Julen Guerreros Stern ging früh auf, in Spanien war er ein angehender Top-Star. Doch die Erwartungen waren zu hoch.
Es war der 8. September 1996, als Diego Simeone im Baskenland zur Persona non grata wurde. Und das ist noch freundlich formuliert, die Bezeichnung "Staatsfeind" traf damals rund um Bilbao und auch im Rest Spaniens auf den heutigen Trainer von Atletico Madrid wohl noch besser zu. Der Mann, den sie nicht ohne Grund "El Cholo", den Schurken, nennen, war auf dem Platz kein Kind von Traurigkeit.
Was er sich aber an jenem Spätsommerabend leistete, ließ den stolzen und leidenschaftlichen Anhängern von Athletic im San Mames die Hutschnur platzen. Mit einem Foul der ganz üblen Sorte verletzte Simeone ihren Heiligen, ihren Hoffnungsträger, ihren besten Spieler: Julen Guerrero.
An der Außenlinie schirmte Atleticos Simeone den Ball ab, Guerrero kam von hinten angerauscht. Der Argentinier verzögerte einen kleinen Augenblick und setzte dann einen gezielten Tritt auf den rechten Oberschenkel des heranrauschenden Gegenspielers. Ein Schrei hallte durch das tobende San Mames.
Der Athletic-Stürmer blickte mit aufgerissen Augen auf die Wunde und zeigte auf seinen Oberschenkel, in dem ein Loch klaffte. Blut floss heraus, die Attacke hinterließ eine Narbe.
Heynckes erkennt Guerreros Talent sofort
Ein Foulspiel, das auch Roy Keane hätte passieren können und das man so denn auch hätte abhaken können. Doch Simeone, ohnehin kein Anwärter auf Sympathiepreise bei Fans anderer Mannschaften, erlebte in der Folge in allen Stadien schlimme Anfeindungen und wechselte am Ende der Saison zu Lazio Rom. Er hatte sich das falsche Opfer ausgesucht: Julen Guerrero.
Dieser aberwitzig talentierte Junge, der Hoffnungsträger in Bilbao und zu jener Zeit das größte Talent Spaniens war. Ein blonder Jüngling, so wundervoll elegant auf dem Platz und so wohlerzogen außerhalb. Er war Teenie-Idol, Frauenschwarm, Schwiegermutters Liebling und Schlitzohr in einer Person.
Geboren in Portugalete, einer baskischen 45.000-Einwohner-Stadt 15 Kilometer nordwestlich von Bilbao, wechselte der junge Julen im Alter von acht Jahren zu Athletic Club in die berühmte Talentschmiede Lezama. Er durchlief dort an der Seite des ehemaligen Real-Verteidigers Aitor Karanka alle Junioren-Mannschaften - und je älter er wurde, desto mehr verfestigte sich der Eindruck, dass hier ein außergewöhnlicher Youngster heranwuchs.
Das sprach sich im Klub und auch in der sportlichen Leitung herum. Von 1992 bis 1994 war ein gewisser Jupp Heynckes Trainer Athletics und der ehemalige Coach des FC Bayern erkannte die Fähigkeiten Guerreros - er brauchte dafür nur wenige Trainingseinheiten. Nach einer Woche bei den Profis konstatierte Heynckes gegenüber Klubchef Jose Julian Lertxundi: "Dieser Junge stellt die Zukunft unseres Klubs dar. In zwei Jahren ist er zehn bis fünfzehn Millionen Mark wert."
Vier Monate zwischen Ligadebüt und Nationalelf
Im September 1992 debütierte der 18 Jahre alte Guerrero bei den Profis, im Januar 1993 wurde er spanischer Nationalspieler. "Das ging alles so schnell damals", sagte der bekennende Piano-Fan Jahre später in einem Interview auf der Webseite des Verbands: "Binnen vier Monaten hatte sich mein Leben komplett verändert. Ich habe daran schöne Erinnerungen. Ich war bemüht, mich schnell anzupassen und alles mitzunehmen, das sich mir bot. Es brachte mir vor allem Selbstvertrauen."
Das gewonnene Selbstvertrauen bekamen die Gegenspieler zu spüren: "La Perla de Lezama" eroberte Spanien im Sturm. Der Teenager Guerrero wurde 1993 Fußballer des Jahres, 28 Treffer erzielte er in seinen ersten beiden Profi-Spielzeiten und löste in Spanien endgültig die "Julenmania" aus.
Das lag auch daran, dass er nebenbei ein echter Frauenschwarm, nahe am Sexsymbol war. Jupp Heynckes erklärte es lapidar damit, dass der Blondschopf eben "gut aussieht und ein leutseliger Typ ist". Fotoshootings in provokanten Posen dürften ebenfalls geholfen haben.
Bis zu 2.000 weibliche Fans pilgerten damals zu Athletics Trainingseinheiten, um Guerrero aus der Nähe anzuhimmeln. Der Legende nach sollen sich Verehrerinnen bei Auswärtstrips wahlweise als Zimmermädchen verkleidet oder in Wäschekörben versteckt haben, um ihrem Schwarm mit den tiefblauen Augen zu begegnen.
gettyTop-Klubs reißen sich um Guerrero
Auf dem Rasen war der offensive Mittelfeldspieler technisch eine Augenweide, dazu schussstark und mit einem ausgeprägten Torriecher ausgestattet. Die von Heynckes prognostizierten zehn bis fünfzehn Millionen Mark war Guerrero zwischen 1996 und 1997 tatsächlich wert.
Der Rechtsfuß, der mit Spanien an der WM 1994 und der EM-Endrunde in England zwei Jahre später teilgenommen hatte, war heiß begehrt. Einige der namhaftesten Vereine Europas balgten sich um ihn. Real Madrid, der FC Barcelona, Atletico Madrid, Manchester United, Juventus, Lazio Rom - sie alle unternahmen Anläufe, Guerrero zu verpflichten.
Aber Athletic ist eben Athletic und einen Basken von dort wegzulocken, ist kein leichtes Unterfangen. Da machte Guerrero, der sich ein Haus in unmittelbarer Nähe des Trainingsgeländes hatte bauen lassen, keine Ausnahme. Er gab allen Interessenten einen Korb und unterschrieb 1997 einen neuen Rekordvertrag in Bilbao: Sein neues Arbeitspapier lief jetzt zehn (!) Jahre lang und machte ihn zum Spitzenverdiener des Vereins. Die Ausstiegsklausel wurde auf umgerechnet 72 Millionen Euro hochgeschraubt, um die Konkurrenz abzuschrecken.
Guerrero: "Titel mit Athletic so viel wert wie zehn mit Real"
Guerrero sagte: "Ein einziger Titel mit Athletic ist genauso viel wert wie zehn Titel mit Real Madrid." Spätestens jetzt war er bei den Anhängern im San Mames nahe am Gottstatus.
1997/98 legte Guerrero, immer noch erst 23 Jahre alt, eine weitere gute Saison hin und führte seinen Klub mit acht Treffern in 29 Einsätzen in die Champions League. Es deutete sich allerdings an, dass die Entwicklung des 1,79 Meter großen Edeltechnikers ins Stocken geriet. Er nahm nicht den geraden Weg in die Weltklasse, sondern hatte immer mehr Partien, in denen er nicht mehr herausragte, sondern nur noch einer von vielen war.
Diese Tendenz verstärkte sich in den kommenden Jahren. Es war keine schwere Verletzung, von der er sich nicht mehr erholte, oder eine traumatisierende Niederlage in einem wichtigen Spiel, die ihn dauerhaft hätte lähmen können: Guerrero spielte einfach nicht mehr so gut wie zu Beginn seiner Karriere und er erzielte kaum noch Tore. Die Leichtigkeit war weg und womöglich lag es auch am fehlenden Biss, denn er bekannte später: "Ich habe intensiv gelebt und nicht immer nur für das Gewinnen."
Fernandez setzt den Fanliebling auf die Bank
Guerrero nahm auch 1998 an der WM-Endrunde teil und war bis 2002 Stammspieler in Bilbao. Die Fans liebten ihren Julen nach wie vor und als es der strenge und sture Trainer Luis Fernandez wagte, den Kapitän auf die Bank zu setzen, schlug das hohe Wellen. Die Anhänger waren stinksauer und protestierten, mussten aber irgendwann einsehen, dass es aus Leistungsgründen völlig richtig war, dass ihr Idol immer weniger Einsatzzeiten bekam.
2001 kehrte Jupp Heynckes zu Athletic zurück, aber auch sein Entdecker konnte Guerrero in den beiden folgenden Jahren nicht zum Neustart verhelfen. Im Oktober 2001 ersetzte er Guerrero in zwei aufeinanderfolgenden Spielen jeweils bereits zur zweiten Halbzeit und läutet damit dessen Abstieg in die Rolle der Teilzeitkraft ein. Zwischen 2002 und 2006 absolvierte Guerrero nur 57 Partien für Athletic und erzielte dabei magere vier Treffer.
Die Fans liebten ihn trotzdem. Der Glanz, den Guerrero zu Beginn seiner Karriere versprüht hatte, war zu hell, um je zu verblassen. Am 11. Juli 2006 beendete er mit einer tränenreichen Pressekonferenz nach 430 Pflichtspielen und 116 Toren seine Laufbahn.
Anschließend arbeitete er zwei Jahre als Jugendtrainer bei seinem langjährigen Klub, danach kümmerte er sich unter anderem um sein Restaurant in Zamudio, schloss ein Bachelor-Studium in Journalismus ab und arbeitet mittlerweile für den spanischen Verband in der Nachwuchsarbeit. Für Athletic lief er selbst noch bei Hallenturnieren auf.
Guerrero und die Maßstäbe, die er nie erreichen konnte
"Die Hingabe, die ich als ehemaliger Spieler für diesen Klub empfinde, ist besonders. Auch wenn ich nicht mehr da bin, spreche ich jeden Tag über Athletic", sagte er einmal.
Von Guerreros Karriere bleiben vor allem zwei Dinge: Die Erinnerungen an einen unfassbar begabten Jungen, der früh seinen Höhepunkt erlebte und damit Maßstäbe setzte, die er später nie wieder erreichen konnte. Und die Tatsache, dass es kaum einem anderen Spieler so gelang, Emotionen bei den Fans der Rot-Weißen zu schüren.
Falls es dafür eines Beweises bedurfte, sei an Diego Simeones Foulspiel im September 1996 erinnert, als dieser sich den Zorn einer ganzen Region zuzog.