach "That's my dad!" ruft, fällt bei ihr der Groschen: "Spielen Sie im Team?" Ob sie den Mann vor sich mittlerweile als John Houston Stockton identifiziert hat, sei mal dahingestellt.
Dabei hat dieser Point Guard von den Utah Jazz in den vorangegangenen fünf Spielzeiten fast 17 Punkte, 14 (!) Assists und 3 Steals im Schnitt aufgelegt, sein Team fünfmal in die Postseason geführt und vier All-Star-Games bestritten.
"Ich hasse das - ich kann nirgends hingehen, ohne ständig belästigt zu werden", murmelt Stockton, als er wenig später weitergeht. Natürlich wieder vollkommen unbeachtet von allen um ihn herum.
Genauso wie er es am liebsten hat.
John Stockton: 1001 Pickup Games - 1000-mal verloren
"John Stockton ist ein wahres Wunder. Nicht nur im Basketball oder in den USA, sondern in der Geschichte der westlichen Zivilisation." (Bill Walton)
Der 1962 geborene John wächst in Spokane im Bundesstaat Washington auf, ein paar hundert Meilen östlich von Seattle. Die ersten Erfahrungen mit dem Spalding macht er, typisch amerikanisch, in der Einfahrt vor dem Haus, wo er nach eigener Aussage von 1001 blutigen Pickup Games gegen seinen älteren Bruder Steve 1000 verliert - aber das letzte gewinnt.
Er lernt also früh, sich gegen größere und stärkere Konkurrenz durchzusetzen. Auf der High School spielt er nicht nur Basketball, sondern ist auch im Baseball als Shortstop und Pitcher erfolgreich - und auch im Football versucht er sich.
Sein größtes Talent aber fördert das Hardwood zutage. Als sich mehrere Colleges um ihn bemühen, will er seine Heimat nicht verlassen. Also ruft er Gonzaga-Coach Dan Fitzgerald an: "Coach, ich gehe nach Montana - also mit Ihnen, sobald wir gegen sie spielen." Der trockene, oft selbstironische Humor ist da schon ein steter Begleiter des späteren Assist-Meisters.
Bei den Bulldogs spielt sich Stockton weiter ins Rampenlicht: Sein viertes Jahr (20,9 Punkte, 57 Prozent FG) bringt ihm sogar eine Einladung für die olympischen Tryouts im Frühling 1984 ein. Zusammen mit MJ, Barkley und - Karl Malone. "Er hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt", erinnerte sich Coach Fitz, obwohl es für seinen Point Guard nicht reicht.
gettyStockton und Malone: "Das war etwas Besonderes"
"Karl Malone war 18 Jahre unser bester Spieler und hat die Aufmerksamkeit auf sich gezogen - ich wünschte, er wäre heute Abend hier und würde das jetzt auch tun." (bei seiner Aufnahme in die Hall of Fame)
Wiedersehen soll sich das vielleicht produktivste Duo der NBA-Historie ein gutes Jahr später. Im Draft 1984 wird Stockton an 16. Stelle von den Jazz genommen - die Fans quittieren die Wahl des Hänflings mit Schweigen und Buhrufen. Ein Jahr später stößt Malone dazu.
"Er war ein Junge vom Land und ich kannte mich in Salt Lake City in meinem zweiten Jahr auch noch nicht wirklich aus", schildert Stockton das Zusammentreffen, als der Mailman das Team besucht. "Ich sagte: 'Wir können in die Berge fahren. Oder wir könnten... in den Zoo gehen?' Und er sagte: 'Zoo? Kling gut. Auf geht's.'" Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein - nicht nur in Bezug auf ihre Statur - doch es entwickelt sich eine Freundschaft.
Auf dem Court macht es ohnehin sofort Klick, wie Stockton in seiner Autobiographie Assisted aus dem Jahr 2013 erzählt, "obwohl er sofort ein Starter war und ich noch von der Bank kam. Er wusste, wohin ich passen würde. Und ich wusste irgendwie, wo er offen sein würde. Ich wusste: Das war etwas Besonderes."
John Stockton: Sparfuchs und Zweifler
"Ich war im Camp, und ich weiß noch, wie ich einen alten Coach angerufen und gesagt habe: 'Sooo gut sind die auch wieder nicht.' Ich wusste, dass ich mithalten kann."
Drei Jahre fungiert Stockton vorrangig als Backup von Ricky Green. In seinen Minuten auf dem Court schlägt er sich beachtlich - fast 8 Punkte, 8 Assists und 2 Steals in rund 24 Minuten pro Spiel im zweiten Jahr -, aber von einer langen und glorreichen NBA-Karriere ist er noch nicht überzeugt.
"Ich dachte, die durchschauen mich ziemlich schnell. Ich dachte, die Jazz würden merken, dass sie einen Fehler gemacht haben. Also habe ich jeden Cent gespart", erinnert er sich. "Ich habe keinen Fernseher gekauft, Chili in Dosen gegessen und die Lasagne meiner Mutter im Kühlschrank gestapelt. Ich war mir sicher, dass es nach einem Jahr vorbei ist. Ich weiß nicht, ob sich das je geändert hat."
Spätestens im Sommer 1987 hätte sich das eigentlich erledigen müssen: Stockton übernimmt den Platz in der Starting Five von Green - und mischt die Liga auf. In seiner ersten Saison verteilt er 1128 Assists. Immer noch Platz drei in der ewigen Bestenliste. Und weil das vielleicht nicht beeindruckend genug klingt: Es sind 13,8 Assists in nicht einmal 35 Minuten. Mal 82.
Stockton und Malone: Das beste Duo der NBA-Geschichte?
"Ich habe 30 Jahre lang Wettkampf-Basketball gespielt: drei Jahre St. Aloysius, vier Jahre Gonzaga Prep und vier Jahre Gonzaga - und in all den Jahren war ich nicht einmal der beste Spieler in meinem Team."
Als Jazz-Legende Jerry Sloan 1988 vom Assistant Coach zum Head Coach befördert wird, ist das Triumvirat in Salt Lake City endlich perfekt. Bis zum Karriereende Stocktons 2002 erreicht das Team jedes Jahr die Playoffs und stellt die Konkurrenz mit ihrem vermeintlich simplen Spielkonzept vor unlösbare Probleme. Sloan sagt von außen die Spielzüge an - und "Stockalone" führt sie zu einem erfolgreichen Abschluss.
Die Trumpfkarte auf der Jazz-Hand ist das Pick'n'Roll. Stockton auf der linken Seite an der Dreierlinie, Malone und seine massigen Schultern kommen von rechts und stellen den Pick. Lässt man Stockton zum Korb ziehen, ist die Defense entblößt - und unter dem Pick kann man gegen den treffsicheren Aufbauspieler auch nicht gehen. Doch sprang Malones Verteidiger heraus, um Stockton den Weg abzuschneiden, fand er ein ums andere Mal seinen Briefträger.
Karl Malone: Unaufhaltsam, aber unvollendet
Sei es per Bounce Pass zum durchstartenden Big Man, sei es der Wrap-Around unter den Korb, oder aber das Pick-and-Pop zum offenen Jumper: "Stockton to Malone! Stockton to Malone!! Stockton to Malone!!!" Die Fähigkeiten der beiden ergänzten sich so perfekt, dass es schlicht keine Möglichkeit gab, sie an einem hochprozentigen Wurf zu hindern. Stockton zu gewieft, zu behände, zu sicher in seinen Pässen, Malone zu schnell, zu stark, zu treffsicher.
Es gibt keine verlässlichen Statistiken dazu, wie viele Körbe Stockton seinem Partner genau aufgelegt hat. Eines ist sicher: Sie stellen jede weitere Kombination der NBA-Geschichte in den Schatten. 1412 Spiele bestreiten die beiden Seite an Seite im Mormonenstaat - nur vier weitere Spieler in der Geschichte haben überhaupt so viele Spiele bestritten. Gemeinsam pushen sich die beiden an die Spitze der Bestenlisten.
"Wir waren athletischer als er, aber er hat fundamental soliden Basketball gespielt. Er hat Picks gesetzt, immer das Richtige getan, zwölfmal geworfen und zehn davon getroffen." (Gary Payton)
Als "The Glove", berühmt für seine Schlachten mit MJ, gefragt wird, wer im Laufe seiner Karriere am schwierigsten zu verteidigen war, entscheidet er sich ohne zu zögern für seinen Jazz-Gegenpart. Das tut er nicht ohne Grund: Stockton ist auch ohne seine bessere Hälfte kaum zu stoppen. Er ist nicht "flashy", dribbelt nicht durch die Beine oder spielt sich mit extravagantem Flair in die Sportscenter-Highlights.
Aber sein Offensivspiel ist makellos. Wenn er nicht gerade seine Mitspieler einsetzt, oftmals mit einem einhändig geschleuderten Pass durch die Reihen der Verteidiger, arbeitet er für das Team. Stocktons Screens sind der Stoff, aus dem Legenden gestrickt sind: Mit jeder Menge Ellbogeneinsatz und hart an der Grenze der Legalität sperrt er Mitspieler frei und gibt den Gegnern dabei noch einen blauen Fleck gratis mit.
Das führt dazu, dass der unscheinbare, vermeintliche Saubermann mit dem Aussehen und Auftreten eines Chorknaben es bis heute in die Listen der "dreckigsten" Spieler aller Zeiten schafft. Wobei der Protest gegen seinen Ellbogeneinsatz dabei stets von Respekt begleitet wird. "Man könnte sagen, dass er unsauber spielt. Ich würde sagen, er ist ein harter, abgebrühter Typ, der mit jeder Faser seines Körpers gespielt hat. Sowohl körperlich, als auch mental", sagte beispielsweise His Airness höchstpersönlich.
Der Darling der neuen Analytics-Welle
"Er ist der beste Point Guard aller Zeiten. Nicht nur auf der Höhe seines Schaffens, sondern auch in Sachen Konstanz und Langlebigkeit. Es ist unglaublich." (Steve Nash)
Einen Aspekt sollte man dabei auf keinen Fall außer Acht lassen. Obwohl Stockton für seine Dimes in Erinnerung bleibt, gehört er zu den treffsichersten Guards der NBA-Geschichte. In 18 seiner 19 Spielzeiten traf er mindestens 48 Prozent aus dem Feld, zwölfmal davon blieb er über 50 Prozent. Von der Linie waren es 16-mal über 80 Prozent, dazu kommen über 38 Prozent von Downtown.
Schaut man sich die Zahlen unter der analytischen Brille noch einmal genauer an, sind sie noch beeindruckender. Seine True Shooting Percentage von 60,8 Prozent ist besser als die von Steve Nash oder Kareem Abdul-Jabbar. Offensive Rating? 120,55 - Platz sechs All-Time. Win Shares? 207,7 - Platz sechs.
Würde Stockton heute spielen, er wäre der Darling der neuen Analytics-Welle. Viele Assists bei eigener hoher Trefferquote, der Steve Nash vor Steve Nash. Wenn man ihm etwas vorwerfen will, dann vielleicht die Tatsache, dass er angesichts dieser Quoten noch hätte mehr Würfe nehmen müssen: Er kam nicht einmal auf zwölf Versuche pro Spiel.
Die Karrierestatistiken von John Stockton
Team | Saisons | Spiele / Minuten | Punkte | Rebounds | Assists | FG% | 3FG% |
Jazz | 19 | 1504 / 31,8 | 13,1 | 2,7 | 10,5 | 51,5 | 38,4 |
Auch ohne Ring ein Mann für die großen Momente
"Einige sind über 1000 Meilen angereist, um mich hier zu unterstützen. Obwohl sie wahrscheinlich eher gekommen sind, um Michael zu sehen. Da trifft er einen wichtigen Wurf und alle halten ihn für so cool - das versteh ich einfach nicht."
Wer an Stockton denkt, der denkt nicht nur an Malone, sondern auch an die NBA-Finals 1997 und 1998 - und deshalb an die "beste Spieler ohne Titel"-Liste. Was man nicht vergessen sollte: In der Postseason bewies der Point Guard ein ums andere Mal, dass er sich nicht scheute, die wichtigen Würfe zu nehmen, und so sein "Clutch"-Gen unter Beweis zu stellen.
So war er es, der in den Conference Finals '97 die Houston Rockets per Last-Second-Dreier ausschaltete und den Jazz das Final-Ticket sicherte. Und Tage später Spiel 4 gegen die Bulls fast im Alleingang drehte.
Als diese nämlich in den letzten Minuten drauf und dran waren, mit 3-1 in Führung zu gehen, traf Stockton zuerst den ganz tiefen Dreier, dann klaute er Jordan den Ball und zog zwei Freiwürfe. Unvergessen wenig später sein Rebound und Outlet-Pass auf Malone, der den Jazz schließlich den Sieg brachte. Auch wenn ihm der Ring verwehrt blieb: An großen Momenten in den Playoffs fehlte es nicht.
John Stockton: Eine lebende Jazz-Legende
"Die meisten Point Guards spielen neun bis zwölf Jahre auf einem hohen Level; Stockton tat das 18 Jahre lang und verpasste in 17 Jahren kein einziges Spiel." (Bill Simmons)
Der Mann, der trotz aller Bestmarken Zeit seiner Karriere nicht einmal einen Spitznamen verliehen kam, hinterlässt ein gigantisches Erbe: 15086 Assists, 3715 mehr als Jason Kidd auf Platz zwei. 3265 Steals - ebenfalls mit großem Abstand Platz eins.
Spiele mit 20 Punkten, 28 Assists und 8 Steals, die es heutzutage schlicht und ergreifend nicht mehr gibt. Ein PER von 21 im Alter von 40 Jahren - er hätte 2002 problemlos noch ein paar effektive Jahre dranhängen können. Dass er es nicht einmal unter die Top sechs im MVP-Voting schaffte, lässt heute einfach nur staunen.
Eine lebende Legende ist der Vater von mittlerweile sechs Kindern - Sohn Michael versuchte sich auch schon in der BBL - dennoch. Ganz besonders bei den Jazz, für die der gläubige Katholik 1504 Spiele bestritt (Rekordmarke für eine einzige Franchise). Die er 19 Mal in die Postseason führte. Bei denen er seinen Vertrag verlängerte, indem er sich mit Besitzer Larry Miller an einen Tisch setzte und jeder einen Betrag auf ein Blatt Papier schrieb.
Wer heute in Salt Lake City zur Vivint Smart Home Arena will, muss zuerst den John Stockton Drive überqueren - er kreuzt sich, wie könnte es anders sein, mit dem Karl Malone Drive. Vor dem Eingang wartet eine Bronze-Statue. Stilecht im Moment der Ballabgabe, das Jersey mit der nicht mehr vergebenen Nummer 12 übergestreift.
Und natürlich den extrem kurzen Hosen.