"Vielleicht in einem Videospiel?" Cowboys-Quarterback Dak Prescott konnte gar nicht genügend lobende Worte finden, als er Mitte Oktober von CBS auf die eigene Offensive Line angesprochen wurde. Habe er so etwas überhaupt schon gesehen? "Genau so spielen sie, es ist wie im Videospiel. Wie sie das Spiel angehen und jede Woche ihre Leistung abrufen. Das sind physische Freaks. Sie sind riesig und können sich dabei bewegen. Gleichzeitig sind sie fies an der Line of Scrimmage. Es ist ein Privileg, hinter diesen Jungs zu spielen."
Einige Wochen später führt Dallas nicht nur die NFC East an, sondern steht auch an der Spitze der Conference und hat, nach der Pleite der Patriots gegen Seattle am Sonntagabend, mit 8-1 sogar die ligaweit beste Bilanz zu bieten. Die Cowboys sind somit drauf und dran, ein seltenes Kunststück zu vollführen.
Seit 1978, als der Spielplan auf 16 Partien ausgedehnt wurde, gab es 248 Teams, die eine Saison als Division-Schlusslicht beendet haben. Von diesen 248 haben nur 30 im Folgejahr die Division gewonnen - sowie lediglich drei die rote Division-Laterne umgehend gegen einen Super-Bowl-Ring eingetauscht.
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Die Cowboys sind auf bestem Wege, sich über den Top-Seed der NFC für den ganz großen Wurf zumindest in eine sehr gute Position zu bringen. Und das gelingt mit einem Ansatz, der noch vor wenigen Jahren als veraltet galt - sich inzwischen aber mehr und mehr großer Beliebtheit erfreut.
Zurück in die Zukunft!
Der Fokus von Offenses ruht schon seit Jahren, das ist kein Geheimnis, eindeutig auf dem Passing Game. 4- und 5-Receiver-Sets sind genauso wenig eine Seltenheit wie das Durchbrechen der 5.000-Passing-Yard-Schallmauer. Das lässt sich auch an den Defenses ablesen: Wurden noch 2008 fünf oder mehr Defensive Backs bei nur 43,4 Prozent der Plays eingesetzt, schnellte diese Zahl bis 2015 kontinuierlich auf 63,4 Prozent hoch.
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Es ist eine Tendenz, die Tennessee während der vergangenen Offseason öffentlich als Chance formuliert hatte und den eigenen Worten dann in der Free Agency (DeMarco Murray) und dem Draft (Derrick Henry, Jack Conklin) Taten folgen ließ: Die Möglichkeit, zunehmend auf Coverage und Geschwindigkeit ausgelegte Defenses mit Power im Running Game zu überrumpeln. Und tatsächlich lässt sich nach über der Hälfte der Regular Season festhalten, dass ein Umdenken zunehmend erkennbar ist.
Die Cowboys (161) und Bills (155) stehen bei über 150 Rushing-Yards pro Spiel, Tennessee (146) ist nur knapp dahinter - über die drei vergangenen Spielzeiten konnten zum Saisonende insgesamt nur drei Teams diese Marke knacken (Buffalo 2015, Seattle 2014 und Philadelphia 2013). Bei den Titans sind dabei - hinter Dallas - die prozentual zweitmeisten Spielzüge Runs (47,3 Prozent), über neun Prozent mehr als in der Vorsaison. Auch bei den sich stark im Auftrieb befindenden Dolphins (44,1 Prozent) ist hier ein Anstieg von neun Prozent zu 2015 zu vermelden.
Insbesondere für Dallas, das jahrelang hohe Draft-Picks in die eigene Offensive Line gesteckt hat, ist es ein Erfolgsrezept, das seit einer Weile kontinuierlich verfolgt wird: Die Rushing-Yards pro Lauf gehen seit 2013 hoch (4,4 - 4,6 - 4,6 - 4,9) und die eigene Offense hält den Ballbesitz in dieser Saison so lange (55,24 Prozent der Spielzeit) wie seit Jahren nicht mehr.
Zone-Running mit Power
Dallas dominiert also über das Running Game - aber wie genau machen die Cowboys das? Einige Elemente sind klar erkennbar: Mit der durch die Bank weg athletischen Offensive Line setzt Dallas vor allem auf Zone Runs, also Laufspielzüge, bei denen die O-Liner einen bestimmten Raum und keinen direkten Gegenspieler blocken. Häufig sieht man dabei einzelne Mitglieder der Line im Second Level, wo sie gegen Linebacker oder Defensive Backs klar im Vorteil sind.
Gegen starke Run-Defenses aber bauen die Cowboys vermehrt auch Double-Teams - ein Power-Blocking-Konzept, in dem zwei O-Liner jeweils gemeinsam konkret einen Gegenspieler wegräumen - ein. Das erlaubt es Elliott, mit seiner Geduld hinter den Double-Teams auf entstehende Lücken zu warten.
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Darüber hinaus kann Dallas extrem gut reagieren: Stellt ein Gegner etwa die Mitte der Offensive Line zu, haben die Cowboys die Mittel, um mit Outside-Runs großen Schaden anzurichten. Das liegt einerseits erneut an der Athletik der O-Line, andererseits aber auch an den Blocking-Fähigkeiten der Tight Ends. Jason Witten etwa stellt sich enorm häufig sehr nahe an der Offensive Line auf, wo er als Blocker glänzt, allerdings auch gefährliche Inline-Routes laufen kann. Generell baut Dallas deshalb gerne auf Formationen mit zwei Tight Ends.
"Sie verlassen sich auf diese Jungs"
Es ist ein Running-Scheme, das gegnerischen Defenses alles abverlangt. Die Cowboys agieren mit einer enormen Vielfalt, wechseln ungewöhnlich häufig ihr Personal durch und haben mit Jet Sweeps und Read Options über Prescott zusätzliche Elemente in ihrem Arsenal, die großen Druck auf die Defense ausüben und verhindern, dass die eigene Offense zu eindimensional wird. Jet Sweeps über die schnellen Receiver zwingen Defenses dazu, die ganze Breite des Feldes zu decken, während Prescotts Präsenz im Running Game einen numerischen Ausgleich schafft, den Defenses respektieren müssen - ähnlich wie Russell Wilson in Seattle.
Aber das Herz des Cowboys-Erfolgs ist nicht das sehr gute Scheme. Auch nicht die Vielfalt oder die Hartnäckigkeit im Running Game. Das Herz dieses Teams ist die Offensive Line. "Sie haben da drei Erstrunden-Draft-Picks, drei All-Pros", stellte Eagles-Defensive-Lineman Fletcher Cox treffend klar, "und sie verlassen sich auf diese Jungs. Die spielen jetzt seit einer Weile zusammen und sind alle auf der gleichen Wellenlänge."
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Das führt mitunter zu absurden Statistiken. Ein Beispiel: Drei Touchdowns hatte Elliott beim Sieg über die Steelers, 129 Yards verzeichnete er bei den drei Scoring-Plays zusammen genommen - Gegnerkontakt hatte er bei diesen 129 Yards keinen. Und das ist, so ungewöhnlich es auch sein mag, in dieser Saison keine Seltenheit. Elliott kommt häufig in die Endzone oder bis kurz davor, ohne dass ihn ein Gegner berührt. Folgerichtig verzeichnet er trotz seines hohen Gesamtvolumens im Schnitt die ligaweit neuntmeisten Yards vor erstem Gegnerkontakt (2,91).
Allerdings soll das nicht bedeuten, dass die Offensive Line die ganze Arbeit macht. Elliott hat im Schnitt auch die viertmeisten Yards nach erstem Kontakt (2,16) und führt die Liga bei Total Yards nach Kontakt an. Der Rookie glänzt mit spektakulären Cuts, seiner Geduld, seiner Explosivität und läuft dabei enorm physisch. Vielmehr ist es also das perfekte Elixier, den sich die Cowboys mit Elliott und dieser Line zusammengebraut haben.
Möglichkeiten wie im Bilderbuch
Die Effekte davon gehen über das Running Game hinaus und beeinflussen das komplette Team. Durch die Kontrolle der Uhr entlastet Dallas die eigene Defense - die sich in der Secondary verbessert präsentiert und von dem endlich gesunden Sean Lee profitiert - enorm. Gleichzeitig gibt es Rookie-QB Prescott eine Möglichkeit zur Entwicklung unter Wettkampfbedingungen, wie sie kein anderer Quarterback in der NFL genießt.
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Im Schnitt kommt Prescotts Pass laut ESPN nach 2,73 Sekunden, der vierthöchste Wert in der NFL, und dabei muss er nur bei 4,3 Prozent seiner Dropbacks einen Sack hinnehmen. Die zahlreichen Personnel-Gruppen sorgen dafür, dass Dallas oft gute Matchups für Prescott kreiert, während seine eigenen Fähigkeiten als Läufer dem Running Game eine zusätzliche Dimension verleihen. Es ist eine Entwicklung, die niemand hatte kommen sehen, als sich Romo in der Preseason verletzt hat. Doch die Umstände in Big D machen es möglich und sorgen dafür, dass Romo seinen Stammplatz bei den Cowboys womöglich für immer verloren hat.
O-Line und Running Game öffnen zudem Tür und Tor zum Play-Action-Spiel, wo Prescott, der alles in allem definitiv noch Luft nach oben hat und zu viele ungenaue Pässe einstreut, mit Bootlegs glänzt. Defenses werden darüber hinaus früher oder später dazu gezwungen, die Box zuzustellen, was unweigerlich Wege im Passing Game öffnet - insbesondere über die Mitte, wo sich Prescott stark auf Witten und Slot-Receiver Cole Beasley verlässt.
Somit überrascht es wenig, dass 43,2 Prozent seiner Passing-Yards nach dem Catch zustande kommen. Zum Vergleich: Andere Quarterbacks wie Andy Dalton (38,2 Prozent), Carson Palmer (37,6), Brock Osweiler (37,7), Andrew Luck (39,8), Marcus Mariota (40,5) oder Kirk Cousins (41,9) verzeichnen deutlich weniger Yards nach dem Catch.
"Das ist ein neues Team"
Mit der jahrelangen Hingabe zum Aufbau der besten Offensive Line der NFL haben die Cowboys den eigenen Negativ-Kreislauf durchbrochen: Von 2011 bis 2013 stand Dallas drei Mal in Folge bei acht Siegen und acht Pleiten, Niederlagen in kritischen Momenten und verpasste Chancen in Spielen, die man dominiert hatte, prägten das Bild.
Das änderte sich 2014, als Dallas auf dem Rücken der O-Line und von DeMarco Murray acht Auswärtsspiele gewann und am Ende zwölf Siege auf dem Konto hatte - darunter ein Statement-Erfolg in Seattle. Die Cowboys hatten zum Saisonende die drittmeisten Rushing-Versuche, während sie 2012 und 2013 in dieser Kategorie jeweils auf dem vorletzten Platz rangierten. Und selbst im Vorjahr, größtenteils mit Matt Cassel und Brandon Weeden under Center, verhalf die O-Line Darren McFadden zu einer 1.000-Rushing-Yard-Saison.
In dieser Saison ist fraglos mehr möglich. Dallas könnte dank einer kreativen, effizienten und an den Stärken der Spieler orientierten Offense tatsächlich mit zwei Rookies auf Schlüsselpositionen der Offense der ganz große Wurf gelingen.
"Das ist eine Weile her", blickte Cornerback Brandon Carr nach dem beeindruckenden Sieg über Green Bay vor einigen Wochem im Star-Telegram auf den Triumph in Seattle 2014 zurück und fügte hinzu: "Das war toll, Mann. Wir verstehen, dass wir schon einige Male in dieser Position waren, und es am Ende aber nicht hinbekommen haben. Aber das ist ein neues Team mit einem anderen Selbstvertrauen als in den vergangenen Jahren. Das sind einfach Jungs, die es lieben, Football zu spielen. Und das sieht man bei jedem Play."