Christian Gross geht nach einer überragenden Rückserie in seine erste volle Saison beim VfB Stuttgart. Der 55-jährige Trainer aus der Schweiz spricht im SPOX-Interview über seine Sorgen beim VfB, die Erkenntnisse der WM und sein Lebensmotto, frei nach Bruce Willis.
SPOX: Herr Gross, Sie werden gerne mit Hollywood-Star Bruce Willis verglichen. Ein Vergleich, der Ihnen gefallen müsste. Schließlich stammt Ihr Lebensmotto von ihm.
Christian Gross: Das stimmt. Er hat einmal gesagt: 'Surf the moment.' Man soll das Leben genießen, weil es einfach lebenswert ist. Aber so etwas Besonderes ist das ja nicht. Das gilt für Sie doch hoffentlich auch, oder? (lacht)
SPOX: Selbstverständlich. Sie sind jetzt ein halbes Jahr in Stuttgart. Wie haben Sie diese Zeit bislang empfunden?
Gross: Ganz ehrlich: Für mich war das erste halbe Jahr beim VfB ein sehr hartes Stück Arbeit mit einem enormen Druck. In der Vorbereitung sieht es im Moment etwas anders aus. Wir haben eine Mischung aus Belastung, Fußball und Regeneration. Schauen Sie nur mal das Wetter an zurzeit. Wir haben bislang riesiges Glück, super Bedingungen und können optimal trainieren.
SPOX: Haben Sie keine Bedenken, dass es nach den namhaften Abgängen (u.a. Hleb, Lehmann, Hilbert) schwierig sein wird, den Erfolg aus der Rückserie beizubehalten?
Gross: Ich mache mir schon so meine Gedanken. Es ist wichtig, dass sich die Mannschaft möglichst schnell findet, aber ich habe auch den Wunsch geäußert, dass wir zusätzlich neben den Nachwuchshoffnungen uns noch mit zwei Spielern verstärken sollten. Es ist mir aber auch absolut klar, dass es aufgrund der WM keine normale Saisonvorbereitung ist, was Transfers betrifft. Hinzu kommt, dass die Personalplanungen durch den Abgang von Horst Heldt momentan etwas in den Hintergrund gerückt sind. Deshalb mache ich mir ein wenig Sorgen.
SPOX: Was ist Ihre größte Sorge?
Gross: Ich bin es gewohnt, mit jungen Spielern zu arbeiten, aber nur alleine mit jungen Spielern funktioniert es nicht. Wir brauchen einen Kader, der den Erwartungen in Stuttgart gerecht werden kann. Es muss eine gute Mischung sein - wir haben uns schließlich für die neue Saison wieder einiges vorgenommen. Was die Spieler angeht, die schon da sind, mache ich mir aber überhaupt keine Sorgen. Die arbeiten alle gut.
SPOX: Sie suchen zwei Spieler für die Außenbahnen. Wie ist der aktuelle Stand?
Gross: Die Situation ist so, dass es vom Verein die Auflage gibt, dass wir noch weitere Spieler verkaufen müssen, um die Möglichkeit zu haben, die gewünschten Zugänge zu holen. Ich weiß, dass Jochen Schneider intensiv mit der Planung und Realisierung von potenziellen Transfers beschäftigt ist.
SPOX: Brauchen Sie nicht auch noch einen echten Knipser für den Sturm?
Gross: Nein. Wir haben vier gute Stürmer im Kader, auf dieser Position sehe ich keinen Bedarf.
SPOX: Sie haben Jochen Schneider angesprochen. War es für Sie nie ein Thema nach dem Weggang von Horst Heldt, eine Teammanager-Funktion zu übernehmen?
Gross: Nein, das war nie ein Thema. Ich bin mir sicher, dass der Verein sich die richtigen Gedanken macht, was einen neuen Manager anbelangt. Ich denke, dass Jochen Schneider und der Präsident mit mir sprechen werden, aber grundsätzlich bestimmt das der Verein.
SPOX: Wie sieht es denn mit Ihnen persönlich aus? Sehen Sie Ihre Zukunft langfristig beim VfB?
Gross: Wir haben jetzt ein halbes Jahr erfolgreich zusammengearbeitet und werden versuchen, genauso erfolgreich weiterzumachen. Dann sehen wir weiter.
SPOX: Also gibt es eine Tendenz dazu, dass Sie Ihren Vertrag, der bis zum 30. Juni 2011 läuft, zu verlängern?
Gross: Das ist im Moment überhaupt kein Thema für mich. Ich konzentriere mich ganz auf die Vorbereitung auf die neue Saison.
SPOX: Wie sehr stören Sie in der Vorbereitung Spekulationen, die Serdar Tasci oder Sami Khedira mit anderen Vereinen in Verbindung bringen?
Gross: Es stört mich nicht. Es gehört zu unseren Aufgaben, dass wir uns mit Eventualitäten beschäftigen und sie möglichst sogar antizipieren. Ich hoffe, das gelingt uns.
SPOX: Sie haben angesprochen, dass der Verein Spieler verkaufen muss, um sich zu verstärken. Wären Sie in gewisser Weise froh, wenn ein Klub wie Real Madrid sehr viel Geld für Khedira auf den Tisch legen würde?
Gross: In erster Linie würde ich es wahnsinnig schade finden, wenn Sami uns verlassen sollte. Auf der anderen Seite muss man es realistisch sehen. Sami ist aufgrund seines Renommees sicher einer der gefragtesten Spieler im Ausland. Es wäre töricht, wenn wir uns da keine Gedanken machen würden. Aber es ist auch klar, dass der Verein Sami gerne behalten und im Idealfall mit ihm sogar verlängern will.
SPOX: Was muss passieren, dass Khedira bleibt? Ihm ist sicher die Perspektive des VfB wichtig.
Gross: Ich denke, dass Sami selbst die zentrale Person ist. Er ist in der Strategie des Vereins der zentrale Mann, um ihn herum könnte die Mannschaft der Zukunft aufgebaut werden. Er hat bewiesen, wie wichtig er ist. Er ist ein echter Führungsspieler und unheimlich weit für sein Alter. Auch bei der WM hat er auf höchstem Niveau alles bestätigt, was man über ihn gesagt hat. Mit seiner Persönlichkeit kann er das Symbol und die Integrationsfigur des VfB sein.
SPOX: Wie sieht es mit Serdar Tasci aus? Er hat bei der WM bis auf eine Minute im Spiel um Platz drei nicht gespielt.
Gross: Ich hätte gehofft, dass er mehr zum Einsatz kommt. Ich kenne die Überlegungen von Joachim Löw nicht, vielleicht hatte es mit der Verletzung von Michael Ballack zu tun. Ich bin mir sicher, dass Serdar ehrgeizig zu uns zurückkommt und weiter an sich arbeiten wird, damit er die internationale Karriere macht, die er machen kann.
SPOX: Hat er seinen Platz in der Innenverteidigung des VfB sicher?
Gross: Matthieu Delpierre ist als Kapitän gesetzt, wenn er fit ist. Um den anderen Platz kämpft Serdar mit Georg Niedermeier und Khalid Boulahrouz. Georg hat mir in der letzten Halbserie bewiesen, dass ich auf ihn zählen kann. Er war sehr zuverlässig und wird deshalb auch weiter Vertrauen von mir bekommen.
Teil 2: Christian Gross über die Erkenntnisse der WM und seine Fußball-Philosophie
SPOX: Der VfB war in der jüngeren Vergangenheit dafür bekannt, dass er nach guten Phasen regelmäßig abstürzt. Nach der grandiosen Rückserie wäre es demnach wieder soweit. Warum passiert das dieses Mal nicht?
Gross: Ich habe mich mit Kennern der Stuttgarter Szene unterhalten und weiß um diese Problematik. Für uns wird ganz entscheidend sein, dass wir einen guten Start erwischen. Alle Teams wollen immer gut starten, aber ich denke, dass es in dieser Saison für uns wirklich extrem wichtig sein wird. Wir müssen mit Überzeugung in die Saison reingehen.
SPOX: Was ist das Ziel für diese Saison?
Gross: Wir wollen einen guten Start schaffen und einheitlich auftreten. Eine konkrete Zielsetzung mit einer genauen Platzierung werden Sie von mir nicht hören.
SPOX: Egal, ob die gewünschten Neuzugänge noch kommen oder nicht, kann der VfB wieder auf seine hervorragende Nachwuchsarbeit bauen. Daniel Didavi, Clemens Walch und Patrick Funk sind wohl am nächsten dran, den Sprung zu schaffen. Wem trauen Sie es am schnellsten zu? Und wie macht sich Sven Ulreich als neue Nummer eins?
Gross: Grundsätzlich traue ich vielen vieles zu. Sie streben alle danach, so einen Beginn ihrer Karriere zu haben, wie es Thomas Müller bei den Bayern gelungen ist - aber in der Bundesliga weht ein anderer Wind als sie es gewöhnt sind. Nicht jeder kann sich gleich so in Szene setzen. Wir müssen mit diesen Jungs Geduld haben. Was Sven Ulreich angeht, ist mein Eindruck durchweg positiv. Er macht stetig körperliche Fortschritte und ist absolut im Plan.
SPOX: Plan ist ein gutes Stichwort. Viele Leute, die Sie gut kennen, beschreiben Sie als Trainer, der einen sehr genauen Plan von der Spielweise seiner Mannschaft hat. Wie soll eine von Christian Gross trainierte Mannschaft Fußball spielen?
Gross: (überlegt) Wissen Sie, ich könnte mir es jetzt einfach machen und Ihnen sagen: 'Meine Mannschaft soll erfolgreich kämpfend spielen.' Der Fußball beinhaltet so viele Facetten. Ich will in erster Linie eine erfolgreiche Mannschaft, die sehr zielgerichtet arbeitet. Das geht nur über ein geschlossenes Auftreten. Ohne fighten hat es noch keine Mannschaft geschafft. Es muss eine gute Mischung aus viel Geschlossenheit und viel Herz sein. An unserem System werden wir nichts ändern, es bleibt bei der Doppelsechs mit der Betonung der Außen.
SPOX: Sie haben den Ruf, sehr, sehr, sehr viele Fußball-DVDs pro Tag anzuschauen. Hand aufs Herz: Wie viele sind es denn?
Gross: (lacht) So viele sind es gar nicht, es hält sich im Rahmen. Ich schaue sie mir einfach sehr genau an. Beim Halbfinale zwischen Deutschland und Spanien habe ich mich gefragt, wie es gewesen wäre, wenn das deutsche Team auf mehr Ballbesitz gegangen wäre. Die deutsche Strategie war auf schnelle Konter ausgerichtet und das Team wollte das auch umsetzen, aber es ging auf Kosten der Präzision. Wobei man auch sagen muss, dass Spanien nicht nur beim Ballbesitz herausragend war, sondern auch in der Balleroberung.
SPOX: Was ist Ihnen bei der deutschen Niederlage noch aufgefallen?
Gross: Es hat sich für mich eine Sache bestätigt. Wenn es den Fall gibt, dass ein Rechtsfuß auf der linken und ein Linksfuß auf der rechten Seite spielen, die beide immer wieder nach innen ziehen, dann muss man sich als Trainer fragen, wie weit meine beiden Außenverteidiger mitgehen sollen, ohne dass sie die eigene Viererabwehr entblößen. Pedro und Iniesta hatten viel zu viel Raum. Bei Bayern mit Robben und Ribery und auch bei Leverkusen mit Barnetta und Kroos ist es das gleiche Spiel: Wer übernimmt diese Spieler, wenn sie einrücken?
SPOX: Das entscheidende Gegentor fiel dann aber nicht deswegen, sondern es fiel nach einer Ecke.
Gross: Das war auch hoch interessant. Die Spanier hatten bis zu diesem Zeitpunkt alle Ecken kurz getreten, dann spielen sie den Eckball einmal lang und schon ist der Ball drin. Die entscheidende Frage bei Standards ist: Spiele ich Raum- oder Manndeckung? Wir haben im letzten halben Jahr mit der Manndeckung an und für sich gute Erfahrungen gemacht. Wobei man auch sagen muss, dass die Standards insgesamt bei der WM nicht die große Bedeutung hatten.
SPOX: Welche Erkenntnisse hat die WM dann für Sie gebracht?
Goss: Die WM hat ja immer als großer Ideengeber gegolten, aber dieses Mal muss ich sagen, dass ich keine neuen Tendenzen gesehen habe. Dafür aber Bestätigungen. Dass ein einheitliches, geschlossenes Auftreten wichtig ist. Dass man sich nicht zu sehr auf den Gegner einstellen, sondern seine eigene Grundidee durchziehen sollte.
SPOX: Spanien hat das am besten gemacht und ist jetzt Weltmeister. Macht Sie es eigentlich stolz, dass die Schweiz Spanien geschlagen hat, Deutschland aber nicht?
Gross: Wenn Toni Kroos die Chance nutzt, hättet ihr Deutschen es nach einem ähnlichen Muster wie wir machen können. Der Sieg gegen Spanien hat mich natürlich sehr gefreut, das war ja ein historischer Triumph für die Schweiz. Aber im Nachhinein muss man auch sagen, dass der Sieg so einen Druck aufgebaut hat, dass der Achtelfinal-Einzug plötzlich ein Muss war. So schlecht wie wir uns im letzten Spiel gegen Honduras präsentiert haben, sind wir nicht. Irgendwie war der Druck zu hoch in diesem Spiel.
SPOX: Letzte Frage: Mit Raul kommt ein Superstar in die Bundesliga. Was halten Sie davon?
Gross: Raul ist sicher einer der populärsten spanischen Fußballer überhaupt. Vom Namen her immer noch ein Superstar, den man sich gerne anschaut. Er wird die Attraktivität der Bundesliga noch einmal steigern. Wenn er so einschlägt wie Robben, der ja auch von Real in die Bundesliga kam, wird es sehr interessant. Ich denke, dass der Wechsel auch zeigt, dass die Spieler spüren, dass die Bundesliga boomt. Ein paar Klubs in der englischen Liga und einige große spanische Vereine sind verlockend, aber ansonsten bleiben die Spieler in der Bundesliga - oder sie kommen wie Raul. Das ist toll.
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