Die alljährliche Auswahl des potentiellen Breakout-Teams ist eine faszinierende Sache. Natürlich, ein Team soll es sein, dass in der jüngeren Vergangenheit eher weniger mit den Playoffs zu tun hatte, dem der nächste Schritt und der Sprung in die Postseason jetzt aber zuzutrauen ist. Ein junger, aufstrebender Spieler-Kern, meist angeführt von einem talentierten Quarterback ist ein genauso großes Muss.
Irgendwann rund um die Preseason - das ist der interessante Part - legt sich gefühlt 90 Prozent der Experten-Welt auf ein Team fest. Bei dieser Gemeinschaftsaktivität kam man in den vergangenen Jahren um einige Teams kaum herum. Die Jacksonville Jaguars wurden häufig genannt, genau wie die Oakland Raiders. Die Tampa Bay Buccaneers rund um den charismatischen Jameis Winston, die Auswahl zum Hard-Knocks-Team und nicht zu vergessen das interne Kicker-Duell sind in diesem Jahr ein ganz heißer Anwärter.
Die Titans finden in diesen Diskussionen seit dem Vorjahr zumindest Erwähnung, so richtig übergesprungen ist der Funke in der breiten Öffentlichkeit allerdings noch nicht. Das mag an dem vergleichsweise kleinen, aus TV-Sicht eher uninteressanten NFL-Markt in Nashville liegen. Oder an dem etwas schrullig wirkenden Head Coach Mike Mularkey, der jede Menge Spott erntete, als er im Vorjahr zum Head Coach befördert wurde und dann seine Offense auch noch "Exotic Smashmouth" taufte.
Sportlich boten die Titans zuletzt ebenfalls lange wenig Reiz: Tennessees Punkte-Differenz betrug 2014 satte -184 sowie 2015 dann -124 Zähler. Und auch Quarterback Marcus Mariota ist, ähnlich wie sein Head Coach, nicht gerade eine schillernde Medien-Persönlichkeit, um die sich die Reporter scharen. In der Folge wurden die Titans in der breiten Masse nur zu gerne mal links liegen gelassen. Doch damit sollte spätestens jetzt Schluss sein.
Marcus Mariota: Auf dem Weg zum Elite-Quarterback
Wie so häufig in der NFL beginnt die positive Entwicklung eines Teams mit dem Franchise-Quarterback, und die Titans sind hier keine Ausnahme. Mariota - ob aus medialen, marketingtechnischen oder sonstigen Gründen - fliegt noch immer ein wenig unter dem Radar. Sportliche Argumente für dieses Phänomen zu finden wird schwierig, denn der 23-Jährige hat in seinen ersten beiden NFL-Spielzeiten beeindruckende Leistungen abgeliefert.
Mariota ist einer der effizientesten Quarterbacks in der Red Zone, insgesamt steht er in seiner NFL-Karriere bei 33 Touchdowns und null (!) Interceptions innerhalb der gegnerischen 20-Yard-Line. Anfangs hatte er noch Probleme bei Deep Balls, hier hat er sich in der vergangenen Saison deutlich gesteigert, was das Tape, aber auch die Statistik zeigt. Nur 38,9 Prozent von Mariotas Passing Yards kamen nach dem Catch zustande, und damit weniger als etwa bei Ben Roethlisberger (45,1 Prozent), Drew Brees (46,3), Matt Ryan (48,1), Andrew Luck (39,7) oder Russell Wilson (42,1). Sein Deep-Ball-Passer-Rating kletterte auf 101,2.
Und Mariota steigerte auch seine generelle Effizienz: In seiner Rookie-Saison warf er laut Pro Football Focus noch einen Touchdown bei 5,1 Prozent seiner Pässe und eine Interception bei 2,7 Prozent. 2016 dann kletterte die Touchdown-Prozent-Zahl auf 5,8, die Pick-Zahl ging auf zwei Prozent runter. Vor allem wenn er den Ball schnell weg bekam (13 TD, 1 INT, 103,6 Passer Rating bei Pass in 2,5 Sekunden oder weniger) war Mariota brandgefährlich.
Decker, Davis und Co.: Titans rüsten Receiver auf
Doch war auch in der vergangenen Saison nicht alles rosig. Nach Tennessees Bye Week in Week 13 absolvierte Mariota vor seiner Verletzung noch drei Spiele, in welchen er im Schnitt nur 42,5 Prozent seiner Pässe für 5,5 Yards pro Pass an den Mitspieler brachte.
Den Titans ging offensiv im letzten Saisonviertel der Saft aus, auch weil sie ihre große Schwäche nicht mehr kaschieren konnten. Tajae Sharpe und Harry Douglas mögen gute Komplementär-Spieler sein, doch sie sind keine Receiver, die den Unterschied ausmachen und eine Offense in die Playoffs tragen können.
Zu lange war Tight End Delanie Walker die einzige wirklich verlässliche Waffe für Mariota, und so reagierten die Titans: Mit den Receivern Corey Davis und Taywan Taylor kamen zwei nicht unähnliche Spielertypen - beide sind schon jetzt auffallend gute Route-Runner sowie brandgefährlich nach dem Catch und sollten gut zu Mariotas präzisem Spiel passen. Mit Davis, Taylor, Sharpe, Douglas und Rishard Matthews war das Wide-Receiver-Corps schon um ein Vielfaches verbessert, ehe Tennessee in der Vorwoche nochmals zuschlug.
Die Verpflichtung des zuvor bei den Jets entlassenen Erick Decker gibt den Titans ein zusätzliches Element: Einen dominanten Red-Zone-Wide-Receiver. Decker hat seit 2012 ligaweit die zweitmeisten Red-Zone-Touchdowns auf dem Konto (41), er sollte Mariota in diesem Bereich des Feldes noch gefährlicher machen.
Die starke Offensive Line und das Duo Henry/Murray
Damit liegt der Ball - im übertragenen und im physischen Sinne - bei Mariota. Tennessees junger Quarterback muss es schaffen, die verschiedenen Teile der Offense zusammenzuführen, und das mit nur wenig Trainingszeit: Infolge seines Beinbruchs, weshalb auch seine zweite NFL-Saison vorzeitig endete, konnte Mariota bisher nur sehr eingeschränkt trainieren.
Trotzdem gibt es eine beruhigende Nachricht: Der 23-Jährige wird sich auch 2017 auf eine der besten Offensive Lines in der NFL, angeführt von den Tackles Taylor Lewan und Jack Conklin, verlassen können. Football Outsiders listete die Titans-Line 2016 im Mittelfeld in Pass-Protection sowie auf dem vierten Rang in puncto Run-Blocking. Davon profitierte das Running-Back-Duo DeMarco Murray/Derrick Henry, und ultimativ auch Mariota: Bei Play-Action-Pässen verzeichnete er laut Pro Football Focus 9,3 Yards pro Pass sowie ein Passer Rating von 99,4.
"Ich denke, wir brauchen mental noch mehr Konstanz und Dominanz im Passing Game, erklärte Offensive Coordinator Terry Robiskie jüngst, und brachte dann den aktuellen Stand der Titans-Offense auf den Punkt: "Ich denke, wir wissen, wer wir sind: Ein physisches Football-Team. Wir glauben daran, physisch zu spielen, und das werden wir auch tun. Da ist es egal, gegen wen wir spielen. Wenn wir mit dem Ball laufen oder irgendeinen bestimmten Spielzug einsetzen wollen, dann machen wir das."
Auch Tennessees Defense auf dem Weg nach oben
Auch hier helfen die Zahlen. Tennessee spielte in der vergangenen Saison die zweitmeisten 3-Tight-End-Sets, die Titans gehen so weg vom Shotgun-Spread-Passing-Trend in der NFL - und orientieren sich philosophisch an den Cowboys. Ob bei Runs (476:499), Rushing-Yards (2.187:2.396) oder Yards pro Run (4,6:4,8): Tennessee war in den Rushing-Kategorien überall nah dran an Dallas. Der nächste Schritt in dieser Hinsicht? Den Ballbesitz besser kontrollieren (2016 im Schnitt 30:32 Minuten Ballbesitz, Rang 18), um die Defense zu entlasten.
Denn so gut die Offense für 2017 auch aussehen mag, in der Defense regieren weiterhin Fragezeichen - wenngleich hier ebenfalls investiert wurde. Mit Jonathan Cyprien und Logan Ryan wurden zwei Starter für die Secondary in der Free Agency geholt, ergänzt durch Erstrunden-Pick Adoree' Jackson. Dazu kommt Safety Kevin Byard, der vielversprechende Ansätze zeigte, und sich jetzt, nach 19 Picks in vier College-Spielzeiten, in der Turnover-Kategorie steigern muss, nachdem er im Vorjahr in der Hinsicht leer ausgegangen war.
"Wir haben in der Secondary viele neue Gesichter", erklärte Mularkey am Rande des Minicamps, "und wir können jetzt mit unserer Coverage mehr Dinge machen." Schluss soll jetzt sein mit 7,2 zugelassenen Yards pro Pass sowie 269,2 erlaubten Passing-Yards pro Spiel. Defensive Coordinator Dick LeBeau sollte mit Blick auf das Scheme wieder mehr Freiheiten haben. Dabei hilft auch der dritte teure Free-Agency-Neuzugang, D-Liner Sylvester Williams.
Man sehe bereits die gute Chemie in der neu geformten Defense, betonte Byard. Die Neuzugänge haben LeBeaus Coverages und Blitz-Pakete offenbar schnell verinnerlicht. Und ohnehin, ist sich Logan Ryan sicher, "wird Dick LeBeau seine Magie wirken lassen. Man braucht nur die richtigen Leute dafür. Wir wollen Coach LeBeau vertrauen, denn er hat mehr Spiele erlebt, als wir alle zusammengenommen."
Die Titans: Von der Witzfigur zum Bully?
Tennessee hat seit 2008 keinen Playoff-Football mehr gesehen, als es eine 10:13-Pleite gegen Baltimore in der Divisional-Runde gab. Die Titans haben 2014 und 2015 zusammengenommen ganze fünf Spiele gewonnen und waren in dieser Zeit eine ligaweite Witzfigur. Insbesondere die Duelle mit den ähnlich belächelten Jaguars wurden damals von Fans weltweit ins Lächerliche gezogen.
2016 gelang der rapide Schritt raus aus diesem Image und hin zu einem 9-7-Team, das lange noch um die Playoff mitspielte. Nach desolater Punkte-Differenz in den beiden Jahren davor beendete Tennessee die 2016er Saison mit einer Punkte-Differenz von +3.
Auf dem Rücken der starken Offensive Line, des aggressiven Run Games und mit einem fitten Marcus Mariota könnten die Titans 2017 endlich wieder Postseason-Luft schnuppern. Es wäre der nächste Schritt auf dem rasanten Weg vom ligaweiten Scherz zum physischen Bully.