Bradley Carnell im Interview: "Ich habe den ganzen Tag den BVB unter Klopp angeschaut"

Florian Regelmann
25. Mai 202208:54
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Bradley Carnell ist aktuell einer der spannendsten Trainer außerhalb Europas. Der ehemalige Bundesliga-Star wurde Anfang des Jahres als Coach des neu gegründeten MLS-Teams St. Louis City SC vorgestellt.

Im Interview mit SPOX und GOAL lässt der 45-Jährige seine Karriere Revue passieren, verrät, warum Felix Magath und er wie Feuer und Wasser waren und wie er schon zu VfB-Zeiten eine ganz besondere Beziehung zu Ralf Rangnick aufbaute.

Außerdem erzählt der Südafrikaner vom Brainwash-Prozess eines Klubs, der auf der RB-Fußball-Philosophie basiert und gibt tiefe Einblicke in seine taktischen Vorstellungen als Trainer.

Herr Carnell, der VfB hat auf dramatischste Art und Weise die Klasse gehalten, wie emotional haben Sie es verfolgt?

Bradley Carnell: Ich habe sehr mitgefiebert und natürlich die Daumen gedrückt! Stuttgart und der VfB sind mein Zuhause außerhalb von Südafrika geworden. Ich hatte wunderschöne fünfeinhalb Jahre beim VfB. Ich kann mich noch so gut erinnern, wie ich als junger Kerl nach Stuttgart zum Probetraining gekommen bin. Zum Glück kannte ich am Anfang niemanden. Erst nach ein paar Wochen habe ich gemerkt: Hoppla, das sind ja alles Weltstars hier. Balakov, Soldo, Berthold. Ich bin damals nach Europa gekommen, weil ich mich dort pushen und testen wollte, ob ich das Zeug habe, in Europa Fuß zu fassen. Das war extrem aufregend. Ich bin dem VfB bis heute so dankbar, dass ich diese Chance bekommen habe. Ich habe zu vielen Leuten noch Kontakt.

Sie waren ja damals zum ersten Mal weg aus Südafrika. Was war das Erste, was Sie in Stuttgart geliebt haben?

Carnell: (lacht) Käsespätzle. Ich muss sofort an Käsespätzle denken. Ich weiß noch, dass ich sofort zwei Kilo draufgepackt habe und zu mir gesagt habe: Hey, du musst aufhören, so viel Käsespätzle zu essen.

Sie haben schon ein paar der großen Namen angesprochen. Was war das für eine Truppe, in die Sie damals gekommen sind?

Carnell: Es waren viele coole Typen in dieser Mannschaft. Sreto Ristic und Kristijan Djordjevic haben mir im Probetraining sofort den Spitznamen "Pitbull" gegeben. Fredi Bobic ist nach wenigen Tagen schon zum Management gegangen und hat gesagt: Wenn ihr Bradley nicht fest verpflichtet, verstehe ich die Welt nicht mehr. Er hat sich für mich eingesetzt. Gerhard Poschner hat mich unter den Arm genommen und mir viel geholfen. Die Frau von Jens Todt ist mit mir zu IKEA gefahren, um Möbel zu kaufen. Alle haben sich total um mich gekümmert und nur ein paar Wochen später stand ich schon in meinem ersten Pflichtspiel für den VfB auf dem Platz. Das werde ich nie vergessen, da ist ein Traum in Erfüllung gegangen.

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Sie hatten in Ihrer Zeit beim VfB vor allem zu Ralf Rangnick eine besondere Beziehung. Woher kam das?

Carnell: Die Backnang-Connection. (lacht) Unter ihm hatte ich meine beste Zeit. Zwischen Ralf und mir hat es einfach gepasst - sowohl fußballerisch als auch menschlich. Wir haben die gleiche Sprache gesprochen. Vom Spielertyp war ich ja so ein Energiebündel, ein junger, dynamischer Spieler, der ohne Angst in die Zweikämpfe geht und marschiert. Diesen Spielertyp mochte Ralf sehr und ich habe instinktiv taktisch das gemacht, was er sich vorgestellt hat. Dazu kommt, dass Ralf Südafrika liebt. Er hat mir viele Wege geöffnet und mich in meiner Entwicklung entscheidend geprägt, als Mensch, als Spieler und später auch als Trainer. Die spezielle Bindung ist bis heute geblieben.

Sie haben als Linksverteidiger gespielt, dabei war Ihnen das anfangs gar nicht so recht.

Carnell: Das stimmt. Ich war am Anfang im Amateurbereich linker Flügelstürmer und habe viele Tore geschossen. Terry Paine, eine Southampton-Legende, war dann einer meiner ersten Trainer in Südafrika und hat mich auf die Linksverteidiger-Position gestellt. Meine erste Antwort war: Nein, das will ich glaube ich nicht. Ich will weiter nach vorne, ich war echt sauer. Aber er hat sich durchgesetzt und er hatte natürlich Recht. Er hat damals schon gesehen, wie wichtig ein moderner Fullback im Fußball sein kann. Heute wissen wir, dass erfolgreiche Mannschaften teilweise ihr Spiel über einen Fullback entwickeln und er ein ganz wichtiger Baustein ist. Das war früher noch nicht so. Zum Glück hat er mich da hingestellt. Wir müssen ja nur an Borna Sosa beim VfB denken, was ein überragender Wing Back er geworden ist. Er denkt nicht zweimal nach, ob er jetzt eine Flanke bringen soll oder nicht. Er hat ein sehr mutiges Entscheidungsverhalten, das gefällt mir sehr an ihm.

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Carnell: Magath? "Konnte es ihm nie recht machen"

Sie haben beim VfB auch unter Felix Magath gespielt. Das hat aber nicht so richtig gepasst. Warum nicht?

Carnell: Ich fand das Training von ihm eigentlich super. Ich habe mich gerne im Training gepusht und gequält. Das Training war sehr hart, aber es war auch spannend. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wenn du bei Felix Magath trainierst. Entweder du zerbrichst daran, oder du stehst es durch und kommst dadurch in deiner Entwicklung einen Schritt weiter. Seine Mentalität hat mich in gewisser Weise auch geprägt, auch für meine jetzige Arbeit als Trainer. Trotzdem waren wir irgendwie wie Feuer und Wasser. Ich konnte machen, was ich wollte, ich konnte es ihm nie recht machen. Das war zumindest mein Gefühl. Jede Entscheidung, die ich auf dem Feld getroffen habe, war gefühlt die falsche für ihn. Wir hatten einige Einzelgespräche, aber wir sind nicht zusammengekommen. Deshalb war für mich klar, dass ich eine neue Herausforderung suchen musste, die ich dann in Gladbach gefunden habe. Leider hatte ich dort sehr mit Verletzungen zu kämpfen und bin nie in die Form gekommen, die ich von mir selbst erwartet hatte. Das war kein gutes Jahr für mich.

Bevor wir über Ihren Wechsel zum KSC sprechen: 2002 erlebten Sie ein großes Highlight der Karriere mit der WM-Teilnahme für Südafrika in Südkorea. Und Sie schieden auf ganz bittere Art und Weise aus. Erzählen Sie.

Carnell: Oh, Mann, das war verrückt. Wir haben 2:2 gegen Paraguay gespielt und dann 1:0 gegen Slowenien gewonnen. Mit vier Punkten aus zwei Spielen hast du normalerweise sehr gute Chancen, die Gruppenphase zu überstehen. Wir haben dann ein richtig gutes Spiel gegen Spanien gemacht, zweimal einen Rückstand aufgeholt, aber dann hat Raul in der zweiten Halbzeit mit seinem zweiten Tor die Spanier zum Sieg geschossen. Das wäre immer noch nicht so schlimm gewesen, aber gleichzeitig hat Paraguay in den letzten 20 Minuten das Spiel gegen Slowenien noch gewonnen und wir waren wegen eines einzigen Tores raus. Wir hatten beide ein ausgeglichenes Torverhältnis, aber Paraguay hatte ein Tor mehr. Das war so schade, weil wir damals eine geile Truppe hatten mit Benni McCarthy, Quinton Fortune, Lucas Radebe und Co. - wir hätten da noch weit kommen können. Aber es war trotz allem eine tolle Erfahrung.

Sie sind dann 2005 zum KSC gewechselt. Als VfB'ler keine einfache Geschichte...

Carnell: Ich weiß natürlich um die Rivalität und Feindschaft, aber ehrlich gesagt hat das für mich keine Rolle gespielt. Es war nie ein Thema in all den Jahren. Für mich war nach der schlechten Zeit in Gladbach das Thema, dass ich meiner Karriere wieder neuen Zündstoff geben musste. Ich sage es auch heute als Trainer oft zu meinen Jungs, dass du manchmal an einem Punkt bist, an dem du alles in die Tonne kloppen und wieder von vorne anfangen musst. Das war damals so eine Situation für mich. Dick Advocaat hatte in Gladbach 13 neue Spieler geholt, darunter Christian Ziege für die linke Seite, für mich war da kein Platz mehr. Als ich dann sehr gute Gespräche mit KSC-Coach Ede Becker hatte und eine große Wertschätzung verspürte, war mir klar, dass ich nach Karlsruhe will. Zumal es familiär super für mich war. Ich hatte meine Frau in Stuttgart kennengelernt, nach Karlsruhe waren es nur 40 Minuten auf der A8 - es hat einfach gepasst. Besonders gerne erinnere ich mich natürlich an die Aufstiegssaison, als wir als Erster frühzeitig den Aufstieg perfekt machten. Christian Eichner und ich bildeten damals auf der linken Seite ein super Duo, das hat total Spaß gemacht.

Nach viereinhalb Jahren in Karlsruhe folgte noch eine unglückliche und kurze Zeit in Rostock. Sie sind mit 33 zurück in die Heimat. Ab wann war Ihnen klar, dass es in Richtung Trainer geht?

Carnell: Ich hätte nach dem Jahr in Rostock noch Optionen gehabt, in der 2. Liga oder 3. Liga zu bleiben, aber alle Angebote waren nur noch für ein Jahr. Ein Jahr hier, ein Jahr dort, wieder umziehen - das wollte ich meiner Familie nicht mehr antun. Das war der Hauptgrund, warum wir nach Südafrika gegangen sind. In Südafrika hatte ich neben dem Fußball die Chance, als TV-Experte zu arbeite. SuperSport hieß der TV-Sender, das war wie in Deutschland damals DSF. SuperSport besaß die Bundesliga-Rechte, so hatte ich die Chance, an der Taktiktafel zu stehen und ein bisschen Fußball zu erklären.

Wie ging es weiter?

Carnell: Der Plan nach dem Karriereende war, dass ich an der Universität in Johannesburg eine Art Sportlicher Leiter werden und ein Fußball-Projekt aufbauen sollte. Aber irgendwann kam der Moment, an dem ich dachte: Warum machst du eigentlich nicht selbst den Trainer? Ich habe irgendwie gespürt, dass mir das Freude machen würde. Und es war der perfekte Einstieg. Mit einer Uni-Mannschaft hast du erstmal keinen großen Druck, da kannst du deine Idee vom Fußball zu 100 Prozent umsetzen und Erfahrung sammeln. In der Zeit habe ich gemerkt, was meine Leidenschaft ist. Natürlich bin ich sehr ehrgeizig und strebe nach Erfolg, aber die größte Erfüllung ist es, junge Menschen zu entwickeln. Nicht nur Spieler, Menschen.

Wie sah Ihre Idee vom Fußball damals aus?

Carnell: Ich habe zu der Zeit den ganzen Tag den BVB angeschaut. Wie Dortmund unter Klopp gespielt hat, mit dieser Energie, das hat mich in den Bann gezogen und fasziniert. Dazu kamen natürlich die Einflüsse von Ralf Rangnick. Ich hatte das Glück, dass wir sehr schnell Erfolge feiern konnten an der Uni und dass ich so die ersten Chancen als Co-Trainer im Profifußball in Südafrika erhielt. Zuerst bei den Free-State Stars, dort hatte ich einen italienischen Trainer, Giovanni Solinas. Danach ging es weiter zu den Orlando Pirates, zu einem der größten Klubs bei uns in Afrika mit einer sehr emotionalen Fanbase, dort durfte ich unter Muhsin Ertugal arbeiten, einem unglaublich gewieften Taktiker. Und der entscheidende Schritt kam dann 2017, als ich auch dank meiner guten Beziehungen zu Rangnick und zu Jochen Schneider das Angebot bekam, Co-Trainer bei den Red Bulls in New York zu werden.

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Carnell: "Es gibt einen Brainwash-Prozess für jeden"

Sie sprechen die Einflüsse von Ralf Rangnick immer wieder an. Rangnicks Mentor war ja Helmut Groß. Haben Sie ihn auch kennengelernt?

Carnell: Wir hatten ein paar Mal einen Austausch am Trainingsgelände. Helmut Groß hat eine unglaubliche Aura. Eine unglaubliche Ausstrahlung. Ich sage immer: Er ist wie so ein weiser Professor, wie Mr. Miyagi in Karate Kid. (lacht) Wenn du mit ihm sprichst, versuchst du, jede Sekunde alles aufzusaugen. Wenn er ein Spiel beobachtet, dauert es zehn Sekunden und er erzählt dir sofort, was gut oder falsch läuft. Er sieht die kleinsten Details, die andere nicht sehen. Und er ist so leidenschaftlich dabei. Es gibt ja inzwischen die verschiedensten Ausprägungen der Red-Bull-Philosophie, aber im Ursprung geht alles auf Ralf Rangnick und Helmut Groß zurück. Und auf Valeriy Lobanovsky. Als Ralf 1984 in Backnang Dynamo Kiew sah, hat sich die Welt für ihn verändert. Er war davon überzeugt, dass Kiew einen Mann mehr auf dem Platz hatte. So ist die Grundidee der Philosophie entstanden: überall auf dem Feld Überzahl zu schaffen, darum geht es heruntergebrochen. Und in Hoffenheim war die Idee zuerst, daran erinnert mich Lutz Pfannenstiel (jetziger Sportdirektor in St. Louis, Anm. d. Red.) immer wieder. (lacht)

Sie bauen jetzt in St. Louis eine komplett neue Mannschaft auf. Wie wird diese Philosophie den Spielern eingeimpft?

Carnell: Es gibt einen Brainwash-Prozess für jeden, das ist definitiv so. Damit er das System versteht, daran glaubt und die Vorteile kennt. Das hört sich jetzt krass an, aber das ist ein Prozess, der Spaß macht. Es geht darum, sehr proaktiv, intensiv und effizient Fußball zu spielen. Natürlich um das hohe Pressen, worüber immer gesprochen wird. Wie schnell können wir den Gegner unter Druck setzen? Wie können wir den Gegner manipulieren, um ihn unorganisiert zu erwischen? Das sind entscheidende Fragen. Und es funktioniert nur, wenn jeder mitmacht. Unser System erlaubt keinen Star, der sich nicht als Teil des Ganzen sieht. Alle elf Mann müssen dabei sein, alle elf Mann müssen den Tank leer machen. Als Einheit. Das System ist unser Spielmacher, wenn wir als Kollektiv pressen. Das System forciert den Ballverlust. Macht einer nicht mit, ist das System kaputt. Auch deshalb spricht Klopp immer von den Mentalitätsmonstern. Wir brauchen diese Jungs, die von unserem Weg total überzeugt sind. Die immer auf dem Vorderfuß stehen. Immer bereit, nach vorne zu verteidigen. Die immer sofort wieder den Ball haben und den schnellstmöglichen vertikalen Weg zum Tor suchen. In fünf bis acht Sekunden vertikal zum Tor - das ist das Ziel. Nur lang und weit nach vorne ist nicht der Weg. Man kann auch lange Bälle schlagen, dann aber gezielt.

Aber Sie mögen keine weiten Diagonalbälle der Außenverteidiger.

Carnell: Das stimmt, ich habe ungerne große Switches. Dass der linke Außenverteidiger den Ball diagonal 40, 50 Meter nach rechts vorne schlägt. Das will ich nicht sehen. Ich will das direkte vertikale Spiel sehen. Klar, im letzten Drittel kann ein Chip-Ball hinter die Kette wertvoll sein, aber ich will keine so großen Spielverlagerungen im Aufbau. Für mich ist es aber ein Ziel, dass die Außenverteidiger auch Spielmacher sein können. Dass sie mutig nach vorne gehen auf der Außenschiene. So wie es Liverpool macht mit Trent Alexander-Arnold und Andrew Robertson - das ist auch genau mein Muster. Die Außenverteidiger sollen für die Breite im Spiel sorgen, ich will aber keine Flügelspieler im Mittelfeld. Ich will Zehner, die sich zwischen den Linien bewegen. Wenn wir im 4-2-3-1 spielen, will ich, dass die Zehner hinter dem Stürmer eng beieinander stehen. Um unser Kurzpassspiel aufzuziehen und um direkt Überzahl in Ballnähe zu haben fürs Gegenpressing, wenn wir den Ball verlieren. Deshalb ist das Scouting so wichtig. Es gibt viele offensive Mittelfeldspieler, die sich wohler fühlen, wenn sie in der Breite mehr Raum haben. Aber ich will Spieler, die komfortabel damit sind, keinen Raum und keine Zeit zu haben. Die gerne in engen Räumen zuhause sind, die Zweikämpfe dort annehmen und Lösungen finden.

Sie haben in Ihrer Zeit als Interims-Cheftrainer in NY einen Ihrer Lieblings-Trainingsclips geteilt. Was hat Ihnen daran so gefallen?

Carnell: Es geht bei uns ja sehr viel um unser hohes Pressing und selten um Ballbesitz. Aber ich habe keine Angst vor Ballbesitz. Und dieser Clip zeigt sehr gut, wir wir uns in diesem Jahr gesteigert haben. Wie die Jungs gewachsen sind in einem schwierigen Jahr. Wenn du den Cheftrainer verlierst, ist es keine einfache Situation. Aber die Mannschaft hat es geschafft, wieder Vertrauen in sich zu finden. Irgendwann kommt in einem Training der Moment, bei dem du merkst, dass sie sich berappelt haben. Das sieht man in dem Clip. Das war immer noch direkt und schnell. Das war mit Überzeugung. Es hat extrem viel Spaß gemacht, diese Entwicklung zu sehen für mich als Trainer.

Welche Klubs schauen Sie sich an, wenn Sie nach Inspiration suchen?

Carnell: Natürlich schaut man vor allem die Klubs, die eine ähnliche Philosophie haben. Ich schaue mir jedes Spiel von Leipzig an, jedes Spiel von Southampton, jedes Spiel von Salzburg, jedes Spiel von Leeds. Ich will sehen, welche Tendenzen es dort gibt. Ich werde mit Sicherheit auch eine Europa-Reise machen in diesem Jahr und den direkten Austausch suchen. Es ist kein Geheimnis, dass mich Jesse Marsch sehr geprägt und inspiriert hat. Wir sind sehr gute Freunde geworden. Er hat eine unglaubliche Fähigkeit, Spieler zu begeistern und an Bord zu holen. Er verkörpert diese amerikanische Art des Managements, davon habe ich viel lernen können.

Was war der Reiz für Sie, die Aufgabe als Cheftrainer bei St. Louis City anzunehmen?

Carnell: Es gab mehrere Faktoren. Ich habe im vergangenen Jahr meinen Vater verloren. An so einem Punkt denkst du viel über das Leben nach. Ich habe mir gesagt: Du bist jetzt Mitte 40, wenn du den Schritt zum Cheftrainer machen möchtest und dich dort austesten möchtest, wann willst du es denn machen, wenn nicht jetzt? Es war einfach der logische nächste Schritt in meiner persönlichen Entwicklung. Zudem kam, dass mich die Erfahrung als Interimstrainer heiß auf mehr gemacht hat. Dann kamen die Gespräche mit Lutz Pfannenstiel, wo schnell klar war, dass wir auf einer Wellenlänge sind. Menschlich, aber auch fußballerisch. Er hat mir einen Weg aufgezeigt, bei dem ich unbedingt dabei sein wollte.

Was man nicht unterschätzen darf: St. Louis ist eine überragende Sportstadt.

Carnell: Nicht nur Sportstadt, auch eine Fußballstadt. Die Stadt ist total fußballbegeistert, viele Spieler kommen aus St. Louis, obwohl es nie einen Profiklub gab. Es ist auch eine Arbeiterstadt, so ein bisschen wie im Ruhrpott von der Mentalität her. Hier entsteht wirklich was und jeder zieht am gleichen Strang. Wir bekommen ein ganz neues Trainingsgelände, wir habe schon eine zweite Mannschaft installiert, wir haben hier eine einmalige Chance, etwas Großartiges aufzubauen und fliegen zu lassen. Eine Fußballkultur und Identität zu kreieren. Davon ein Teil sein zu dürfen, ist etwas Besonderes, das ist kein normaler Job. Bei all meinen wichtigen Stationen als Spieler oder Trainer war ich vier oder fünf Jahre, ich mag es, Projekte nicht nur zu starten, sondern sie auch zu Ende zu bringen. Deshalb mache ich mir auch keinerlei Gedanken, was in zwei oder drei Jahren vielleicht für mich noch kommen könnte. Für mich zählt nur St. Louis. Ich bin total fokussiert darauf, dass wir auf Anhieb performen. Was nicht leicht wird als Expansion-Team, historisch gesehen tut man sich da schwer. Aber wir wollen von Anfang an da sein. Vor allem für unsere Fans. Man kann die Fankultur bei uns mit St. Pauli vergleichen. Wir haben die Saint Louligans, das sind unsere Ultras. Das sind wirklich fußballverrückte Jungs und Mädels, die geben unglaublich Gas.

Der Kader nimmt ja schon Gestalt an, unter anderem steht mit Roman Bürki ein prominenter Neuzugang für das Tor fest.

Carnell: (zeigt seine geheime Taktiktafel in die Kamera) Hier stehen die Namen drauf. (lacht) Gefühlt werden uns pro Tag 50 Spieler präsentiert, ich habe bestimmt 20 Zoom-Calls pro Tag. Wir nehmen uns extrem viel Zeit für die Auswahl der Spieler. Der ganze Prozess ist unglaublich spannend. Normalerweise kommst du als Trainer zu einem Klub und hast ja dort einen Kader, an dem du zwar arbeiten kannst, aber der größtenteils steht. Hier sind wir von Null gestartet, mit einem ganz weißen Blatt. Es ist eine coole Erfahrung für mich, da von Anfang an dabei sein zu können und "meine" Mannschaft zusammenzustellen.

Ganz interessant: St. Louis City ist das erste MLS-Team, das mehrheitlich von Frauen geführt wird. Die Besitzergruppe besteht aus sieben Damen. Wie ist die Zusammenarbeit?

Carnell: Es ist großartig, muss ich ganz ehrlich sagen. Man kennt das ja aus dem Fußball oder dem Sport generell, dass die Eigentümer etwas unnahbar sind. Hier muss ich nur zwei Türen weitergehen und kann mich jederzeit austauschen. Es sind überhaupt keine zwei Welten. Sie sind total bodenständig, identifizieren sich total mit unserem Weg und sie sind immer offen für neue Ideen. Und ich kann von Ihnen viel lernen, was die Business-Seite angeht. Dazu kommt, dass ich zwei Töchter habe, 17 und 13 Jahre alt. Es ist einfach großartig und inspirierend, auch für sie zu sehen, was Frauen erreichen können. Auch im Fußball. Wir bräuchten viel mehr Frauen in der Spitze des Fußballs.