Mehr als der moderne Oscar

Ole Frerks
18. Januar 201712:09
Russell Westbrook wurde endgültig aus dem Käfig gelassen getty
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Russell Westbrook schafft derzeit etwas, was seit dem legendären Oscar Robertson niemandem mehr gelungen ist: Er legt ein Triple-Double im Schnitt auf. Ein Blick auf die Advanced Stats verrät jedoch: In gewisser Weise hat Russ "The Big O" längst überflügelt.

Die Saison 1961/62 war eine in vielerlei Hinsicht auffällige für die NBA. Wilt Chamberlain legte mit 50,4 Punkten den höchsten Schnitt der Geschichte auf, garniert mit geschmeidigen 25,6 Rebounds. MVP wurde er trotzdem nicht - diese Ehre wurde Bill Russell zuteil, der dafür aus irgendeinem Grund nicht im All-NBA First Team auftauchte. Wie gesagt, ein auffälliges Jahr.

In der 13. Saison ihrer Existenz sah die NBA außerdem das erste Mal einen Spieler ein Triple-Double im Schnitt auflegen - 30,8 Punkte, 12,5 Rebounds und 11,4 Assists waren es für Oscar Robertson. Für The Big O war das keine riesige Sensation: Über seine ersten fünf(!) Saisons legte der Guard der Cincinnati Royals diese Zahlen schließlich im Durchschnitt auf. Seither hat dieses Kunststück allerdings niemand mehr erreicht.

Als die NBA ihre Kinderschuhe nach und nach ablegte, wurde Robertsons TD-Saison mehr und mehr zum Mythos - ein Modell für Vielseitigkeit, das ultimative Zeugnis eines kompletten Spielers. Wenn Magic Johnson 1981/82 noch ein paar mehr Rebounds und Assists erreicht hätte (18,6 Punkte, 9,6 Rebounds, 9,5 Assists), wäre er dafür sicherlich schon deutlich mehr gewürdigt worden als Oscar - schließlich hatte man nun deutlich mehr Vergleichswerte. Doch Robertson blieb ein Unikat.

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Bis jetzt zumindest. Jahrelang wurde gemunkelt, dass LeBron James ein Triple-Double auflegen könnte, wenn er es "wirklich wollte" - doch es ist ein anderer, der dies tatsächlich in die Tat umsetzt. Während James Harden mit 28,7 PPG, 11,7 APG und 8,3 RPG nicht allzu weit entfernt ist, legt Russell Westbrook derzeit "runde" 30,7 PPG, 10,5 RPG und 10,3 APG auf.

Höhere Pace, mehr Minuten

Sollte er dies über die Saison halten, würde er also in Robertsons "Fußstapfen" treten, heißt es. Das mag einerseits stimmen, wenn man es oberflächlich betrachtet - aber erzählt andererseits nur die halbe Wahrheit. Denn ob Westbrook nun am Ende drei zweistellige Zahlen vorweisen kann oder nicht: Seine Saison ist schon jetzt beeindruckender als die legendäre Robertson-Spielzeit.

Woran das liegt? Zum einen steht Westbrook heuer deutlich kürzer auf dem Court (34,6 Minuten) als Robertson 61/62 (44,3) - das sind fast zehn Minuten. Ein noch wesentlich größerer Unterschied ist jedoch der gängige Stil der Liga: 61/62 wurden pro Spiel im Schnitt 107,7 Würfe abgefeuert und 71,4 Rebounds eingesammelt, die Pace war eine ganz andere - das erklärt auch die absurden Zahlen Chamberlains. Naja, zumindest ein bisschen.

In Westbrooks NBA sind es 85,3 Würfe und nur 43,6 Rebounds. Sein Anteil an den verfügbaren Punkten, Assists und Rebounds ist also ungleich höher als der von Oscar und wird in deutlich kürzerer Zeit erreicht. Stats-Experte Tom Haberstroh von ESPN machte sich kürzlich die Mühe, Russ' Zahlen an Pace und Spielzeit von Robertson 61/62 anzugleichen - und kam dabei auf Durchschnittswerte von grob 50 Punkten, 17 Assists und 17 Rebounds. Soviel dazu...

Aus dem Käfig gelassen

Russ ist mehr als der "moderne" Oscar - er ist vielmehr eine Naturgewalt, die man auf der Point-Guard-Position so noch nie gesehen hat. Und er wurde nach dem Abgang von Kevin Durant endgültig aus dem Käfig gelassen. Die Thunder gehen so weit, wie Westbrook sie tragen kann - und keinen Schritt weiter.

Selten war ein Team so stark auf einen Spieler ausgerichtet - man könnte sogar argumentieren, dass es noch nie der Fall war. Der Rekord für die Usage-Rate, die bestimmt, wie viele Plays eines Teams ein Spieler nutzt, solange er auf dem Court steht, liegt bei 38,74 Prozent und wurde 2005/06 von Kobe Bryant aufgestellt. Russ liegt derzeit bei 41,1 Prozent. Den zweithöchsten Wert der Geschichte nennt er bereits sein Eigen (14/15: 38,4).

Und das ist noch nicht alles: Mit Westbrook auf dem Court erzielen die Thunder auf 100 Ballbesitze gerechnet 5,3 Punkte mehr als der Gegner, was ligaweit für Rang 7 reichen würde, besser als beispielsweise die Cavaliers (+3,8). Ohne Russ verlieren die Thunder mit -11,1 Punkten, was deutlich schlechter wäre als NBA-Schlusslicht Brooklyn (-8,5). Zwischen Top-Team und Bodensatz kann manchmal nur ein Spieler liegen, wenn sein Name Westbrook ist.

Kein Co-Star in Sicht

Es ist diese Abhängigkeit, die Russell - gepaart mit dem historischen Triple-Double-Schnitt - zu einem legitimen MVP-Kandidaten macht, selbst wenn Harden mit seiner 32-12-Bilanz (OKC: 25-18) derzeit wohl als Topfavorit gelten dürfte. Es lässt sich trotzdem problemlos dafür argumentieren, dass Westbrook in dieser Saison der wertvollste Spieler der Liga ist. Fraglich ist wiederum, wie gesund die sportliche Total-Eskalation langfristig ist - sowohl für Russ als auch für sein Team.

Westbrook ist nach allen Ereignissen des Sommers verständlicherweise auf einer Mission. Er hat schon immer mit mehr Einsatz gespielt als nahezu jeder andere, wobei er sich defensiv seit Jahren (zu) viele Pausen nimmt. Nun hat er jedoch erstmals in seiner Karriere keinen Spieler mehr an seiner Seite, der seine Alleingänge irgendwie ausbalanciert.

Victor Oladipo wurde als eine Art Co-Star geholt, tatsächlich hat Westbrooks Backcourt-Partner in OKC aber die niedrigste Usage-Rate seiner Karriere und hat sich in mehreren Kategorien zurückentwickelt. Steven Adams und Enes Kanter spielen jeweils sehr gute Saisons, das liegt allerdings auch daran, dass sie als Big Men vor allem von Offensiv-Rebounds und Durchsteckern Westbrooks leben. Adams verwandelt nach Vorlage von Westbrook gar 65 Prozent seiner Würfe.

Kein Knockdown-Shooter

Westbrook ist freilich kein klassischer Egoist - aber es ist für Flügelspieler schon schwierig, mit ihm zu koexistieren, wenn sie keine Knockdown-Shooter sind und den Ball kaum in der Hand brauchen, um effektiv zu sein. Dieser Spielertyp fehlt OKC derzeit völlig, zumal Anthony Morrow kriselt (nur 30,1 Prozent 3FG!).

Westbrook hält den Ball pro Spiel 8,7 Minuten, nur seine Backups Cameron Payne und Semaj Christon knacken wenigstens drei Minuten. Nur bei den Rockets ist dieses Ungleichgewicht noch größer, allerdings wird Harden eben von gleich mehreren herausragenden Shootern flankiert und kann daher trotzdem ausreichend flexible Offense kreieren.

OKC hat den Ein-Mann-Fastbreak Westbrook, den Pick'n'Roll-Handler Westbrook, den Iso-Player Westbrook, den Pull-Up-Shooter Westbrook sowie Putbacks von Kanter, Adams und natürlich Westbrook. Oh, und Kanter kann im Post isoliert werden und manchmal erarbeitet sich Oladipo einen Wurf. Das mag in der Regular Season oft reichen - ein Testament für Westbrooks Brillanz -, wäre in einer Playoff-Serie aber viel zu leicht auszurechnen.

Miese Wurfauswahl

Das ist in OKC nichts wirklich Neues, auch in den KD-Jahren glänzten die Thunder offensiv nie mit Kreativität. Das konnten sie sich allerdings um einiges besser leisten, als sie noch den komplettesten und effizientesten Scorer der NBA in ihren Reihen wussten. Nur die Raptors spielen heuer weniger Pässe als OKC pro Spiel, diese haben aber wenigstens zwei potente Scorer - und nicht bloß einen.

Zumal Westbrooks Wurfauswahl ihn immer davon abhalten wird, ein für sich effizienter Scorer zu sein. Ein altes Problem: Mehr als ein Viertel seiner Würfe sind Dreier, obwohl er ein klar unterdurchschnittlicher Shooter ist (32,7 Prozent 3FG). Mehr als ein Drittel seiner Würfe nimmt er aus der Mitteldistanz, aus der er aber nur 36,7 Prozent trifft. Insgesamt sind fast genau die Hälfte seiner Würfe Pullup-Jumper nach einigen Dribblings - bei einer 37,2-prozentigen Quote.

Natürlich entstehen dadurch etliche sogenannte "Kobe-Assists", also Fehlwürfe, die von seinen Big Men oder sogar von ihm selbst für Putbacks wieder eingesammelt werden. Dennoch: Hochprozentig schließt er selbst nur in unmittelbarer Korbnähe ab (57,1 Prozent), sowie bei den 10,4 Freiwürfen, die er sich pro Spiel erarbeitet (82,4 Prozent).

Russell Westbrooks Wurfverteilung der Saison 16/17nba.com/stats

Daher ist seine True Shooting Percentage, die alle Wurfarten und -quoten gewichtet mit einbezieht, unter allen Guards, die wenigstens 25 Spiele absolviert haben, nicht einmal unter den Top 50 zu finden (54,4 Prozent). In der Crunchtime sinkt sie sogar noch um einige Prozentpunkte auf kalte 51,1 Prozent.

Nicht wirklich Playoff-tauglich

OKC in der Crunchtime ist generell eine faszinierende Angelegenheit. Westbrooks ohnehin schon perverse Usage Rate steigt in Situationen, in denen das Spiel in den letzten fünf Minuten durch 5 oder wenige Punkte getrennt ist, auf astronomische 60,8 Prozent - der nächste Rotationsspieler ist Harden mit bloß 47,9. Man kann nicht besser verdeutlichen, wie sehr er den Ball in der Schlussphase dominiert.

Vor diesem Hintergrund überrascht es schon fast, dass OKC in den 24 "clutch" Spielen dieser Saison bisher eine 14-10-Bilanz aufweist, aber wie schon gesagt: Das wird nicht mehr funktionieren, wenn sich in den Playoffs vernünftige Defense vernünftig auf diese "Strategie" einstellen können. Und das weiß wohl auch in OKC jeder, mit Sicherheit aber General Manager Sam Presti.

Der individuelle Peak?

Auch der talentierteste und besessenste Individualist ist auf Hilfe angewiesen. In diesem Fall handelt es sich zwar um den vielleicht explosivsten Spieler der NBA-Geschichte, aber auch dieser hat bereits drei Knie-Operationen hinter sich. Gerade aufgrund seiner Vollgas-Spielweise ist es durchaus riskant, Westbrook jede Partie zum spielerischen Kampf bis zum Tod machen zu lassen. Auch wenn es verdammt unterhaltsam sein kann.

Gut möglich, dass OKC schon zur Trade Deadline in irgendeiner Form aktiv wird, mit relativ großer Sicherheit wird sich aber spätestens im Sommer etwas tun. Die Thunder haben andere Ansprüche, als irgendwo im Mittelfeld des Westens herumzudümpeln, ohne echte Chance, zu den wahren Top-Teams aufzuschließen. Und diese haben sie derzeit nicht.

Gut möglich also auch, dass wir Russ nur in dieser Saison in diesem Rampage-Modus erleben werden. Natürlich wird er seine Spielweise nie vollkommen ändern, aber es kann sehr gut sein, dass dies der athletische - und statistische - Peak des 28-Jährigen ist. Wir sollten es genießen.

Russell Westbrook leistet derzeit individuell etwas, das vor ihm noch niemand erreicht hat. Auch nicht Oscar Robertson.

Die Statistiken in diesem Artikel stammen von nba.com/stats, ESPN und basketball-reference.com und sind auf dem Stand vom 18. Januar.

Russell Westbrook im Steckbrief