Der personifizierte Napoleon-Komplex

Ole Frerks
09. Februar 201712:09
"You know what time it is" - Isaiah Thomas liebt das vierte Viertel getty
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Die meisten Schlagzeilen in dieser Saison gehören Russell Westbrook und James Harden - dabei ist das Statistik-Paket von Isaiah Thomas ähnlich absurd. Der zweitbeste Scorer der NBA ist dabei nicht nur der König des vierten Viertels, sondern auch noch beeindruckend effizient. In die MVP-Konversation gehört er dennoch nicht.

41 Punkte gegen Detroit, 24 davon im letzten Viertel. 44 Punkte gegen Toronto, 19 im letzten Viertel. 52 Zähler gegen Miami, 29 im letzten Durchgang. 38 gegen die Lakers, 17 im Schlussviertel. 41 gegen die Blazers, 44 gegen die Grizzlies. Wer behauptet, dass Isaiah Thomas in letzter Zeit ganz gut drauf ist, bezeichnet Stephen Curry wohl auch als ganz ordentlichen Distanzschützen. Sein Game-Log steht seit Mitte Dezember in Flammen.

36 Spiele in Folge hat Thomas mindestens 20 Punkte erzielt. Seit Anfang Dezember erzielt Thomas über 34 Punkte im Schnitt - das ist mittlerweile längst keine kleine "Hot Streak" mehr. Und dann ist da natürlich noch das vierte Viertel.

IT4 erzielt momentan 10,6 Punkte im letzten Viertel - das ist der höchste Wert der NBA. Und zwar nicht nur in dieser Saison. Seit 20 Jahren werden die Punkte nach Vierteln unterteilt erhoben, bisher hielt Kobe Bryant den Rekord mit 9,5 Punkten in der Saison 2005/2006. Thomas schickt sich an, diesen Wert zu pulverisieren.

Als er vor kurzem in L.A. darauf angesprochen wurde, wehrte Thomas noch direkt ab: "Ihr könnt meinen Namen nicht mit Kobe in Verbindung bringen. Hoffentlich in 15 Jahren, aber ich bin weit von ihm entfernt." Wer Thomas jedoch schon länger verfolgt, weiß ganz genau, dass er das eigentlich anders sieht. Das überbordende Selbstvertrauen ist eine der größten Stärken des Gartenzwergs im Reich der Riesen.

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Ein Gunner im Pace-and-Space-Style

Bei einer Körpergröße von 1,75 m ergibt es eigentlich keinen großen Sinn, dass Thomas (derzeit 29,8 PPG) zu den verheerendsten Offensivwaffen der Liga gehört. Aber genau dieser Napoleon-Komplex beflügelt sein Spiel. Er agiert bei seinen Moves mit einer fast schon beispiellosen Kreativität - und hält sich dabei strikt an die Prinzipien der Pace-and-Space-Ära.

Thomas spielt zwar einerseits mit der Gunner-Mentalität eines Kobe, andererseits hat er dabei jedoch eine Wurfauswahl, die eher dem Labor von Rockets-GM Daryl Morey entsprungen zu sein scheint. 32,3 Prozent seiner Punkte erzielt er von der Dreierlinie, 33,2 Prozent in der Zone und 26,8 Prozent von der Freiwurflinie - die Mitteldistanz ignoriert er hingegen fast komplett (7,7). Aus gutem Grund.

In der üblicherweise prall gefüllten Midrange wird ihm seine fehlende Größe besonders zum Nachteil, er kann nicht etwa wie James Harden jederzeit abstoppen und einen Pullup-Jumper über jeden Verteidiger werfen. Also lässt er es einfach oder zieht besser gesagt lieber weiter zum Korb. Denn dort ist er dank seiner Cleverness und der Statur eines NFL-Running-Backs (83 kg) nur in den allerseltensten Fällen zu stoppen.

1,5 Blocks sind okay

Zwar werden pro Spiel 1,5 Würfe von Thomas geblockt, womit er ligaweit den vorletzten Platz belegt - vor DeMarcus Cousins! -, aber angesichts der übrigen Resultate können die Celtics gut damit leben. Niemand erzielt pro Spiel mehr Punkte per Drive (9,7) als Thomas und nur vier Spieler ziehen ligaweit mehr Fouls.

Russell Westbrook im Stats-Check: Mehr als der moderne Oscar

Dabei weiß der Gegner eigentlich meistens, was kommt. Wenn Thomas den Ball an der Dreierlinie bekommt, oft nach einem Hand-Off, drückt er entweder direkt ab (8,4 Dreier bei 38,4 Prozent 3FG) oder lässt seinen Verteidiger mit seinem Antritt stehen.

Auf dem Weg zum Korb nutzt er sein enormes Arsenal an Crossovern, Pump-Fakes und Counter-Moves, um entweder seinen Wurf zu bekommen oder einen seiner 8,7 Freiwürfe pro Spiel zu ziehen. Dabei ist er kein Flopper wie sein Nebenmann Marcus Smart, natürlich versteht aber auch er es wie jeder Superstar in der Liga, den Kontakt entsprechend zu verkaufen.

Besser als Iverson?

Die Mischung aus Freiwürfen und Dreiern verschafft Thomas eine True Shooting Percentage von 62,8 Prozent, womit er unter allen Volume-Scorern der Liga (mindestens 12 Würfe pro Spiel) nur von Kevin Durant und Stephen Curry übertroffen wird. Es spricht für seine derzeitige Form, dass er bei deutlich gesteigerter Wurfanzahl die mit Abstand effektivste Saison seiner Karriere spielt.

Gewissermaßen liefert er derzeit sogar den "Goldstandard" für kleine Spieler in der NBA-Geschichte. Bisher kam dieser immer von Allen Iverson, der mit (offiziell) 1,83 m sogar noch 8 cm größer war als Thomas. Aber auch die MVP-Saison von "The Answer" (00/01) hält dem Vergleich mit Thomas' derzeitigen Stats nicht wirklich Stand.

  • Iverson: 31,1 Punkte, 4,6 Assists in 42 Minuten - 51,8 Prozent True Shooting, 24,0 Player Efficiency Rating, 0,19 Win Shares pro 48 Minuten
  • Thomas: 29,8 Punkte, 6,4 Assists in 34,5 Minuten - 62,8 Prozent True Shooting, 27,8 PER, 0,25 Win Shares pro 48 Minuten

Die Zahlen sprechen sogar überraschend deutlich für Thomas, auch wenn man natürlich berücksichtigen muss, dass Iverson in einer anderen Ära spielte. Insofern ist es verständlich, wie viel Selbstbewusstsein Thomas ausstrahlt. "Das ist meine Zeit!", hört man ihn regelmäßig rufen, wenn er im vierten Viertel mal wieder einen seiner Runs startet.

Die Wurfverteilung von Isaiah Thomas in dieser Saison nba.com

"Der Beste der Welt"

"Ich fühle mich, als wäre ich der beste Spieler der Welt", sagte Thomas kürzlich zu The Ringer, was ihm natürlich als Arroganz ausgelegt wurde - allerdings hatte er eine Erklärung: "Ich will damit nicht angeben. Aber wenn man so viel gearbeitet hat wie ich und sich nicht so fühlt, dann macht man sich selbst etwas vor."

Die Erklärung ist angesichts von Thomas' Werdegang durchaus verständlich. Er wäre nicht dort, wo er jetzt ist, wenn er nicht dieses Selbstbewusstsein hätte - dafür musste er in seiner NBA-Karriere einfach schon zu viele Hindernisse überwinden. Immerhin taucht der letzte (!) Pick von 2011, der von Sacramento (!) und Phoenix (!) aussortiert wurde, neuerdings sogar in einigen MVP-Konversationen auf.

"Er hat die Fackel übernommen. Er hat sich voll etabliert, von einem kleinen Typen, von dem nicht viel erwartet wurde, zu einem mehrfachen All-Star und MVP-Kandidaten", sagte kürzlich kein Geringerer als Paul Pierce, gewissermaßen Thomas' "Vorgänger" in Boston. Thomas selbst sagte, es sei ein "surreales Gefühl", dass die drei heiligen Buchstaben neuerdings mit ihm in Verbindung gebracht werden. Es ist auch falsch.

Kein MVP-Kandidat

Denn wo Thomas seine geringe Größe in der Offense bestens kaschieren kann, ist sie defensiv ein umso größeres Manko. Ein echter MVP-Kandidat sollte defensiv zumindest seinen Mann stehen, wie der häufig belächelte Verteidiger Stephen Curry in der Vorsaison. Thomas ist kilometerweit von dem Impact entfernt, den Curry defensiv hat.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dies zu veranschaulichen, die effektivste ist jedoch das Defensiv Real Plus Minus von ESPN, das den geschätzten Einfluss eines Spielers auf die Defense seines Teams pro 100 Ballbesitze berechnet. Thomas hat hier von 445 (!) Spielern in der NBA mit -4,48 den mit großem Abstand schlechtesten Wert. Curry liegt bei 0,04...

Negatives Net-Rating im vierten Viertel

Bei aller offensiven Klasse ist das einfach ein Makel, der sich schwer wegdiskutieren lässt. Zumal es auch nicht der einzige ist. Denn auch wenn das angesichts seiner Heldentaten völlig absurd klingt: Boston hat im letzten Viertel ein besseres Net-Rating, wenn Thomas nicht auf dem Court steht. Und der Unterschied ist nicht gering. Mit Isaiah auf dem Court verlieren die C's pro 100 Ballbesitze mit 2,4 Punkten. Ohne ihn stehen sie in der gleichen Statistik bei +19,7. Wie kann das sein?!

Natürlich liegt die Ursache auch hier in der Defensive. Der Unterschied beim Defensiv-Rating ist enorm: Ohne Isaiah sind es überragende 96,3 zugelassene Punkte pro 100 Ballbesitze, mit ihm sind es 122 - ein Wert, den selbst das schlechteste Defensiv-Team der Liga aus Denver (110,2) belächeln würde.

Indes wäre es falsch, dies ausschließlich an Thomas festzumachen, wie es Matt Moore von CBS Sports kürzlich ausführlich darlegte. Denn während die Celtics in den letzten Jahren einen Ruf als starkes Defensiv-Team hatten, verdienen sie den in dieser Saison nicht. Ihr Defensiv-Rating von 106,1 ist absolut mittelmäßig und ein Resultat mehrerer Faktoren.

Enorme Rebound-Schwächen

Die Celtics haben individuell große Defensivqualitäten, auch wenn Avery Bradley nun schon deutlich länger ausfällt als ursprünglich angenommen. Auch können sie durchaus im Team verteidigen, sie haben nur unglaubliche Schwierigkeiten damit, ihre Defensiv-Ballbesitze zu Ende zu bringen, denn kein Team der Liga ist schlechter beim Defensiv-Rebound. Im letzten Viertel verstärkt sich dies noch.

Eins vorweg: Die Celtics haben in dieser Saison bisher jedes Spiel gewonnen, wenn sie mit einer Führung ins letzte Viertel gingen. Sie haben dabei jedoch eine Tendenz dazu offenbart, ihre Führungen zu verzocken und den Gegner wieder ins Spiel zu holen. Nicht selten war dies überhaupt erst der Grund für Thomas' verrückte Scoring-Runs.

Coach Brad Stevens vertraut im letzten Viertel sehr gerne extrem kleinen Lineups mit den drei Guards Thomas, Marcus Smart und Bradley, wenn dieser fit ist. Keiner von ihnen ist über 1,94 m groß. Damit lässt es sich ordentlich verteidigen, wenn man auf den anderen beiden Positionen gute Länge hat. Aber weder Jae Crowder, noch Jonas Jerebko oder Al Horford erfüllen dieses Kriterium.

Die Celtics versuchen Thomas in der Defense zu beschützen, aber natürlich haben sich seine Defizite herumgesprochen und natürlich versucht jedes Team, ihn in möglichst viele Possessions direkt zu involvieren, selbst wenn er ihren vermeintlich schlechtesten Offensivspieler verteidigt. Da Boston keinen echten Ringbeschützer hat, ist das Gift - ebenso wie jedes Pick'n'Roll, das Thomas und Horford involviert und damit für noch mehr schwierige Cross-Matches sorgt.

Kommt der Rim-Protector noch?

Genau deshalb wird man in den nächsten Wochen noch viele Gerüchte hören, wenn es um mögliche Trades geht. Der Rim-Protector kann für Boston tatsächlich einen riesigen Unterschied ausmachen, weshalb man sie verständlicherweise immer wieder mit Andrew Bogut, Nerlens Noel und Co. in Verbindung bringt. Sie haben ausreichend Assets, um mindestens einen signifikanten Deal einzufädeln.

Zumal sie dabei nicht mehr den Druck der vergangenen Jahre haben. GM Danny Ainge sprach schon 2015 gegenüber SPOX davon, dass ihnen der eine "transzendente" Spieler abgehen würde, der Superstar, der in engen Situationen das Spiel entscheiden und sein Team tragen kann. Dabei stand derjenige, der diese Rolle heute füllt, schon damals im Kader.

Isaiah Thomas ist einer der besten und kreativsten Scorer der Liga geworden. Seine Probleme in der Defense sind real, müssen aber nicht fatal sein, wenn man ihn etwas besser beschützt. Die Celtics sollten so schnell wie möglich herausfinden, ob sie dazu in der Lage sind - denn 2018 wird er mit einem Gehalt von 6,6 Millionen Dollar eher nicht mehr zu halten sein.

Auch wenn er kein legitimer MVP-Kandidat ist - unter dem Radar fliegt der "King in the Fourth" längst nicht mehr.

Isaiah Thomas im Steckbrief