Auch zehn Jahre nach dem großen Hype ist Linsanity noch jedem NBA-Fan ein Begriff. Eine Reihe hervorragender Auftritte für die New York Knicks machten Jeremy Lin 2012 sofort zum weltweiten Star. Im Interview mit SPOX spricht er über den plötzlichen Aufstieg und seinen Fall, den Umgang mit dem Trubel und über Fans, die Grenzen überschreiten.
Im Draft 2010 hielt sich das Interesse an dem jungen Harvard-Absolventen noch in Grenzen, Lin musste sich erst in der G-League eine Chance in der besten Basketballliga der Welt erarbeiten. Die nutzte er in der Saison 2011/12 dann im Trikot der Knicks - und wie!
Nach nur insgesamt 55 Minuten Einsatzzeit in den ersten 23 Saisonspielen explodierte Lin am 4. Februar 2012 mit 25 Zählern gegen die New Jersey Nets. Es folgte die Beförderung zum Starter, ein irrer Lauf mit 18,5 Punkten und 7,7 Assists im Schnitt bis zum Saisonende, Gamewinner und ein weltweiter Hype.
Doch im weiteren Verlauf seiner Karriere konnte der heute 33-Jährige nicht mehr an seine Erfolge im Big Apple anknüpfen. Nach Stationen bei den Rockets, Lakers, Hornets, Nets, Hawks und als Bankdrücker beim Championship-Team der Raptors war seine NBA-Laufbahn 2019 beendet. Anschließend ging es für Lin nach China, wo er 2020 nochmal zum All-Star wurde.
Mittlerweile setzt er sich zudem als globaler Markenbotschafter von LingoAce, die führende Online-Sprachlernplattform für Chinesisch und Englisch, unter anderem für bessere Bildung sowie Chancengleichheit für Kinder ein. Hier spricht der Sohn taiwanesischer Eltern über sein Engagement, Rassismus gegen die Asian American Community und seine Karriere in der NBA.
Lin im Interview: "Unglaubliches Ende für das NBA-Kapitel"
Herr Lin, nach dem Playoff-Aus der Suns haben Sie auf Twitter geschrieben, Sie wünschen Chris Paul noch einen Ring, bevor er seine Karriere beendet. In dieser Hinsicht haben Sie ihm etwas voraus. Müssen Sie sich selbst manchmal kneifen, wenn Sie den Ring sehen?
Jeremy Lin: Ich habe eine großartige Reise hinter mir, die Championship hat meiner Karriere die Krone aufgesetzt. Mein letztes Spiel in der NBA war in den Finals 2019 mit Toronto, das ist ein unglaubliches Ende für dieses Kapitel. Da muss ich mich tatsächlich manchmal kneifen.
Hat der Ring einen Platz im Trophäenschrank gefunden oder ist er sicher verwahrt im Safe?
Lin: Ich hebe ihn an einem sicheren Ort auf, da ist es selbst für mich umständlich, heranzukommen. Deshalb habe ich ihn nicht oft bei mir. Vielleicht krame ich einmal im Jahr den Ring heraus und schaue ihn mir an. Jedes Mal denke ich: "Wow!" Immer wieder vergesse ich, wie groß dieses Teil ist.
Jeremy Lin: "War sehr schwer, Linsanity zu verarbeiten"
Im Championship-Team der Raptors haben Sie nur eine kleine Rolle gespielt. Individuell hatten Sie Ihre besten Jahre in der NBA bei den New York Knicks. Jeder denkt beim Namen Jeremy Lin wohl sofort an Linsanity. Wie denken Sie heute, zehn Jahre später, an die verrückten Wochen in der Saison 2011/12 zurück?
Lin: Als Linsanity begann, habe ich nicht gerne darüber gesprochen. Für mich hat es sich wie ein Geist, wie ein riesiger Schatten angefühlt, der mich verfolgte. Jeder hat enorme Erwartungen gestellt, die ich meinem Gefühl nach nicht erfüllen konnte. Es war sehr schwer für mich damals, Linsanity zu verarbeiten, selbst noch ein paar Jahre später. Rückblickend bin ich heute sehr dankbar.
Wie kam es zu diesem Wandel?
Lin: Je älter ich werde, desto mehr realisiere ich: Bei Linsanity ging es nicht nur um Basketball. Es ging um etwas so viel Größeres. Selbst heute, zehn Jahre später, spielt es für viele Menschen noch eine große Rolle, was damals passiert ist. Fans sprechen mich immer noch darauf an. Bald gibt es sogar eine neue Dokumentation über mein 38-Punkte-Spiel gegen die Lakers. Früher mochte ich nicht einmal den Begriff Linsanity, aber mittlerweile weiß ich es zu schätzen, dass viele Menschen daraus Inspiration ziehen.
Ist es korrekt, dass Sie in der Nacht vor Ihrem Durchbruch auf der Couch von Teamkollege Landry Fields geschlafen haben, weil Sie noch kein eigenes Apartment hatten?
Lin:Landrys Couch bekommt die größte Publicity, da geht gerne mal unter, dass ich sechs Wochen lang auf der Couch von meinem Bruder schlief. An dem Abend hatte er aber Besuch, deshalb musste ich für eine Nacht zu Landry ausweichen. Und wie es der Zufall so wollte, folgte am nächsten Tag mein Breakout-Game.
Der ehemalige Knicks-Coach Mike D'Antoni behauptete einmal, Ihre Teamkollegen hegten aufgrund des Hypes Missgunst gegen Sie. Haben Sie das ebenfalls so wahrgenommen?
Lin: Ich war noch jung und naiv, ich selbst habe das nicht wahrgenommen. Ehrlich gesagt habe ich noch nicht einmal darüber nachgedacht, dass das ein Problem sein könnte. Mit meinen Teamkollegen bin ich gut ausgekommen, es hat nie jemand etwas zu mir gesagt. Letztlich habe ich auch nicht für das Scheinwerferlicht oder den Ruhm gespielt. Ich wollte dem Team helfen zu gewinnen - und ich stand mit dem Rücken zur Wand, weil ich Angst hatte, meine Karriere wäre bald vorbei.
Wie sind Sie mit dem plötzlichen Hype umgegangen?
Lin: Es war definitiv nicht leicht. Ich habe versucht, mich mit Menschen zu umgeben, denen ich nahe stehe, vor allem mit meiner Familie. Wirklich jeder wollte etwas von mir, ich konnte nicht mal mehr auf mein Handy schauen, weil nach jedem Spiel tonnenweise Nachrichten hereinflatterten.
Das muss ein Kulturschock zur "Vor-Linsanity-Zeit" gewesen sein.
Lin: Eine Woche zuvor konnte ich hingehen, wohin ich wollte. Aber auf einmal warteten überall Paparazzi, selbst vor der Wohnung meiner Oma. Manche Leute versteckten sich in Büschen, sprangen heraus und packten mich, um ein Foto zu machen. Andere fanden irgendwie meine Adresse heraus, klingelten bei mir und stellten ihren Fuß in die Tür, als ich sie schließen wollte. Das war verrückt. So toll die Zeit auch war auf dem Court, abseits davon war es beängstigend.
gettyLinsanity als Pandemie-Bekämpfung: "Hat mich umgehauen"
Konnten Sie all den Trubel um Ihre Person auf dem Parkett ausblenden?
Lin: Es war natürlich sehr viel, womit ich fertig werden musste. Aber auf dem Court war es großartig, das werde ich niemals vergessen. Die Stadt New York sowie die Fans weltweit waren unglaublich, man kann sich keinen besseren Basketball-Traum ausmalen. Was diesen Teil der Geschichte angeht: Wow! Sowas werde ich niemals wieder erleben.
Wäre dieser Hype in einem anderen Ort als New York City in dieser Form möglich gewesen?
Lin: Ich denke nicht. Da sind so viele Dinge zusammengekommen, die einen perfekten Sturm gebildet haben. Die Geschichte der Knicks-Franchise, die Medienlandschaft, die Fans und natürlich New York City. Es gibt keine andere Stadt, in der ich diese Zeit lieber hätte erleben wollen.
Als die Saison 2019/20 aufgrund der Corona-Pandemie unterbrochen war, haben die Knicks sogar alte Linsanity-Spiele im TV gezeigt. In New York lieben die Fans Sie offenbar immer noch.
Lin: Corona hat die Stadt sehr stark getroffen, so viele Menschen haben während der Pandemie mit Depression und Einsamkeit gekämpft. Die Knicks hätten alles machen können, um die Stadt aufzuheitern - und sie haben meine Spiele gezeigt. Das hat mich umgehauen. Sie haben so viele unglaubliche Spieler, so viele tolle Momente in ihrer Geschichte, aber sie haben sich für Linsanity entschieden, um die Menschen aufzubauen, als die Stadt am Boden war.
Jeremy Lin: "Der Harden-Trade hat alles verändert"
Zurück zu Ihrer Karriere. Die Höhen Ihrer Knicks-Zeit haben Sie in den nachfolgenden Saisons nie wieder erreicht. Warum nicht? Und wie schwierig war es, auf einmal mit geringeren Einsatzzeiten und mit einer kleineren Rolle umzugehen?
Lin: Das war nicht leicht. Von meinem Charakter her bin ich sehr wetteifernd, ich will immer gut spielen. Das härteste an dieser Phase war, dass die jeweiligen Situationen so unterschiedlich waren. In New York war ich in einem System mit vielen Pick'n'Rolls. Ich hatte oft den Ball in der Hand, hatte Schützen um mich herum und einen Coach, der mir vertraute. Das war bei meinen anderen Stationen nicht mehr der Fall. Gleichzeitig war ich nicht gut genug, um mein Spiel variabler zu gestalten. Ich musste lernen, mich anzupassen. Zum Beispiel, wie ich ein besserer Verteidiger werde, wie man abseits des Balles spielt, wie man als Shooting Guard agiert. Das bringen neue Teams, neue Situationen mit sich.
Im Sommer 2012 haben Sie als Restricted Free Agent bei den Rockets unterschrieben, dort war für Sie eine prominente Rolle im Backcourt vorgesehen, teilweise waren Sie sogar das Gesicht der Werbekampagne für die neue Spielzeit. Dann kam vier Tage vor Saisonstart der Trade für James Harden.
Lin: Das hat für mich alles verändert. Ich war als primärer Ballhandler eingeplant mit dem Ball ununterbrochen in meinen Händen. Das war nach dem Harden-Trade natürlich nicht mehr der Fall. Das ist auch okay, es gab keinen besseren Spieler für die Rockets als Harden.
Später in Ihrer Karriere machten Ihnen Verletzungen zu schaffen. Ihre Situation in der Free Agency 2019 bezeichneten Sie später mal als "Tiefpunkt", nachdem kein Team Ihnen ein Angebot vorgelegt hatte. Was für einen Einfluss hatte der Niedergang auf Sie ganz persönlich?
Lin: Ich bin immer sehr offen damit umgegangen, wie schwer die Zeit für mich war. Es war sehr enttäuschend, ich habe es als unfair empfunden. Wie ich fand, hatte ich bewiesen, dass ich meine Verletzungen in Atlanta gut überwunden hatte. Aber nach neun Jahren in der NBA hatte ich zwölf nicht so gute Spiele für Toronto und auf einmal war ich raus aus der Rotation. Nach dieser schlechten Phase haben alle NBA-Teams beschlossen: Der ist nicht mehr gut genug. Ich war überrascht, wie schnell der Absturz kam. Und vor allem, wie schnell alle aufgehört hatten, an mich zu glauben.
Was hat geholfen, aus dieser Phase herauszukommen?
Lin: Mein Glaube hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Mein Vertrauen in einen größeren Plan Gottes hat die schlimmsten schnell wieder in positive Situationen verwandelt. Ich habe seither nicht mehr in der NBA gespielt, dafür aber tolle Erfahrungen in China gesammelt. Und dabei habe ich viel über mich selbst gelernt.
Welche Erfahrungen haben Sie in der CBA gemacht? Wahrscheinlich waren Sie ein sehr bekanntes und populäres Gesicht vor Ort.
Lin: In China zu spielen hat sich angefühlt, als würde Linsanity nochmal von vorne beginnen. Das war eine unglaubliche Erfahrung. Wir konnten uns in den Hotels manchmal aufgrund der Fanmassen nicht mal zum Fahrstuhl durchkämpfen. All unsere Auswärtsspiele haben sich wie Heimspiele angefühlt, weil viele Fans unser Team angefeuert haben.
Jeremy Lin über Rassismus und sein Engagement für Bildung
Sie waren der erste US-Amerikaner mit chinesischer oder taiwanesischer Abstammung, der in der NBA gespielt hat. Dabei mussten Sie leider Rassismus und Stereotypen überwinden. Wie haben Sie das verarbeitet?
Lin: Ich durfte Asiatische Amerikaner weltweit vertreten und inspirieren, diesen Teil der Geschichte würde ich niemals ändern wollen. Früher bin ich davor weggelaufen, weil ich nicht als Basketballer mit asiatischer Herkunft angesehen werden wollte, sondern einfach nur als großartiger Basketballer. Im Laufe der Zeit musste ich zudem feststellen, wie viel Rassismus und Ungerechtigkeit es in dieser Welt gibt.
Wie sahen konkret Ihre Erfahrungen aus?
Lin: Die Leute schreiben dich schnell ab, du musst dich immer wieder neu beweisen. Und du bekommst bei Weitem nicht so viele Chancen wie ein Spieler mit weißer Hautfarbe. Das ist einfach die Realität und macht es für dich als Sportler natürlich schwerer. Aber meine Herkunft hat auch so viel Gutes mitgebracht, ich konnte viele Menschen inspirieren. Ich bin stolz auf meine asiatische Herkunft.
Mit Ihrer Stiftung, der Jeremy Lin Foundation, setzen Sie sich unter anderem für junge Asiatische Amerikaner ein. Zudem sind Sie Markenbotschafter von LingoAce, einem globalen Unternehmen für Bildungstechnologie. Was ist es an dem Thema Bildung, das Sie fasziniert?
Lin: Ich liebe Basketball, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aber Basketball ist nur ein kleiner Teil meiner Persönlichkeit. Für mich ist es mittlerweile wichtiger geworden, meinen Mitmenschen zu helfen. Ich will meine Stimme nutzen, um die nächste Generation und vor allem benachteiligte Kinder zu unterstützen, gewisse Barrieren abzubauen sowie neue Möglichkeiten zu schaffen. Zugang zu Bildung und die Qualität dieser Bildung ist nicht selbstverständlich.
Inwiefern spielen da auch Ihre eigenen Erfahrungen mit hinein?
Lin: Wenn ich an meine eigene Geschichte denke: Ohne die Unterstützung gewisser Menschen auf meiner Reise könnte ich nicht mein jetziges Leben führen. Zum Beispiel meine Eltern, die aus Taiwan in die USA eingewandert sind, oder gewisse Personen, die meine Entwicklung als Basketballer gefördert haben. Heute versuche ich Partner zu finden, die neue, innovative Wege gehen, um Mitmenschen zu helfen. LingoAce ermöglicht zum Beispiel Menschen weltweit, Chinesisch zu lernen. Das wird auf die nächste Generation einen großen Effekt haben, da die Welt immer globaler wird. Kinder bekommen so Zugang zu Bildung, den ich in meiner Kindheit definitiv nicht hatte. In diesem Projekt steckt eine Menge Leidenschaft.